Sinowjew 1979 – ein Kommentar zu Putins Russland 2022

Im Jahr 1976 veröffentlichte Alexander Sinowjew seinen Roman “Gähnende Höhen” und lieferte damit eine literarisch-wissenschaftliche Beschreibung und Analyse der sowjetischen Gesellschaft. Ein Jahr später erschien die französische Übersetzung und ein weiteres Jahr später reiste Sinowjew aus der Sowjetunion aus und war gezwungen, die Staatsbürgerschaft aufzugeben. Er ließ sich in München nieder und veröffentlichte fortan mehrere Romane, Essays und Interviews, in denen er den Kommunismus als Realität beschrieb.

Am 18. Mai 1980 erschien der Artikel “Das Spiel mit der Geschichte” in der Le Monde. Warum das heute, im Jahr 2022, nach dem von Putin initiierten Angriff auf die Ukraine von Interesse ist? Lesen Sie selbst: Continue Reading →

Die neumethodischen Schulen in Turkestan

Also lautet ein Beschluß: Daß der Mensch was lernen muß. Nicht allein das Abc bringt den Menschen in die Höh, Nicht allein im Schreiben, Lesen… diese berühmten Verse Wilhelm Buschs sind aktuell wie eh und je und doch verkennen sie eines: wie sehr sich Lehrer, Eltern, kurz die Gesellschaft darüber streiten kann, wie man nun mit den Kleinsten der Gesellschaft und ihrer Alphabetisierung umgehen solle: Schreiben durch Lesen? Lesen durch Schreiben? Soll man Buchstaben tanzen? Soll man sie wiederholen mit Gesang? Soll man sie einzeln kennenlernen oder in Buchstabenkombinationen? Ist sch ein Laut oder sind des drei Buchstaben? Die Bibel bzw. das Neue Testament hält es mit dem Wort als Anfang, der Koran sieht die Schrift als Heilig und unveränderbar an. Schon allein diese Aufzählung von pädagogischen, weltanschaulichen und religiösen Problemen zeigt, wie schwer aller Anfang sein kann. Continue Reading →

Waldemar Gretsinger: “The fields were like gold those days”

By Irna Hofman

Waldemar Gretsinger and his wife Valentina at the research station in southern Tajikistan. Photographer unknown, photo copied with permission from the archive in the local research station, 2021.

When I first arrived and wandered through a locality in one of the southernmost districts of Tajikistan back in 2012, some people had little doubt: I was Katia’s daughter. Katia was a German woman who lived in their locality in the Soviet years. She was not the only one. After all, “many of us had a German girlfriend in those years,” a friend told me once, with a smile on his face. There was a big German community in the locality in the late Soviet period. Continue Reading →

Auf den Spuren Baburs

Es lohnt sich eigentlich immer William Dalrymple zu folgen. Egal wohin er schreibend geht. In die City of Djinns (1996), ins Herz Indiens (2002 auf Deutsch), 1857 nach Dehli am Ende der Mughalherrschaft (2006), sogar in den ersten Anglo Afghanischen Krieg (2012) und gerade erst in die Anarchie der East Indian Company (2019) folgt man dem Erzähler gerne. Jetzt hat er sich auf gemacht in das heutige (vor-corona) Usbekistan. Genauer gesagt ins Ferghanatal und zum Mausoleum von Sheikh Mohammad Sadik in Katta Langar nahe Sharisabz. Sein kurzer Reisebericht auf den Spuren des Begründers des Moghulreiches Babur – Anlass der Reise war die englisch-sprachige Neuauflage des Baburnama – ist über einen kleinen Umweg hier zu lesen und – wie immer bei Dalrymple – sehr zu empfehlen.

Ach, und wer ihm dorthin folgt, der sollte unbedingt noch ein Buch dabei haben: Scott C. Levi: The rise and fall of Khoqand 1709-1876 (2017). Dort kann man nachlesen, was in (und mit) der Region passierte, lange nachdem Babur (1483-1530) sich davon machte, in den Süden, über die Berge und Delhi eroberte, aber seine Heimat nicht hinter sich lassen konnte…

Eingebunden in Sowjetische Geschichte: jüdische Gebetsbücher aus Zentralasien

Dieser Beitrag basiert weitgehend auf einem am 8. März 2021 von Chen Malul auf https://blog.nli.org.il/sodot-hidden-siddur/ auf Hebräisch geposteten Beitrag. Wir danken der National Library of Israel und Chen Malul für die Erlaubnis diesen Beitrag für unseren Blog zu nutzen. Übertragen, gekürzt und bearbeitet von Thomas Loy. 

Kürzlich wurden der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem vier Gebetsbücher (Hebräisch Siddur) gespendet. Zeev Levin erwarb sie in den frühen 2000er Jahren während seiner Tätigkeit als Emissär der Jewish Agency (Sochnut) in Uzbekistan. Sie stammen aus dem Privatbesitz von Juden, die sie kurz vor ihrer Emigration aus Zentralasien in den Synagogen deponierten. Und das besondere an ihnen ist nicht unbedingt ihr Inhalt, sondern ihr Einband.
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Interview mit Kamoluddin Abdullaev: Die Geschichte der Tadschiken ist ebenso tragisch wie die Geschichten des “Stillen Don”

Autor: Haidar Schodiev, Asia-Plus. 5. März 2020.
Übersetzung und Kommentierung [in eckigen Klammern]: Andreas Mandler und Thomas Loy
Mit freundlicher Genehmigung von Umed Babakhanov

Foto: persönliches Archiv K. Abdullaev

Kamoluddin N. Abdullaev wurde am 21. Februar 1950 geboren. Er ist Historiker und eine bekannte Persönlichkeit Tadschikistans. Aus Anlass seines 70. Geburtstages sprach der Jubilar mit Haidar Shodiev von der Zeitung “Asia-Plus” über wenig erforschte Seiten der Geschichte des tadschikischen Volkes, die Bedeutung von Ausbildung und Professionalität, sowie seine eigenen wissenschaftlichen Aktivitäten.

Kamoluddin Abdullaev erforscht und lehrt seit über 30 Jahren die moderne Geschichte Zentralasiens, vor allem die Geschichte Tadschikistans. Seit 1992 ist er auch als unabhängiger Experte und Berater für internationale NGOs und Forschungsinstitutionen tätig, die sich mit dem Aufbau der Zivilgesellschaft, mit Bildung und mit Konfliktlösung in Zentralasien befassen. Er nahm mehrfach an US-Austauschprogrammen für Geschichte und Sozialwissenschaften teil. Kamoluddin Abdullaev ist Verfasser und Herausgeber von 9 Büchern auf Russisch und Englisch und Autor von über 40 Artikeln.

zum Interview… Continue Reading →

Mit Familie Rerich in den Himalaya

Familie Rerich in Indien

Spricht ein Reisender heute irgendwo in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion über den Maler, Schriftsteller, Wissenschaftler und Theosophen Nikolaj Rerich (1874 St. Petersburg – 1947 Kullu, Indien), nicken die meisten verständnisvoll. Viele haben dann Bilder mit den schrillen Farben und Bergmotiven aus dem Himalaja oder dem Altai vor Augen. Einigen kommt die berühmte Dreipunktflagge für den Frieden und den Schutz aller Kulturgüter in den Sinn. Im deutschsprachigen Raum dürfte das heute alles eher unbekannt sein. Für die Flagge des Friedens gibt es nicht einmal einen deutschsprachigen Wikipedia Eintrag, wohl aber einen Französischen und natürlich einen Englischen. Im deutschsprachigen Artikel zu Nikolai Rerich im selben Internetlexikon ist gerade einmal ein Bild verlinkt. Da ist die italienische, französische oder russische Variante um einiges aussagekräftiger. Erstaunlich, denn Nikolai Konstantinovichs Vorfahren, die Roerichs, waren Baltendeutsche, seit Peter dem I. in russischen Diensten und in vielen Bereichen einfluss- und folgenreich. Anfang 1918 floh Nikolaj Rerich mit seiner Familie aus dem revolutionären Russland über Finnland nach London. Es war der Beginn einer langen und faszinierenden Reise. Continue Reading →

Fremdbestimmt? Die für “tot” erklärten Verhandlungen zwischen USA und Taliban aus sprachlicher Perspektive

Ein Beitrag von Lutz Rzehak

Zeig mir, wie Du sprichst, und ich sage Dir, wes Geistes Kind Du bist.

Wie Präsident Donald Trump am 9. September 2019 erklärte, wurden die von den USA geführten Verhandlungen mit den Taliban endgültig eingestellt, nachdem bei einem weiteren Selbstmordattentat der Taliban ein US-Soldat ums Leben kam. Gemeint sind Verhandlungen, die Delegationen der US-Regierung und der Taliban seit Juli 2018 in Katar – übrigens ohne Einbeziehung der Regierung in Kabul – miteinander führten.

In der Woche vor dem Ende der Verhandlungen verbreitete der private afghanische Nachrichtensender Spoghmai.fm (Internet-Seite: http://www.spogmairadio.af/), der vorwiegend auf Paschto sendet, ein auf Paschto verfasstes Dokument, das als “Wahrscheinliches Abkommen zwischen den Taliban und Amerika” betitelt ist. Dieses Dokument ist auf der Homepage des Senders nicht (mehr?) zu finden. Es wurde in Form von drei Grafikdateien, die das Logo SPOGMAI.FM als Wasserzeichen tragen, auf anderen Kanälen verbreitet, zum Beispiel per E-Mail. Ob es sich um einen früheren Entwurf des geplanten Abkommens handelt oder um eine Fassung, die bis zum 7. September 2019 noch als aktuell galt, ist nicht bekannt.

Natürlich kann auch für den afghanisch-pakistanischen Raum nicht ausgeschlossen werden, dass irgendwelche Internet-Trolle Fake-News verbreiten und diese mit fremden Logos schmücken, um einen höheren Grad an Glaubwürdigkeit zu erzielen. Hier soll es aber gar nicht um inhaltliche Fragen gehen, die in diesem Dokument vereinbart worden sein sollen.  Continue Reading →

Kabul Remembered

Am 10.09.2017 verstarb in Kabul Nancy Hatch Dupree. In Erinnerung an die Grande Dame der Afghanistanforschung und Gründerin des Afghanistan Center at Kabul University präsentieren wir einen ihrer letzten Texte: Kabul remembered erschien im April diesen Jahres in der 80. und letzten Ausgabe des Newsletters Afghanistan Info – der von 1980 bis 2017 in der Schweiz herausgegeben wurde. Die Erlaubnis hierfür erhielten wir von Nancy Hatch Dupree im Juni diesen Jahres, als sie sich gerade von einer gebrochenen Hüfte erholte.

Nancy Hatch Dupree (1927-2017) http://acku.edu.af

by Nancy Hatch Dupree.

Kabul 1962!  Did it really exist as it does in memory?  Shahr-i-Nao was a charming place to live, with single-storied mud-brick homes set in luxurious gardens shadowed by huge old trees and lined with flower beds full of roses that seemed to bloom contentedly from spring until winter.  Three-meter-high walls protected one from the eyes of passers-by so afternoon teas and evening dinners in the garden were treasured hours of relaxation with friends and family.  No more. As the population grew from 750,000 in the 1970s to 3,698 million today, the city had no option but to grow upwards. The gracious homes gave way to towering apartment blocks with hardly an inch to spare for lawns.

Kabul was not built for such numbers. In the 60s and 70s I drove my Land Rover to work in central Kabul with no qualms, often with my handsome tazi dog loping beside side the car for exercise. The crisp mountain air was energizing. No more.  Owning a car is no longer a luxury.  Rush hour traffic jams are so forbidding I dare not venture out behind the wheel any more, and, fleets of belching buses and badly serviced cars pollute the atmosphere. Continue Reading →

Von Häusern und Menschen – Architekturführer Duschanbe erschienen

Ein Beitrag von Thomas Loy.

Seit Anfang Mai gibt es einen weiteren herausragenden Beitrag der DOM-publishers Zentralasien-Architekturführer nach Kasachstan, und Taschkent.
Edda Schlager, bekannt für ihre Berichte und Reportagen aus Kasachstan und den angrenzenden ehemaligen Sowjetrepubliken begab sich auf architektonische Spurensuche und Streifzüge und portraitiert im Architekturführer Duschanbe detailliert und einfühlsam alte und neue Bauwerke, ArchitektInnen und Bewohner der jungen, erst 1924 gegründeten Hauptstadt Tadschikistans.

Das neue Stadtzentrum mit Blick auf den “Platz der Freundschaft”, mit dem Denkmal Ismoil Somonis im Vordergrund und dem 45 Meter hohen goldenen Staatswappen am anderen Ende der Promenade. Links vorne das Gebäude der neuen Nationalbibliothek (Bauzeit 2007-2012) und das mittlerweile abgerissene Kinotheater Dschomi. Im angrenzenden Rudaki-Park der “Palast der Nation” (Bauzeit 2006-2008), die Residenz des Präsidenten. Dahinter in weiß der von Qatar finanzierte luxuriöse Wohn- und Geschäftskomplex “Diar Duschanbe” (von den 10 geplanten Gebäuden am Südufer des “Komsomol-Sees” stehen derzeit drei). Rechts davon das blauverglaste 5-Sterne-Hotel Hyatt-Regency. Davor am rechten Bildrand der “Navruz-Palast”, das mit über 33.000 Quadratmetern Gesamtfläche größte und wohl teuerste Teehaus Zentralasiens (Bauzeit 2009-2014). Im Hintergrund dezent die Hügel und Berge der nördlich der Stadt in Ost-West Richtung verlaufenden Hissar-Kette. Foto: Edda Schlager

Seit den 2000er Jahren vollzieht sich in Duschanbe der radikale Umbau des Stadtzentrums. Sowjetische Architektur wird abgerissen und ersetzt durch eine “tadschikische” Moderne, deren Vorbilder in den benachbarten Hauptstädten ebenso zu finden sind, wie in einem an den Baustil Dubais und der Emirate angelehnten “islamischen” Internationalismus. Dafür werden alte Platanenalleen abgeholzt und Geschichte entsorgt. Die alten Bazaare und Wohnviertel mit ihren durch Mauern nach außen abgeschotteten Gehöften (samt Gärten und eingeschossiger Bebauung) sowie die zwei- und mehrstöckigen Wohn- und Verwaltungsgebäude der 1920er bis 1980er Jahre (wie etwa das konstrukivistische zentrale Hauptpostamt) werden ersetzt durch luxuriöse Apartmentblocks und Hotelanlagen, verglaste Bürogebäude und den gigantomanischen Neubauten, die in der Regel von türkischen, iranischen, chinesischen und golfarabischen Investoren finanziert werden. So entstanden (oder entstehen gegenwärtig) die neue Nationalbibliothek am Platz der Freundschaft, der Präsidentenpalast (kox-i millat) sowie das größte Teehaus (kox-i navruz), die größte Moschee und der größte Flaggenmast Zentralasiens. Der Kontrast zum Rest des Landes könnte kaum größer sein. Continue Reading →