Die Füchse der Berge

Ein Beitrag von hajihanom

Am Rande der Dasht-e Barchi im Westen Kabuls

Am Rande der Dasht-e Barchi im Westen Kabuls

Ich muss zweimal nachfragen bei Sher Aghas Geschichte, wie seine Vorfahren zu den Besitzdokumenten für ihre Berghänge am Rand von Kabul gekommen sind. Sie erscheint mir zuerst völlig unlogisch und unverständlich. Jedoch ist gerade das der Clou. Spitzbübisch und ein bisschen stolz erzählt Sher Agha: „Es muss vor ungefähr einhundert Jahren gewesen sein, oder noch vor Abdur Rahmans Zeit. Wir Kuchi – unser Stamm – befanden uns mit unseren Pferden hier in den Bergen. Da ließ der Herrscher von Pakistan verlautbaren, wir sollten unsere Pferde nach Peschawar bringen, damit sie die grünen Berge nicht leerfressen. Wir sind nach Peschawar geritten und haben alle Hunde der Bewohner dort getötet. Da fragte uns der Herrscher von Pakistan: ‚Warum habt ihr alle unsere Hunde getötet?‘ Wir sagten: ‚Unser Vieh wird regelmäßig von Wölfen aus Pakistan angegriffen und die Herden werden dezimiert.‘ Der Herrscher von Pakistan war ob dieser Antwort sprachlos. Der Herrscher von Afghanistan freute sich mächtig über unsere Schläue und rief meinen Ahnen zu sich, um ihm Land anzubieten. Zwei Gebiete standen zur Auswahl, wir haben uns für diese Berge hier entschieden. Seitdem war unser Stamm im Besitz einer Landurkunde. (…) Nun [nach 2001] sind wir aus Pakistan hierher zurückgekehrt.“

Getroffen habe ich Sher Agha außerhalb von Kabuls Stadtteil (Dasht-e) Barchi, eine Gegend ganz im Westen der Stadt, die im letzten Jahrzehnt ein massives Bevölkerungswachstum und territoriale Erweiterung durch den Zuzug von Hazaras (hauptsächlich aus Bamyan, Ghazni, Daikundi) erfahren hat. Durch das Ausgreifen der Siedlungen in das ehemals ländliche Umland ist es in den letzten Jahren vermehrt zu rivalisierenden Ansprüchen auf Landnutzung und die Anfechtung von Eigentumsrechten gekommen, auch zwischen Hazara und Kuchi. Die Besitzverhältnisse sind weitgehend nur durch urufi-Dokumente geregelt. Die Stadtverwaltung begründet die Verweigerung grundlegender urbaner Dienstleistungen und jeglicher Stadtentwicklungsmaßnahmen mit dem Argument, die Siedlungen seien irregulär (benaqsha – ohne Plan).

Zerstörte Häuser  und ein Neubau am Rande Kabuls (Qal’a-ye Qazi)

Zerstörte Häuser und Neubau am Rande Kabuls (Qal’a-ye Qazi)

Bleibt zu sagen, dass weder Sher Agha als Stammesältester (Malik) noch einer seiner zwei anwesenden Brüder lesen oder schreiben können. Er hat es in den letzten sieben Jahren seit der Rückkehr der 350 Familien aus dem Jalozai Camp in Peschawar (weitere 200 Familien des Stammes sind weiterhin in Pakistan) geschafft, dass UNHCR sein Stammesterritorium nach Klärung der Besitzrechte als ‚high return area‘ eingestuft hat und mit Geldern von EU, Japan und Dänemark massiv intervenierte. So wurden für jede Familie nicht nur ein Haus (qal’a), sondern auch eine nagelneue Schule, Brunnen und eine Teerstraße mit solarbetriebenen Straßenlampen errichtet. Angesichts der vergleichsweise wenig von Infrastrukturhilfen bedachten Nachbarschaft in der Umgebung, macht der Ort jedoch den Anschein, als hätten die Geber hier ein Erfolgsexempel statuiert. Dieses sticht weit hervor und erzeugt eben dadurch entsprechenden Neid und birgt somit erhebliches Konfliktpotential. Gleichzeitig umfasst es aber auch, wie so oft in Afghanistan, nur die (teils qualitativ schlechte) Infrastruktur. Das Schulgebäude mit 8 Klassen- und 4 Lehrerzimmern ist zwar seit drei Monaten fertig und eingerichtet, der Lehrbetrieb kann aber aus Mangel an Lehrern nicht aufgenommen werden. Sher Agha hat laut eigenen Angaben bereits überall vorgesprochen, damit Lehrer für die Schule bereitgestellt werden, allerdings ohne Erfolg. Trotz seiner Enttäuschung betont der Malik diplomatisch, dass es für ihn keinen Unterschied mache, ob jemand ‚Paschtune (afghan), Kuchi, Hazara, Tadschike oder Usbeke‘ sei. Er würde allen helfen. Und schließlich würden auch die benachbarten Hazara-Kinder die Schule nutzen, wenn sie denn einmal öffnet. Ein anderer Anwesender spricht jedoch aus, was viele mittlerweile hier denken: dass sie deshalb keine Lehrer bekommen, eben weil sie Paschtunen (Kuchi) sind.

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