Die mit den Flüssen tanzen, bede und boira im Ganges Delta

Ein Forschungsbericht von Olaf Günther, Mauritianum Altenburg

Bangladesh ist mit 161 Millionen Einwohnern eines der dichtbesiedeltsten Länder der Welt und Teil eines Wassersystems, das gemeinhin als Ganges Delta bekannt ist. Jedoch fließt hier nicht nur der Ganges in die Bucht von Bengalen, sondern zwei weitere, im Himalaya entspringende Flüsse, der Brahmaputra und der Meghna. Sie alle treffen an der Schnittstelle des indischen Subkontinents und des asiatischen Kontinents zusammen und bilden hier ein riesiges Delta. Über die Jahrtausende haben sie mit ihren Löß-, Sand- und Schlammmassen ein ins Meer vorgeschobenes Land erschaffen. Bei Ebbe fließt in vielen Kanälen des Deltas das Flusswasser meerwärts, bei Flut fließt das Seewasser landeinwärts. In der Regenzeit überschwemmen die Himalayaflüsse die Dörfer mit Wasser, in der Trockenzeit dominiert an vielen Orten das Meerwasser, was zu salzigem Trinkwasser führt.

Schaufelraddampfer aus Zeiten des British Empire, noch heute viel genutzt

Schaufelraddampfer aus Zeiten des British Empire, noch heute viel genutzt

Die Masse an Menschen, die ein Land bewohnen, das weniger als halb so groß ist wie Deutschland, sind ein deutliches Zeichen für die Fruchtbarkeit des Bodens dieses Deltas. Die Ernte wird jedoch auf einer sehr dynamischen und risikoreichen Grundlage erwirtschaftet, denn häufig werden aus Flusswassern reißende Ströme, die Inseln in der Größe einer Kleinstadt fortspülen können. In der Zeit der Cyclone wird aus dem Indischen Ozean ein durch reißende Stürme gepeitschtes Meer, das tief bis ins Landesinnere vordringt und Menschen, Felder, Wirtschaften und Behausungen wegschwemmt.

In der longue duree, also einem Zeitraum von 2.000-3.000 Jahren gesehen, ist der richtige Umgang mit dem Wasser, wesentlich für das Überleben der Deltabewohner. Auch in der lokalen Folklore kann man sehen, wie zentral das Wasser der Himalayaabflüsse für die Menschen im Delta ist. In den baor Liedern, den Bootsliedern der Fischer und Flussfahrer, in den Mythen und religiösen Geschichten, in der Personifizierung von Flüssen und Nebenarmen, die sich lieben, sich miteinander vereinen oder wieder entzweien ist das Wasser Motiv, Akteur oder Grundlage der Erzählung.

Über den langen Zeitraum von 2-3.000 Jahren können mit dem Wasser viele Wanderungsbewegungen von Menschen und Kulturen nachverfolgt werden. Im Delta verschwimmen die Grenzen. So führte z.B. die langsame Verlagerung des Flussbettes des Ganges in Richtung Osten auch zur Verlagerung des zentralen Siedlungsraumes von Westbengalen nach Ostbengalen. In die gleiche Richtung wanderten dann auch die mit den jeweiligen Menschen verbundenen Religionen, der Hinduismus oder später der Islam. Diese Bewegungen führten zu Vermischungen der beiden großen Religionen, hinzu kamen kleinere lokale Kulte. Viele der Heiligen werden heute als Helden in den beiden großen Religionen des Deltas verehrt und viele religiöse Mythen sind Teil der hinduistischen wie auch der islamischen Folklore.

Da alle Flüsse des Deltas vorher indisches Territorium durchqueren, hält neuerdings ein bestimmtes Thema die Menschen des Deltas fest im Griff. Es ist der Staudammbau auf der indischen Seite, der nicht nur der Energiegewinnung dient, sondern auch noch eine Reihe von Neuland- und Wüstenbegrünungsprojekte ermöglichen soll. Projektiert wurde der Staudamm schon in den 1950er Jahren. Ein Ziel war die Flutprävention im Delta. Die Folgen des Projektes sind jedoch negativ für die Deltabewohner. Einerseits halten die Dämme die Lössbestandteile des Wassers in den Stauseen fest. Dies führt zur Versandung der fruchtbaren Deltafelder. Andererseits kommt es durch das Abführen des Flußwassers für die Neulandgewinnung in Indien (Bihar) zu einem Wassermangel im Delta, der wiederum zum Verlanden der Kanäle führt, den bisher wichtigsten Verkehrswegen dort.

Diese veränderten Bedingungen im Delta fand ich vor, als ich mich auf die Suche nach den bede machte, einer indigenen Bootszigeunergruppe, die sich traditionell der ambulanten Heilung, Reparatur von Haushaltsgegenständen und dem Auffinden verlorener Wertsachen in Teichen widmet. Doch waren die bede nur ein Teil der mobilen Gruppen im Delta. Hier leben ebenso mobile Fischerfamilien (boira), deren Lebensmittelpunkt das Boot ist, Honigsammler, die Sammelexpeditionen in die Mangrovenwälder unternehmen, Sammler von Schilf (bowali) und anderem Flechtmaterial, die den Grundstoff der Matten aus den Deltawäldern in die Werkstätten der Schilfmattenflechter bringen, oder mobile Schweinezüchter (kowra), die in zyklischen Abständen die Deltadörfer besuchen und Schweine verkaufen. Diese alle haben ihre Mobilitätsmuster und verändern diese nach den aktuellen Begebenheiten. Mit zwei dieser Gruppen, den bede und boira, hatte ich engeren Kontakt, machte mit ihnen Interviews zu ihrer aktuellen Lebenssituation und konnte mit der Methode der oral history lebensgeschichtliche Gespräche führen.

Continue Reading →