Sinowjew 1979 – ein Kommentar zu Putins Russland 2022

Im Jahr 1976 veröffentlichte Alexander Sinowjew seinen Roman “Gähnende Höhen” und lieferte damit eine literarisch-wissenschaftliche Beschreibung und Analyse der sowjetischen Gesellschaft. Ein Jahr später erschien die französische Übersetzung und ein weiteres Jahr später reiste Sinowjew aus der Sowjetunion aus und war gezwungen, die Staatsbürgerschaft aufzugeben. Er ließ sich in München nieder und veröffentlichte fortan mehrere Romane, Essays und Interviews, in denen er den Kommunismus als Realität beschrieb.

Am 18. Mai 1980 erschien der Artikel “Das Spiel mit der Geschichte” in der Le Monde. Warum das heute, im Jahr 2022, nach dem von Putin initiierten Angriff auf die Ukraine von Interesse ist? Lesen Sie selbst: “Es ist schon längst eine Binsenwahrheit, daß die moderne Welt ein Ganzes bildet, daß sich alle bedeutenden Ereignisse, die in einem Teil der Welt geschehen, anderswo auswirken und daß man bei der Lösung aller ernsten Probleme diese Wechselwirkungen und die Interessen der einzelnen Elemente des Weltsystems berücksichtigen muß. Aber weise Ratschläge erteilen und sie befolgen ist zweierlei.” so beginnt dieser Aufsatz, bevor er einige Seiten später auf die Sowjetunion zu sprechen kommt: “Über den Dogmatismus, die Härte und Starrheit der sowjetischen Politik ist schon viel gesagt worden. Dabei ist jedoch immer das Wesentliche daran außer acht gelassen worden, nämlich die all dem zugrundeliegende Norm. Sie ist keineswegs eine Manifestation der Dummheit oder eine Folge des Einflusses einer unsinnigen Ideologie. Sie ist, wie die Geschichte zeigt, die natürliche und sehr wirksame Verhaltensweise der kommunistischen Gesellschaft in der Verkörperung ihrer Führung. […] Die Norm von der ich spreche, ist eine Sammlung von Verhaltensprinzipien der Personen, die die Interessen des Staates (des Landes) in allen möglichen Situationen vertreten. Ein Teil dieser Prinzipien wird in Phrasen formuliert, deren Verständnis eine spezielle Vorbereitung erfordert. Ein anderer Teil wieder existiert in Form von Geheiminstruktionen. Und ein Teil bleibt überhaupt unformuliert. Aber die Personen, die die Norm verkörpern, lernen sie bei ihrer praktischen Tätigkeit kennen oder entdecken sie für sich selbst als etwas ganz Natürliches. Zum Teil dringen diese Prinzipien überhaupt nicht ins Bewußtsein ein. Und würde man offen sagen, daß diese bestimmte Gesellschaft sich von diesen Prinzipien leiten läßt, so würden ihre offiziellen Repräsentanten deren Existenz kategorisch abstreiten. Folgende Prinzipien der Norm sind etwa in der Praxis wirksam: sich in alle möglichen Richtungen ausbreiten; in alle Sphären, alle möglichen Organisationen, Länder, Teile der Welt eindringen; überall Kontaktpersonen unterhalten; Verschleierungs- und Verwirrungstaktik betreiben; Hetzkampagnen organisieren; schmutzige Geschäfte von fremder Hand ausführen lassen; Überlegenheit anstreben; einschüchtern; erpressen; versprechen; lügen; Vereinbarungen treffen und sich dann nicht daran halten; alle in das Spiel einbeziehen; mit allen Mitteln die ‘fünfte Kolonne’ verstärken; Entdeckungen und Erfindungen stehlen; großangelegte Staatsspektakel zum Zweck der Täuschung und Irreführung veranstalten. Kurz, hier kommen alle Mittel zum Einsatz, die die Geschiche je erfunden im Kampf – nicht auf Leben sondern auf Tod. Die Norm verlangt zudem, bei der Anwendung dieser Prinzipien pedantisch und geduldig zu sein […] bei allen Aktionen dieser Art wird nachträglich eine Umdeutung im Sinne der Norm vorgenommen, und es wird ihnen gleichzeitig volle Übereinstimmung mit dem Plan und den vorausgesehenen Folgen attestiert. … Alle ernsten Handlungen des Systems nehmen die Gestalt eines grandiosen diabolischen Kalküls an, selbst wenn sie keine Spur von Intelligenz enthalten und für das System selbst völlig unerwartet sind. Mißerfolge und unangenehme Überraschungen werden im nachhinein in wohlüberlegte Schritte zu irgendeinem Sieg hin umgedeutet, auch wenn dieser damit nichts zu tun hat.”

Anzustreben sei es, “dass man in die Lage versetzt wird, die ‘Psychologie’ ihrer Träger zu verstehen … zu begreifen, mit wem man es in diesem Spiel zu tun hat, und sich bezüglich der Partner keine Illusionen zu machen – das ist an sich schon einiges wert.” München 11. Februar 1979 (Sinowjew: Ohne Illusionen. Diogenes, 1980)

PS: Die meisten bisher in der Ukraine eingesetzten und getöteten Soldaten stammen aus den ärmsten und abgelegenen Regionen Russlands, Burjatien und Daghestan.

Am 23. Oktober 1986 sprach Sinowjew in Wien über sein Leben und seinen Roman “Gähnende Höhen” — eine Zweit- und Gesellschaftsdiagnose, die nichts an Aktualität und Genauigkeit eingebüst zu haben scheint. 1999 kehrte Sinowjew zurück nach Moskau. Doch auch über die postsowjetische Gesellschaftsordnung unter Jelzin und dann Putin gab er sich keinerlei Illusionen hin. Sinowjew starb 2006. 15 Jahre später gleicht Russland wieder dem Ibansk der “Gähnenden Höhen” – einer komplett entmenschlichten Gesellschaft.

Die Schriften Alexander Sinowjews sind derzeit nur antiquarisch zu erhalten. Es wäre an der Zeit, sein Werk neu aufzulegen und es zu lesen…

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