Mazor aka gehörte zu meinen ersten Bekanntschaften in der Zigeunergruppe der Chaqon. Er war alt und hatte sich in jungen Jahren ein, zwei Mal beim Buzkashi, einem archaisch anmutenden Reiterspiel, das Bein gebrochen. Das machte ihn auf seine alten Tage zunehmend unbeweglich. So blieb er die meiste Zeit zu Hause und bewachte das Haus, in dem die Familie des Großen Ghulom wohnte.
Mazor aka war ein angesehener Mann unter den Zigeunern. Er führte den Titel qibla gui, das heißt, er war einer, der bei großen rituellen Gebeten die Gebetsrichtung bestimmte und vorbeten durfte. Außerdem trat er aufgrund seiner großen Lebenserfahrung als Schlichter zwischen streitenden Parteien auf. Hinzu kam, dass er nachdem er alle seine Kinder großgezogen hatte und auf seinen Lebensabend zuging, als wandernder religiöser Bettler von Heiligenstätte zu Heiligenstätte zog. Er ging für diese Zeit in den Stand des malang, wurde also freier religiöser Wanderbettler, der in seiner Pilger- und Wanderzeit Gottes Nähe sucht. Der malang unterscheidet sich in Afghanistan vor allem dadurch von einem Derwisch, dass er keiner Bruderschaft angehört und keine Unterweisung von einem religiösen Lehrer bzw. Meister braucht. In der Wahrnehmung der Bevölkerung sind sich aber malang und Derwisch gleich. Sie sind beide auf dem Weg zu Gott.
Um auch von der Umgebungsbevölkerung als malang angesehen zu werden, bedarf es gewisser Attribute: einen Wandertstab, einen Flickenmantel, Prophetenhaar, eine Hals- und Gebetskette, sowie eine Bettel- bzw. Opferschale. Ein Malang muß mit einem leeren Beutel allen, die ihn sehen, als mittelloser Mann erscheinen.
Die Malang sind in der afghanischen Bevölkerung für ihren Liedvortrag bekannt und beliebt, aber auch wegen ihrer magischen Fähigkeiten gefürchtet. Wie sehr das auch im Alltag eine Rolle spielte, sollte ich auf den Flughäfen von Mazar-e Sharif und Kabul erfahren. Und das kam so: Irgendwann hatte ich Mazor aka und seiner Familie erzählt, dass ich für ein Museum Ausstellungsstücke sammeln würde und deswegen auch ein paar Gegenstände aus dem Haushalt der Chaqon kaufen wolle: ein Zelt vor allem, vielleicht einen Schnappsack und andere Dinge des Alltags.
Eines Tages fragte mich Mazor aka unvermittelt, ob ich denn auch seine Malang-Ausrüstung erwerben wolle. Seine Frau hätte diese damals für ihn hergestellt. Da diese aber vor einem Jahr verstarb, wolle er sich auch von diesen Sachen trennen. Er sei ohnehin zu alt und klapprig, dieses Kleid weiter von Heiligenort zu Heiligenort zu tragen. Ich freute mich über dieses Angebot. Diejenigen, die zweifelten, ob es denn rechtens sei, die Ausrüstung eines Malang einem Ungläubigen zu geben, wurden damit beschwichtigt, dass dies ja Sachen für ein Museum seien. Würden diese Gegenstände ausgestellt, geschähe das auch zu Ehren der Malang in einem fernen Erdteil. Gesagt getan. Ich entschädigte Mazor aka, und der Mantel ging in meinen Besitz über.
Als ich dann am Ende meiner Forschungsreise den Mantel des Malang in mein Reisegepäck packte und mich zum Flughafen von Mazar-e sharif aufmachte, lernte ich die Macht des Mantels kennen. Dazu muß man wissen, dass gerade bei Inlandsflügen von den am Flughafen Verantwortlichen das Gepäck peinlich genau unter die Lupe genommen wird. So hatte ich in Mazar drei Kontrollen hinter mich zu bringen: einmal bei der Polizei, dann beim Zoll und schließlich bei der Armee. Als ich am ersten Kontrollposten die Kiste mit den Malang-Untensilien öffnete, sprang der Polizist förmlich vom Tisch zurück und meinte, einen Mantel eines Derwisches würde er nicht berühren. Er holte darauf sogleich einen Rangniedereren zu meinem Gepäck und befahl diesem die Kontrolle fortzusetzen. Dieselbe Reaktion wiederholte sich bei allen weiteren Gepäcküberprüfungen. Alle hatten Angst vor den Derwischklamotten, und keiner wollte sie freiwillig in die Hand nehmen.
Diese Eigenschaft machte ich mir bei der Ausreise aus Kabul nach Deutschland zu nutze und beschloss, die Derwischuntensilien strategisch in meinem Gepäck zu verteilen. Das größte Stück, den Derwischmantel legte ich zur traditionellen Apotheke, die ich gedachte, aus dem Land herauszubringen. Beim Inlandsflug war klar, dass der Transport von Medikamenten keine Straftat sein konnte. Was allerdings die Ausfuhr von Heilkräutern und Tinkturen aus Afghanistan betraf, war ich mir jedoch nicht ganz so sicher. Es sollte keine einfache Sache werden, prophezeiten mir viele.
Doch auch am Flughafen in Kabul wiederholten sich die Szenen aus Mazar. Keiner fand sich freiwillig bereit, das Gepäck mit den Derwischutensilien zu durchsuchen. So kam ich, nur oberflächlich kontrolliert, aus Kabul nach Frankfurt. Ich dachte an Mazor aka und dankte ihm, denn die Kraft seines Mantels hatte nicht nur mir, sondern auch einer traditionellen Apotheke Flügel verliehen.
Wen wundert es da noch, dass mich auch beim Deutschen Zoll der Derwischmantel weitgehend unsichtbar machte? Die Beamten bekamen hier gar nicht mit, dass ich nach Deutschland einreiste. Alle drehten mir den Rücken zu, um sich mit anderen Reisenden zu beschäftigen …
Sehr schöner Beitrag, das kann ich nur bestätigen. Ich würde mich freuen, mehr über die traditionelle Apotheke Afghanistans zu erfahren
Schöner Beitrag.