Karl Wutt’s Kalasha revisted

Unsere Reise zu den Kalasha im Mai 2022

von Olaf Günther mit Fotos von Jale Günther

„Eine jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt.“

So oder so ähnlich soll ein chinesisches Sprichwort lauten. In unserem Fall jedoch machten nicht wir diesen ersten Schritt, sondern Karl Wutt. Wir das sind Jale, Claudius und Olaf Günther – eine Fotografin, ein Maler und ein Ethnologe.

Seinen ersten Schritt beschreibt Karl Wutt in einem Text zu den Kalasha eindrücklich. Karl Wutt schlitterte über die Geröllfelder der Berge direkt hinein in das Leben der Kalasha – auf dem eigenen Hosenboden. Das war im Sommer 1973 quasi der erste Schritt einer Reise, die ihn immer wieder zu den Kalasha führte. Seine bisher letzte Reise war 1997, wir brachen im Mai 2022 das erste Mal dorthin auf.

Die Kalasha hatten 1973 noch wenig Fremdenverkehr. Karl kam im Dorfzentrum von Brun bei einer Familie unter, bei der er in den nächsten 25 Jahren immer wieder einkehren würde. Die Kalasha akzeptierten Karl Wutt und nannten ihn bald „Gola Zhong“, der immer durch anderer Leute Zäune lugt, um zu beobachten. Das war eine besonders treffende Umschreibung für einen Feldforscher und Ethnologen, also einem Reisenden, der nicht auf der Durchreise ist, sondern der kommt um zu bleiben. Wir hatten uns vorgenommen, einen Monat in den Tälern der Kalasha zu bleiben. Das wurde von unserer deutschen Umgebung als besonders lang wahrgenommen. Für Ethnologen ist ein Monat nur eine kurze Stippvisite. Denn wenn man als Ethnologe einen Monat bleibt, dann schafft man es gerade so, sich soviel Wortschatz zusammenzuklauben, um jedem einmal guten Tag sagen zu können, ihn nach seinem Befinden zu fragen und zu versprechen, bald wieder einmal zu Besuch zu kommen. Ein Monat reicht aber kaum aus, um wirkliche Beziehungen zu knüpfen. Das Reisen in der Zeit Karl Wutts war ein anderes. Anders als die Backpacker der 1990er Jahre waren die Backpacker der 1970er Jahre gewissermaßen Pioniere. Sie kamen in Gesellschaften, die noch keine Gästehäuser, Fremdenführer, Duschen, Wassertoiletten oder Wanderrouten besaßen. Die Kalasha der damaligen Zeit unterschieden sich auch noch stark von den Umgebungsgesellschaften. Sie waren nicht islamisiert, sie waren isoliert, die Frauen der Kalash folgten einem eigenen Bekleidungskodex und doch waren sie im Zentrum der Aufmerksamkeit aller derjenigen, die die Abgeschiedenheit und all ihre Folgen als einen Wert ansahen.

Vergleicht man die Kalasha mit den sie umgebenden Gesellschaften der Khowar, der Wakhi, der Nuristani Gruppen oder der anderer Ethnien im Hindukush, haben die Kalasha bis zum „War on Terror 2001 “ wohl die meiste Aufmerksamkeit seitens der aus dem Westen herein strömenden Backpacker genossen. Zu ihnen kamen tausende Reisende, hunderte Wissenschaftler. Sie alle verbrachten viel Zeit in Bumburet, Rukmu und Birir, den drei Tälern der Kalasha und einige von ihnen berichteten später über ihre Erfahrungen dort in Buchform. 

Folgt man den Legenden der Kalasha, so beschreiben sie ihr einstiges Siedlungsgebiet als weitaus größer. Die Mitglieder des Clans der Radjawai erzählten uns, Radjawai sei der letzte Kalash König gewesen, der über das gesamte Chitral Tal herrschte, von dem die Täler der Kalasha heute nur kleine Seitenarme bilden. Es gibt einen Clan der Bulansingh, der nach einem großen Feldherren benannt ist, der sich mit Abdur Rahman Khan, dem afghanischen König im Hindukush herumschlug, als dieser am Ende des 19. Jahrhundert die Menschen im abgelegenen Hochgebirge (auf der afghanischen Seite der Grenze) mit ihren uralten Religionen in einem Missionierungsfeldzug überzog und zum Islam konvertieren ließ.

Die Kalasha konnten sich dem Missionierungsdruck bis heute erwehren. Heute bedroht sie das pakistanische Blasphemie Gesetz, das harte Strafen für die Verunglimpfung des Islams vorsieht. Häufig kann dieses Gesetz gar nicht erst angewendet werden, weil radikale Muslime oft schon Lynchjustiz am angeblichen Täter verüben, bevor die Polizei überhaupt einschreiten kann. Oft rettet sie die Beschuldigten aus der Hand aufgebrachter Muslime und kann nur mit Waffengewalt den Tod des der Blasphemie beschuldigten verhindern.

Feldarbeit auf den hauseigenen Feldern.

Im Spannungsfeld zwischen ruhmreicher Vergangenheit und den Herausforderungen der Gegenwart leben die Kalash heute ihren Alltag im Tal als Bauern, Hirten, Holzfäller oder Hotelbesitzer. Im Dorf Brun etwa trifft man viele Familien, die sich an Gäste aus Europa, Japan und Amerika in ihren eigenen vier Wänden erinnern. Der Backpackerwelle der 1980er und 1990er Jahre ist es auch zu verdanken, dass die Kalasha heute sehr oft jemanden in der Familie haben, der Englisch spricht. Die Anfänge des Tourismus in den 1970er Jahren waren tatsächlich community based – wurden also von der Gemeinschaft der Kalasha gemeinsam getragen, was man heute im Tourismussektor als besonderen Wert erachtet.

Als studierte Leute arbeiten die Kalasha auch außerhalb der Täler in Beamten- und Angestelltenjobs in der Kreisstadt Ayun, der Bezirksstadt Chitral, oder in Peshawar, der Hauptstadt der Provinz Khyber Pakhtunkhwa. Junge Kalasha studieren verschiedene Fachrichtungen in ganz Pakistan. Sie pendeln am Wochenende oder in den Semesterferien nach Hause, um ihre Familien zu besuchen. Besondere Anlässe gibt es hierzu zu den Frühjahrs- und Erntefesten zwischen Mai und Dezember.

Motorrad am vielleicht besten Juice Shop im Tal, betrieben von einem konvertierten Kalash

Auch zwischen den Tälern gibt es einen regen Verkehr. Busse und Taxis verbinden die Täler miteinander und mit Chitral, Peshawar oder Islamabad. Auch dieser Verkehr wird von den Kalash und den Khowar mit eigenen, großen und kleinen Transportmitteln organisiert.

Als Karl Wutt 1973 seine ersten Schritte in das Tal der Kalasha machte war er zu Fuss unterwegs. Anfang Mai 2022 folgten wir seinen Fußstapfen. Für uns begann damit auch eine Zeitreise in das Jahr 1973. Wir kamen als Freunde von Karl bzw. Gola Zhong. Wir konnten uns auf eine langjährige Freundschaft mit ihm berufen. Unser erste Begegnung mit Karl hatten wir 1997 als Studenten der Mittelasienwissenschaften. Eine Freundschaft wurde daraus im Jahr 2015, als wir nach Autoren suchten für unser erstes Buch in der edition tethys, das die Begegnungen unserer Freunde und Kollegen mit und in Afghanistan beschreiben sollte. Im Zuge dieser Suche wurden wir auch auf das Material aufmerksam, das Karl Wutt zwischen 1973 und 1997 in den Tälern der Kalasha gesammelt und archiviert hatte. Hunderte von Zeichnungen von großen und kleinen Leuten unter den Kalasha. Das inspirierte uns dazu, mit ihm über dieses Material die „Zeichenbücher der Kalasha – Kalasha Drawing Books“ zu machen, die wir 2019 veröffentlichten.

Bei Faiza bibi während der Buchübergabe

Im Mai 2022 wollten dieses Buch nun zu den Zeichnern von damals zurückbringen. Im Gepäck hatten wir 10 gedruckte Exemplare Zeichenbücher mit zahlreichen Fotos und Abbildungen. Unser Ziel war es mindestens zehn Protagonisten des Buches zu besuchen und ihnen jeweils eins dieser Bücher zu übergeben.Wir wussten nicht, wie viele von ihnen wir noch antreffen würden. Klar war, dass einige von ihnen schon gestorben waren. Andere wiederum waren quicklebendig und versorgten uns mit lustigen und interessanten Geschichten aus der Zeit der Besuche Karl Wutts in ihren Dörfern. Diese Treffen mit den ZeichnerInnen und ihren Familien machten wir oft mit Hilfe junger Kalasha-Dolmetscher, die in den Semesterferien für drei Wochen im Tal waren und uns halfen, uns im Tal zurechtzufinden.

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