Wer schon einmal in Mittelasien war, wird die folgenden Situation kennen: Man ist an einem heiligen Ort dem Alltag entflohen und hat einen Gesprächspartner neben sich, der in lokaler Geschichte versiert ist und einem die Geschichte des Heiligen Ortes erzählt: Häufig begegnen dem Zuhörer dabei die verschiedensten Geister. Manchmal widerstehen die heiligen Orte Bulldozern, weil der Geist des Ortes diese zerstört, manchmal widersetzt sich ein Geist der Umlegung eines Toten…
Anett Oelschlägel hat sich viele Jahre dem Sammeln solcher Geschichten gewidmet, jedoch nicht im islamischen Süden Mittelasiens, sondern in Tuwa, wo sie zu Schamanen und ihren Weltvorstellungen forschte.
Die Geschichten, die sie über Geister sammelte, sind nun in einem gesonderten Buch in Tuwinisch, Russisch und Deutsch erschienen. In diesem Buch begegnen wir einer Schamanin, die ihre Herde vor einem Dieb schützt, in dem sie ihn für eine Nacht erstarren lässt.
Bibliothekarinnen verhindern mit Hilfe von Geistern eine staatliche Kontrollkommission und eine junge Frau wird Opfer der Verführungskünste eines Albys-Geistes. Die in diesem Buch versammelten Erzählungen kursieren an den Lagerfeuern der tuwinischen Nomaden. Sie erzählen vom Leben der einfachen Hirten, vom Wirken der Geister und von den Fähigkeiten der Schamanen. Dabei sind es keine ausgedachte Geschichten, beteuerten ihre Erzähler. Jeder Tuwiner kann zu jeder Zeit mit Geistern zusammentreffen und Erfahrungen mit ihrem Willen, ihrem Zorn, ihrer Hilfsbereitschaft und ihrem Eigensinn machen.
Die Sagen der tuwinischen Nomaden stehen beispielhaft für eine Realität, in der Menschen und Geister in enger Nachbarschaft zusammenleben. Sie erklären die Regeln, Normen und Tabus dieser Nachbarschaft und sie lehren ihre menschlichen Zuhörer, den Willen, die Eigenarten und die Bedürfnisse der Geister zu achten, um Glück, Gesundheit und Wohlstand unter den Tuwinern zu sichern.
Nun wollen wir hier drei dieser Geschichten veröffentlichen, den Lesern dieses Blogs zur Erbauung, des Geistern von Tuwa zur freien Entfaltung und der Verfasserin des Buches zu Glück und Wohlstand.
Über den Herrengeist einer Heilquelle
Hinter dem Gebirge im Norden, schon im Krasnojarsker Kraj, fließt der Uru-Fluss. Dort in der Nähe gibt es das Uru-Aržaan, eine sehr starke Heilquelle. Als in dieser Gegend noch sehr viele tuwinische Viehzüchter nomadisierten, lebte dort auch ein berühmter Jäger. Eines Tages, als er auf der Jagd war, sah er einen Maral. Er wollte ihn erlegen. Seine Kugel traf ihn aber nur neben dem Herzen und der Maral lief davon. Der Jäger verfolgte ihn und sah, dass das wunde Tier zu einer Quelle lief, ihr Wasser trank und augenblicklich wieder gesund war. Seit dieser Zeit schätzt man diese Quelle als Heilquelle. Die Menschen kommen von weit her, um sich vom Wasser der Quelle und ihrem Herrengeist heilen zu lassen. Sie kommen zu Pferd, denn der Weg zur Quelle ist mit einem Geländewagen nicht zu passieren. Der weite Weg ist nur zu Fuß oder auf dem Pferd zu bewältigen. Um die schwer zugängliche Quelle zu erreichen, muss man tief ins Gebirge hineingehen. Die Heilquelle heilt alle Krankheiten an der Leber und im Blut, sagt man.
Einige Besucher der Quelle sind dort einer wunderschönen jungen Tuwinerin begegnet. Sie trägt ein langes rotes tuwinisches Gewand. Man sagt, sie sei die Herrin der Heilquelle. Sie wird bis in die heutige Zeit oft an der Quelle gesehen. Aber sie hasst Betrunkene. Wer betrunken zur Quelle kommt, den heilt sie nicht. Jeder, der dort vorbei kommt, lässt sich an ihrer Quelle zu einer Rast nieder, opfert Nahrungsmittel, bindet Opferbänder an die Bäume und Sträucher im Umkreis der Quelle, spricht Gebete, trinkt von dem Wasser und ruht sich aus. Wer für ein Heilungsritual zur Quelle kommt, der opfert dort weiße Speisen in einem Wacholderfeuer. Dann übergießt er sich mit Wasser und trinkt etwas aus der Quelle. Um sich richtig ausheilen zu lassen, muss man vier Jahre lang regelmäßig die Quelle aufsuchen. Früher lebten in der Nähe der Quelle noch viele tuwinische Viehzüchter. Nach der Angliederung Tuwas an die Sowjetunion (1944) wurde das Gebiet dann in den Krasnojarsker Kraj aufgenommen, und seither ist es schwer, dorthin zu gelangen.
Aufgezeichnet am 27.07.2004 in der Provinz Süt Chöl
Über den Reichen Ažyk-Karak
Dieser Mann war ein Sohn des Kyrgyz aus der Provinz Ulug-Chem, der vom Klan der Ondar abstammte. Als er in unsere Gebiete einwanderte, gründete er mit der Tochter eines reichen Mannes eine Familie und lebte mit ihr, so ein Mensch war er. Doch von der Frau, die er sich genommen hatte, bekam er keine Kinder. Er suchte einen Lama auf und wollte von ihm erfahren: „Warum bekomme ich keine Kinder?“ Nachdem er seine Frage gestellt hatte, sah der Lama nach und antwortete: „Du bekommst keine Kinder, weil du zu deiner Frau nicht passt. In dem Jurtenlager, auf der anderen Seite des Flusses, lebt ein mächtiger Heiler mit seiner Tochter. Wenn du mit ihr zusammenlebst, wirst du ein gutes Leben führen und Kinder haben.“ So erklärte der Lama. Daraufhin nahm Kyrgyz das Mädchen des vom Lama bezeichneten Jurtenlagers zur Frau und begann mit ihr zusammenzuleben. Nachdem ein Jahr vergangen war, gebar sie ihm einen Sohn. Ažyk-Karak freute sich sehr und ging durch den Fluss zum Jurtenlager ihres Bruders, um von ihm einen Hammel1 zu erbitten. Doch dieser gab ihm keinen. Als er in sein Jurtenlager zurückgekehrt war, schlachtete er das Kalb seiner einzigen grauen Kuh und stärkte damit seine Frau. Darauf ging er zur Quelle des Iškin in die große Kyzyl-Taiga (Rote Taiga) jagen.
Nachdem er eine Weile die Taiga nach Wild durchstreift hatte, traf er auf einen gleichaltrigen Mann. Der fragte ihn: „Was bekümmert dich so?“ Er erklärte ihm seine Situation: „Ich bin einer, der einen einzigen Sohn geschenkt bekommen hat. Deshalb bin ich gekommen, um vom Herrengeist des Gebirges Hilfe zu bitten.“ „Gut, wenn es so ist“, antwortete jener, „dann kehre hierher zurück, nachdem du einige Tage und Nächte Eichhörnchen gejagt hast.“ Ažyk-Karak ging und jagte Eichhörnchen, machte Beute und freute sich. [Als er von der Jagd zurückgekehrt war, sagte der Fremde zu ihm:] „Sprich nicht darüber, dass wir uns getroffen haben, und deine Wünsche werden in Erfüllung gehen.“ Gut, der Mann kehrte in sein Jurtenlager zurück. Dort stand viel Vieh. Dieses Vieh hatte keinen Herrn, und so wurde es sein Vieh. Nachdem Monate und Jahre vergangen waren, traf dieser Mann an der Quelle des Čėėde-Flusses auf einen großen baj-yjaš (Reicher Baum) und machte ihn zu seinem Ritualbaum. So war das. Dieser Mensch hat nie darüber gesprochen, wie er einer der reichsten Menschen geworden ist. [Der gleichaltrige Mann, den er in der Taiga getroffen hatte, war ihr Herrengeist gewesen. Ažyk-Karak hatte ihm gefallen und seine Armut hatte sein Mitleid geweckt.]
Aufgezeichnet am 28.07.2004 in der Provinz Süt Chöl
Erzählung über den Schamanen-Großvater
Ich hatte einen Großvater. Er war nicht mein leiblicher Großvater, sondern ein Verwandter. Der Alte war ein berühmter Schamane. Man nannte ihn den Šagar-Schamanen. Er war einer der mächtigsten Schamanen des Övür-Gebietes. Mit 70 Jahren ist er gestorben. Die Kommunisten zeigten mit dem Finger auf ihn und beschimpften ihn immer wieder mit den Worten: „Du Schamane!“ Der Großvater selbst sprach nicht gern darüber, dass er schamanierte.
Einmal warf ihn der Polizeivorsteher ins Gefängnis. Da sagte der Alte zu ihm: „Lass mich frei, mein Sohn. Ich kann nicht im Gefängnis sitzen. Ich halte das nicht aus.“ Doch der Vorsteher beachtete ihn nicht, und der Šagar-Schamane blieb im Gefängnis. Da wurde der Alte ärgerlich und sagte: „Dir werd‘ ich‘s zeigen. Ich werde meine schreckliche Schlange schicken.“ Der Polizeivorsteher lachte nur darüber.
Nachts, als der Vorsteher schlief, steckte er seine Hand unter das Kopfkissen und ertastete dort etwas. Dieses Etwas bewegte sich. Er wachte auf und sah nach. Es war eine Schlange. Der Polizeivorsteher erschrak so sehr, dass er sofort zur Polizeistation lief, um den Šagar-Schamanen freizulassen. In Chandagajty, wo diese Sache vorgefallen ist, sind Schlangen sehr selten. Es gibt sie eigentlich nicht, sagen die Leute. Deshalb war das Auftauchen der Schlange unter dem Kopfkissen ein sicheres Zeichen. Die Leute unterhielten sich noch lange über die Schlange des Šagar-Schamanen. Mir hat die Geschichte meine Mutter erzählt.
Aufgezeichnet am 23.07.2004 in Kyzyl