Beobachtungen am Rande des mongolischen Wahlgeschehens

Ein Beitrag von Michael Angermann

Es ist der Vorabend der mongolischen Präsidentschaftswahl. Mit meiner schwedischen Mitstreiterin, Übersetzer und Fahrer stehen wir auf dem Rücken der Khankhukh-Bergkette auf über 2000 Meter Höhe, gut 1000 Kilometer westlich der Hauptstadt Ulaanbaatar und halten vergeblich Ausschau nach dem Aldar Bag – „Aldar“ heißt „berühmt“ und „Bag“ ist die kleinste administrative Einheit der Mongolei. Aldar Bag ist das nächstgelegene Wahllokal in unserem Einsatzgebiet als OSZE-Wahlbeobachter. Seine Berühmtheit versteckt diese administrative Einheit hinter grasüberzogenen Bergkuppen und sporadischen Baumsprengeln. Das mongolische Viehquartett: Kuh, Schaf, Ziege und Pferd hat bisher unseren Weg geziert. Ein Kamel überrascht uns im Lärchenhain. Wir stehen im Wald.

Suchbild: Kamel im Lärchenhain

Suchbild: Kamel im Lärchenhain

Hinter der nächsten Kuppe erscheint ein weißhaariger Hirte. Unser Retter. Er bestätigt uns, dass der Berühmte Bag, noch gut 15 Kilometer entfernt sei. Dieselbe Auskunft hatten wir allerdings vor einer halben Stunde schon von einem Kleinbusfahrer erhalten, der uns daraufhin in eben diese Richtung schickte. Dann fügt der weiße Hirte noch hinzu: „Aber in drei Kilometern findet ihr den Ulaan Uzuuriin Bag, den Rot-Spitzen Bag.“ Nach unserer Karte liegt dieser wohlklingende Bag aber gut 60 Kilometer von unserem derzeitigen Standpunkt entfernt. Wir beginnen zu zweifeln, an uns, an unserer Landkarte, an unserem Retter. Vielleicht haben wir uns aber auch nur verhört. „Aber nein, das hier ist der Rot-Spitzen Bag“, bestätigt uns ein zweiter mit einem Motorrad herbeifahrender Hirte.

Landschaft des Ulaan Uzuuriin oder Rot-Spitzen Bag

Landschaft des Ulaan Uzuuriin oder Rot-Spitzen Bag

Es hilft nichts, wir müssen irgendwie zum Aldar Bag. Immerhin soll das unser erstes Wahllokal werden, das wir am nächsten Morgen zur Eröffnung des Wahltages besuchen wollen. Auf unserer Karte liegt es nur 50 Kilometer von der Regionalhauptstadt Ulaangom entfernt. Dort nächtigen wir mit den anderen Wahlbeobachtern. Der Hirte fasst sich ein Herz, wirft sein Motorrad an und bringt uns auf die richtige Fährte. Kurz fragt er noch den Fahrer, ob unser Wagen über Allrad verfügt, dann düst er auch schon davon. Und wir hinterher. Der freundliche Hirte versteht es, sein Motorrad galant wie ein Pferd über die nur entfernt fahrwegähnlichen Pfade zu führen. Dann stürzt er seinen motorisierten Zweiräder todesmutig den Abhang hinunter. Unser Fahrer hat mit vier Rädern alle Mühe, dem kühnen Reiter über Stock und Stein zu folgen. Dann wieder bergan. In arger Schieflage erreichen wir eine Hügelkuppe. Dort gibt uns der hilfsbereite Hirte letzte Weganweisungen und tritt dann seinen Heimritt an.

Freundlicher Hirte mit seinem Motorrad

Freundlicher Hirte mit seinem Motorrad

Nach einer weiteren Stunde erreichen wir schließlich Aldar Bag. Uns geht ein Licht auf – zu dieser Jahreszeit befinden sich die Hirten von Aldar Bag und ihr Vieh natürlich auf der Sommerweide. Auf unserer Karte aber ist nur der Überwinterungsplatz eingezeichnet.

Die Wahlkommission des Aldar Bag hatte es sich bereits neben dem Wahllokal gemütlich gemacht. Um die kostbare technische Ausrüstung und die Wahlzettel über Nacht in Sicherheit zu wissen und den Wahltag gleich vor Ort zu begrüßen, wollen sie gleich hier die Nacht verbringen. Mit einer Schale frischen Airag, angegorener Stutenmilch, werden wir in Empfang genommen. Während der folgenden Bewirtung berichten sie uns, dass alle Vorbereitungen für den morgigen Tag bereits getroffen sind. In bester Laune treten wir die Heimfahrt durch die Hügelketten in die Regionalhauptstadt Ulaangom an.

Vorsitzende der Wahlkommission des Aldar Bag

Vorsitzende der Wahlkommission des Aldar Bag

Dort erwarten uns noch die letzten Wehen des Wahlkampfes: drei Plakatwände mit den Kandidaten zieren den Hauptplatz. Daneben steht auf einem Sockel das Denkmal von Tsedenbal, der die Mongolei von 1952 bis 1984 anführte und aus der Region Ulaangom stammte. Einige Jugendliche spielen Volleyball. Auf ihren Trikots tragen sie das Portrait des Präsidentschaftskandidaten der Mongolischen Volkspartei, dem ehemaligen Ringerchampion Bat-Erdene.

Die Drei Kandidaten

Die Drei Kandidaten

Volleyballspieler im Bat-Erdene OutfitVolleyballspieler im Bat-Erdene Outfit

Am Vortag lief die TV-Debatte zwischen allen Kandidaten im Fernsehen. Auch Udval, die amtierende Gesundheitsministerin und Vertreterin der Mongolischen Revolutionären Volkspartei, die erste weibliche Präsidentschaftsanwärterin überhaupt, nahm daran teil. Ihr und dem aktuellen Präsidenten, dem dritten Kandidaten, Elbegdorj, ist es zu verdanken, dass der Wahltag alkoholfrei vonstattengeht. Noch vor einem Jahrzehnt undenkbar, wurden in der Mongolei unter ihrer Regie in den letzten Jahren strenge Auflagen zum Genuss von Alkohol und Tabak eingeführt: unter anderem Tage ohne Alkoholverkauf, staatliche Empfänge ohne Alkohol sowie Rauchverbot in und um öffentliche Gebäude herum. Interessant ist auch, dass sich ein Großteil der freiheitsliebenden mongolischen Bevölkerung daran hält, ganz im Gegensatz zu ebenfalls geltenden Straßenverkehrsregeln.

„Bei Wahlen des Neuen Zeitalters gibt es keinen Alkohol und Tabak“

„Bei Wahlen des Neuen Zeitalters gibt es keinen Alkohol und Tabak“

Kurz vor 7 Uhr stehen wir am nächsten Morgen im Wahllokal Nr. 24 im Landkreiszentrum Naranbulag. Dort beobachten wir den Wahlauftakt. Der erste Wähler weist sich sogleich nach der Öffnung des Wahllokals aus mit seinem Fingerabdruck und Personalausweis. Daraufhin öffnet sich auf dem Wahllokal-Computer ein Fenster mit den Daten und dem Passbild des Wahlberechtigten. Erst dann bekommt er seinen Wahlzettel ausgehändigt.

Wählerregistrierung in Naranbulag

Wählerregistrierung in Naranbulag

Schnell schreitet er zur Stimmabgabe. Er führt den Wahlzettel in den Scanner zur Stimmenzählung ein und augenblicklich verschwindet der Zettel auch schon in die darunter angebrachte versiegelte Urne. Die erste Stimme der knapp über 400 in diesem Wahllokal registrierten Wähler ist abgegeben. Für uns überraschend setzt eben dieser erste Wähler nach Stimmabgabe zu einer flammenden Rede an, in der er der Mongolei und den Kandidaten alles Gute wünscht.

Flammende Rede des Ersten Wählers

Flammende Rede des Ersten Wählers

Der Landkreiswahlleiter stimmt ein und bedankt sich bei uns, als erste ausländische Wahlbeobachter in Naranbulag. Tatsächlich ist es auch die erste internationale Wahlbeobachtungsmission der OSZE im Lande, nachdem die Mongolei erst Ende 2012 Mitglied der OSZE geworden ist. Ein Foto hält diesen Moment fest, während der erste Wähler den auf dem Wählerregistrierungsschein abgedruckten Code in sein Handy tippt, um sich die 1000 Tugrik (ca. 0,50 €) Mobilfunkguthaben gutschreiben zu lassen, die jeder Wähler vom Mobilfunkunternehmen als Dankeschön für die Wahlteilnahme bekommt.

Gruppenbild mit Wahlorganisatoren in Naranbulag

Gruppenbild mit Wahlorganisatoren in Naranbulag

Zwei Wahllokale später sitzt uns die Postfrau des Landkreises Ulgij in ihrem Telegrafenamt gegenüber. Dieses hat sie trotz Feiertag kurzzeitig für uns geöffnet: Erfolgreich übertragen wir per Fax unsere Protokolle der besuchten Wahllokale an die zentrale Auswertungsstelle der Wahlbeobachtungsmission in Ulaanbaatar.

Postfrau vom Landkreis UlgijPostfrau vom Landkreis Ulgij

Nach einem kräftigen Hammelhackfleischtaschenmahl brechen wir zu einem weiteren Wahllokal in den Bergen auf. Auch hier stimmt Karte und Realität nicht ganz überein. Doch heute sind wir schlauer und lassen uns begleiten. Es erwartet uns ein mobiles Jurten-Wahllokal, das ganz flexibel in den jeweils jahreszeitlich bedingten Weidegebieten aufgestellt werden kann. Davor erwartet uns der in der Steppe obligatorische Parkplatz mit Parkplatzbeschilderung und ein surrender lebenserhaltender Generator für die Technik.

Jurtenwahllokal des Chargat Bag mit Parkplatz

Jurtenwahllokal des Chargat Bag mit Parkplatz

Die meisten Wähler waren bereits am Morgen gleich nach dem Melken da, teilt uns der geflissentliche Leiter der Wahlkommission schon bei der Begrüßung mit. Über 60 Prozent der Wählerschaft hätten zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits ihre Stimme abgegeben. Die siebenköpfige Wahlkommission und die drei Beobachter der Kandidaten gähnen als wir die Jurte betreten: Seit einer Stunde keine Wähler, da erfreut man sich über einen Plausch mit den angereisten Wahlbeobachtern zu Wahlen in Europa. Hier draußen gibt es doch gar kein Mobilfunknetz zum Übertragen der Ergebnisse, wundert sich meine schwedische Kollegin. Doch der Leiter der Wahlkommission, der im eigentlichen Leben Arzt aus dem Landkreiszentrum ist, erzählt, dass sie nach der Schließung der Wahllokale um 22 Uhr die Urne samt Scanner und Generator auf die nahe Bergkuppe bringen werden. Dort gebe es nämlich ein Mobilfunksignal und die verschlüsselten Daten werden dann auf Knopfdruck an die Zentrale Wahlkommission in Ulaanbaatar übertragen.

Ein derartig ausgeklügeltes technisches System in einem infrastrukturell schwach entwickelten Land mag seltsam erscheinen. Dennoch spiegelt es die Situation in der heutigen Mongolei wider: diese befindet sich in einem starken Modernisierungsprozess, ist aber auch immer wieder gut für Überraschungen, die das Land so liebenswert machen.

Am Tag nach der Wahlbeobachtung steigen wir wieder ins Auto, diesmal um die Heimreise anzutreten. Aufgrund des Regens der letzten Tage führt ein Fluss vor uns viel Wasser. Die Furt ist unpassierbar. Also nehmen wir lieber eine Umleitung von vier Stunden in Kauf und bestaunen in aller Ruhe die Bergketten des mongolischen Altai. In der Zwischenzeit beurteilt die OSZE in der Hauptstadt  in ihrem vorläufigen Statement den “Wahlvorgang in fast allen beobachteten Wahllokalen als positiv” und die zentrale Wahlkommission gibt das vorläufige Endergebnis der Wahl bekannt. Der Amtsinhaber hat mit 50,23 Prozent die Wahl im ersten Wahlgang gewonnen. Die beiden anderen Kandidaten gratulieren und trotz des äußerst knappen Ergebnisses bleibt es im Land überall ruhig. Für den Inlandflug zurück nach Ulaanbaatar werden wir überraschenderweise mit „PEK-Peking“ – Gepäckzetteln ausgestattet, da diese gerade noch vorrätig waren.

Unser GepäckzettelUnser Gepäckzettel

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