Die mit den Flüssen tanzen, bede und boira im Ganges Delta

Ein Forschungsbericht von Olaf Günther, Mauritianum Altenburg

Bangladesh ist mit 161 Millionen Einwohnern eines der dichtbesiedeltsten Länder der Welt und Teil eines Wassersystems, das gemeinhin als Ganges Delta bekannt ist. Jedoch fließt hier nicht nur der Ganges in die Bucht von Bengalen, sondern zwei weitere, im Himalaya entspringende Flüsse, der Brahmaputra und der Meghna. Sie alle treffen an der Schnittstelle des indischen Subkontinents und des asiatischen Kontinents zusammen und bilden hier ein riesiges Delta. Über die Jahrtausende haben sie mit ihren Löß-, Sand- und Schlammmassen ein ins Meer vorgeschobenes Land erschaffen. Bei Ebbe fließt in vielen Kanälen des Deltas das Flusswasser meerwärts, bei Flut fließt das Seewasser landeinwärts. In der Regenzeit überschwemmen die Himalayaflüsse die Dörfer mit Wasser, in der Trockenzeit dominiert an vielen Orten das Meerwasser, was zu salzigem Trinkwasser führt.

Schaufelraddampfer aus Zeiten des British Empire, noch heute viel genutzt

Schaufelraddampfer aus Zeiten des British Empire, noch heute viel genutzt

Die Masse an Menschen, die ein Land bewohnen, das weniger als halb so groß ist wie Deutschland, sind ein deutliches Zeichen für die Fruchtbarkeit des Bodens dieses Deltas. Die Ernte wird jedoch auf einer sehr dynamischen und risikoreichen Grundlage erwirtschaftet, denn häufig werden aus Flusswassern reißende Ströme, die Inseln in der Größe einer Kleinstadt fortspülen können. In der Zeit der Cyclone wird aus dem Indischen Ozean ein durch reißende Stürme gepeitschtes Meer, das tief bis ins Landesinnere vordringt und Menschen, Felder, Wirtschaften und Behausungen wegschwemmt.

In der longue duree, also einem Zeitraum von 2.000-3.000 Jahren gesehen, ist der richtige Umgang mit dem Wasser, wesentlich für das Überleben der Deltabewohner. Auch in der lokalen Folklore kann man sehen, wie zentral das Wasser der Himalayaabflüsse für die Menschen im Delta ist. In den baor Liedern, den Bootsliedern der Fischer und Flussfahrer, in den Mythen und religiösen Geschichten, in der Personifizierung von Flüssen und Nebenarmen, die sich lieben, sich miteinander vereinen oder wieder entzweien ist das Wasser Motiv, Akteur oder Grundlage der Erzählung.

Über den langen Zeitraum von 2-3.000 Jahren können mit dem Wasser viele Wanderungsbewegungen von Menschen und Kulturen nachverfolgt werden. Im Delta verschwimmen die Grenzen. So führte z.B. die langsame Verlagerung des Flussbettes des Ganges in Richtung Osten auch zur Verlagerung des zentralen Siedlungsraumes von Westbengalen nach Ostbengalen. In die gleiche Richtung wanderten dann auch die mit den jeweiligen Menschen verbundenen Religionen, der Hinduismus oder später der Islam. Diese Bewegungen führten zu Vermischungen der beiden großen Religionen, hinzu kamen kleinere lokale Kulte. Viele der Heiligen werden heute als Helden in den beiden großen Religionen des Deltas verehrt und viele religiöse Mythen sind Teil der hinduistischen wie auch der islamischen Folklore.

Da alle Flüsse des Deltas vorher indisches Territorium durchqueren, hält neuerdings ein bestimmtes Thema die Menschen des Deltas fest im Griff. Es ist der Staudammbau auf der indischen Seite, der nicht nur der Energiegewinnung dient, sondern auch noch eine Reihe von Neuland- und Wüstenbegrünungsprojekte ermöglichen soll. Projektiert wurde der Staudamm schon in den 1950er Jahren. Ein Ziel war die Flutprävention im Delta. Die Folgen des Projektes sind jedoch negativ für die Deltabewohner. Einerseits halten die Dämme die Lössbestandteile des Wassers in den Stauseen fest. Dies führt zur Versandung der fruchtbaren Deltafelder. Andererseits kommt es durch das Abführen des Flußwassers für die Neulandgewinnung in Indien (Bihar) zu einem Wassermangel im Delta, der wiederum zum Verlanden der Kanäle führt, den bisher wichtigsten Verkehrswegen dort.

Diese veränderten Bedingungen im Delta fand ich vor, als ich mich auf die Suche nach den bede machte, einer indigenen Bootszigeunergruppe, die sich traditionell der ambulanten Heilung, Reparatur von Haushaltsgegenständen und dem Auffinden verlorener Wertsachen in Teichen widmet. Doch waren die bede nur ein Teil der mobilen Gruppen im Delta. Hier leben ebenso mobile Fischerfamilien (boira), deren Lebensmittelpunkt das Boot ist, Honigsammler, die Sammelexpeditionen in die Mangrovenwälder unternehmen, Sammler von Schilf (bowali) und anderem Flechtmaterial, die den Grundstoff der Matten aus den Deltawäldern in die Werkstätten der Schilfmattenflechter bringen, oder mobile Schweinezüchter (kowra), die in zyklischen Abständen die Deltadörfer besuchen und Schweine verkaufen. Diese alle haben ihre Mobilitätsmuster und verändern diese nach den aktuellen Begebenheiten. Mit zwei dieser Gruppen, den bede und boira, hatte ich engeren Kontakt, machte mit ihnen Interviews zu ihrer aktuellen Lebenssituation und konnte mit der Methode der oral history lebensgeschichtliche Gespräche führen.

Boira, Fischer im Delta

Die Fischer im Delta sind in kleine Familienverbände organisiert. Hier leben sie zusammen auf zwei oder drei Booten am Rand der Kanäle, mieten sich zuweilen eine Hütte am Wasserrand und verkaufen auf den lokalen Märkten ihren Fisch. Mein Gesprächspartner, ein etwa 50jähriger boira aus Borishal erzählte mir, dass das Fischaufkommen in den letzten Jahren drastisch gesunken sei. Es gibt viel weniger in den Netzen zu fangen als noch vor einem Jahrzehnt. Ob die grassierende Umweltverschmutzung der Flüsse durch die Industrien am Flußrand und das zunehmend salzige Wasser der Meere dafür verantwortlich sei, wußte er nicht. Er konnte aber die Folgen in den eigenen Netzen spüren.
Sind die Fanggebiete der boira nicht mehr ausreichend ertragreich, ziehen die Familien in eine andere Gegend, immer entlang der Flüsse und Kanäle des Deltas. Wie sie ihre Plätze aussuchen, ist Angelegenheit der jeweiligen Familie und ihrer Entscheidungsträger. Vom Vater oder Großvater übernehmen sie die Fischereireviere nicht. Sie suchen sich ihre eigenen aus.

Ein Fischer im Buriganga Nebenarm in Jalokathi

Ein Fischer im Buriganga Nebenarm in Jalokathi

 

Boira sind auch überfamiliär organisiert, haben z.B. die Institution eines Familienoberhauptes (chowdur), bzw. Familienältesten, der als Ratgeber und Streitschlichter fungiert. Ich hatte Glück in meinem Gesprächspartner ein solches Familienoberhaupt vorzufinden, das in etwa die Funktionen eines chowdur ausführt. Das eigentliche und letzte formell gewählte Familienoberhaupt, Shifiqulbasha, wurde 1971 getötet, als die pakistanische Armee gegen die bengalischen Separatisten im Unabhängigkeitskampf von Flugzeugen aus wahllos in die Deltakanäle schossen. Die pakistanischen Streitkräfte verliessen am Ende des Jahres 1971 das Land. Die boira Familie hat seit dem kein Oberhaupt mehr. Manchmal jedoch kommen andere boira  zu ihm, um sich einen Rat zu holen. Manchmal fährt er selbst zu seinen Brüdern… So funktionieren zwar die Familienstrukturen noch, aber einen neuen Führer haben sie sich seit dem Tod ihres letzten nicht mehr bestimmt.

boira haben einen Schutzheiligen, dessen Heiligtum sich im Osten des Deltas befindet. Hier pilgern sie hin, um sich Beistand für Familienzusammenschlüsse zu holen oder um mehr Ertrag zu bitten. Als pragmatisch veranlagter Mensch glaubte mein Gesprächspartner nicht an die Kraft dieses Heiligen, wusste aber, dass viele boira dorthin pilgern. Die Gruppen haben also interne  Kommunikationsnetzwerke, die große Teile des Deltas überspannen, ebenso können sie auf eine Infrastruktur zurückgreifen, die traditionelle Fischfanggebiete mit heiligen Orten oder Revieren anderer durch Familienbande verbundene boira Familien verbinden. Diese Infrastrukturen haben auch eine Funktion im eigenen Broterwerb, ermöglichen Geselligkeit zu Familienfeierlichkeiten und das Finden von geeigneten Heiratspartnern für die Söhne und Töchter der Familien.

Die Familie ist auch die Grundlage, mit der sie auf die sich veränderten Umweltbedingungen reagieren. „Wenn die Flut kommt, setzen wir uns in unsere Boote und dann trägt sie uns hoch, oder wir weichen in die Nebenarme des Buriganga aus (einem wichtigen Flussarm im Delta, an dem ihre angestammten Fischereireviere liegen.)“, erzählte unser Gesprächspartner. Das ist Teil des traditionellen Verhaltens der Bootsgruppen bei Flutkatastrophen.

Die boira heiraten nur unter sich, geben ihre Töchter in die Familien anderer boira, die sie auf Hochzeiten oder anderen Festen ihrer Verwandten treffen. Ein Faktor ihres Gruppenzusammenhalts ist einerseits ihre gruppeninterne Mobilität, eine Lebensweise, die ausschließlich ihre Gruppenmitglieder teilen. Ein zweiter wichtiger Faktor ist die Prekarität, die ihre Lebensweise kennzeichnet. Ihr Besitz und damit ihr zählbarer Reichtum ist minimal, ihre prekäre Lebensweise keine wirtschaftliche Grundlage, sich mit anderen Mitgliedern der Umgebungsbevölkerung verwandtschaftlich zu verbinden. Prekarität führt weiterhin zu einer gruppeninternen Solidarität, ein wichtiger gruppenbildender Faktor. Ein dritter Faktor, der den Gruppenzusammenhalt der boira auf Familienbasis begünstigt, ist ihr täglicher Broterwerb, der hauptsächlich auf dem Boot weit weg von der Umgebungsgesellschaft stattfindet. Der Kommunikationsraum der boira mit der Umgebungsgesellschaft ist vor allem der Markt, wo sie ihren Fisch verkaufen. Einen anderen Raum teilen sie kaum mit der Umgebungsbevölkerung.

 

Boria_unterwegs

Ein Fischerboot der boira auf dem Buriganga bei Nalciti

 

Die bede, Bootszigeuner im Delta

Auch die bede, Bootszigeuner im Delta haben ihr Leben auf der Grundlage des Wassers eingerichtet. Eigentlich, so geht der Herkunftsmythos, sind bede Beduinen, die mit Muhammad in den Osten zogen und bei der Islamisierung Bengalens eine wichtige Rolle spielten, und in der Gangesregion blieben. Heute leben sie als mobile Heiler, Reparateure, Zulieferer der Weberwerkstätten und Sucher in Zisternen verlorenen Schmucks im Delta. Einige von ihnen haben wie Babur Ali ihre Boote aufgegeben und ziehen jetzt mit Zelten und öffentlichen Bussen durch das Delta. Babur Ali weilte zur Zeit meiner Feldforschung in der gleichen Stadt wie ich, eine seiner Töchter war drauf und dran ein Kind zu gebären, daher dauerte sein Aufenthalt eine geraume Weile. Ich war einige Tage Gast in seinem Camp und konnte eine Reihe von Gesprächen mit den Campbewohnern führen. Andere bede, wie Shumon haben sich Land gekauft und wohnen jetzt mit ihren Familien in Häusern, die ihren Booten ähnlich sehen. Shumon war Sohn des lokalen Führers (chowdur) der malbede in Jalokathi, meiner Feldforschungsstation, und mein Hauptansprechpartner unter den malbede bei meiner Feldforschung. Wiederum andere, wie Shopun Taloqdir, leben mit ihren Familien auf Booten und bereisen das Delta, dort wo die Kanäle noch schiffbar sind. Shopun Taloqdir habe ich am Rande eines Kanales in Jalokathi getroffen. Er hatte per Handy von Familienmitgliedern in Jalokathi bescheid bekommen, dass ich ihn suchen würde und hielt für mich einen Tag die Boote an, um mit mir zusammen zu treffen. Die Familien, denen Shapun Taloqdir vorsteht, haben Winterquartiere, die sie 2 Monate im Jahr bewohnen. Den Rest des Jahres sind sie in ihren Booten im Delta unterwegs, vertreiben Schlangen, verkaufen Medizin und spielen Theater für die Dorfbevölkerung. Allein diese drei Gruppen zeigen, in wie unterschiedlicher Weise Gruppen auf die aktuellen Umweltveränderungen im Delta reagieren können.

Babur Ali

Babur Ali ist etwa 60 Jahre alt und Führer einer Gruppe, die mit 11 Zelten, und damit 11 Familien gemeinsam umherziehen. Die Gruppe ist eine große Familie, er, seine zwei Brüder, seine Schwester und deren Kinder und Kindeskinder waren Mitglieder der aktuellen Zeltgruppe und reisen gemeinsam durch das Land. Die Frauen gehen zu Fuß in Paaren oder allein durch die Dörfer, haben einen Sack auf dem Rücken mit Arzneimitteln und bieten Heilmethoden, vor allem dem Schröpfen, und Heilmittel an. Die meisten von ihnen wirken als Amulette, werden in Kapseln gesteckt, die an Oberarmen oder um den Hals gebunden werden.

Wohnzelt der Bede, die Plane ist aus Plastik, es hat ein Linoleumfußboden und ein Bambugestänge

Wohnzelt der Bede, die Plane ist aus Plastik, es hat ein Linoleumfußboden und ein Bambusgestänge

Ihr wichtigstes Arbeitsmittel ist ein Trichter aus Horn, das shinge, mit dem durch den Mund ein Unterdruck erzeugt werden kann. Mit dem shinge werden die meisten Krankheiten behandelt. Dazu kommen Krokodilsgallenflüssigkeit, Hirschfell, Wurzeln, die zum Teil aus Afrika erhandelt wurden, Bambuswurzeln, die man auf Friedhöfen sammelt und vieles mehr. Die Frauen, die sich auf Heilkunst verstehen, nehmen auf ihre Touren auch ihre Töchter mit. Diese werden durch Zuschauen und Beobachten schon früh an die Heilkunst und ebenso in die Kunst der therapeutischen Rede herangeführt. Die Säcke mit ihren Heilmitteln werden von Generation zu Generation weitergegeben und viele Mittel der Heilkunst sind Zeuge einer generationen- und regionenübergreifenden Tradition.

Einerseits wird in der Familie das Wissen von Generation zu Generation weitergegeben, andererseits erlernen sie neue Fähigkeiten bei Lehrern – sie nennen sie Gurus – die in Ashrams Heilkunst lehren. Diese besuchen sie für viele Jahre. Die Frau von Babur Ali war z.B. 8 Jahre in Nordindien, in einem Schrein, der der indischen Göttin Kamakhya gewidmet ist, und der für seine tantrische und seine magisch-praktische Heiltradition bekannt ist. Eine wichtige Rolle spielen hier Trommeln, Besessenheitskulte und Gebete (mantra), die von den bede Heilerinnen über Jahre erlernt und im Heilprozess zu Hause dann eingesetzt werden.

Zum Ashram reisen die Frauen mit ihren Familien. Während sich die Frau von Babur Ali in der Heilkunst unterweisen ließ, ging Babur Ali Schlangen in den Wäldern um den Schrein jagen, konnte einige von ihnen verkaufen und so auch ein wenig Geld machen.

Die Beschäftigung mit Schlangenjagd und Verkauf ist eine der wichtigsten Einkommensquellen der bede-Gruppe um Babur Ali. Die meisten Amulette, die sie verkaufen, sind Amulette gegen Schlangen. Die Frauen heilen Schlangenbisse oder deren Folgen, die Männer führen mit abgerichteten Schlangen Tänze auf und verdienen ihr Geld mit diesen Snake Shows. Früher, als der Grenzübertritt nach Indien noch einfacher war, unternahmen sie mit ihren Snake Shows lange Reisen entlang der Ostindischen Küste bis runter nach Tamilnadu und konnten hier gutes Geld verdienen. In Bangladesh sind diese Snake Shows eine nicht besonders lukrative Einkommensquelle. Hier sind es vor allem Kinder, die mit Schlangen in Holzkisten auf den Markt gehen und diese in Minishows vorführen und dabei Geld sammeln.

Bede_Zelt

Die Familie der Tochter Babur Alis und ihr in der Nacht geborenes Kind im schwarzen Tuch

 

Die Schlangen sind für die bede Gruppe von so zentraler Bedeutung, weil sie auch bei der Deltabevölkerung eine ungemein wichtige Rolle spielen. Sie werden verabscheut, man fürchtet sich vor ihnen und man betet sie an. Muslime wie Hindus haben ihre Helden, die Schlangen überlisteten, denen durch Schlangen geholfen wurde, und in denen Schlangen angebetet werden. Vor einigen Hindutempeln werden sie mit Milch geehrt, es gibt unzählige Sagen bei Muslimen und Hindus über Schlangen und deren Bezwinger, auf Parteiveranstaltungen geht man mit Snake Shows auf Wählerfang und jeder hat eine Nummer parat, die man rufen muss, um die Kammerjäger zu rufen, die Schlangen aus den Häusern entfernen.

Heute hat sich der Reiseradius der bede Gruppe um Babur Ali stark verkleinert. Über die Bangladesisch Indische Grenze zu kommen ist zu teuer geworden. Das, was man in Indien mit Snake Shows verdienen kann, lohnt die Überfahrt heute nicht. Wegen der Vesandung der Flüsse haben sie ihre Boote, die sie früher im Delta benutzten, längst verheizt. Nun nutzen sie die Busse, die durch die grossen Brückenprojekte im Delta Orte miteinander verbinden. Die Gegenden, die sie früher selten besuchten, wie die nördöstlichen und bergigen Regionen von Shylhet, fahren sie heute vermehrt an.

Aber nicht nur der Bewegungsradius und die Transportmittel haben sich für Babur Alis Familie geändert, auch die Altersstruktur der mitfahrenden Mitglieder ist heute eine andere als in den 1990er Jahren. Seit dieser Zeit konnten Nichtregierungsorganisationen (NGO) und staatliche Institutionen recht erfolgreich unter den bede Programmen bessere Bildung durchführen. Das führte zu vermehrten Ankäufen von Siedlungsflächen durch die bede. Seitdem schicken viele der bede ihre Kinder in eine Schule. Die schulpflichtigen Kinder werden dann von denjenigen beaufsichtigt, die nicht mehr unterwegs sein können, den Ältesten der Familien. Diese bleiben in den Dörfern, in denen sich die bede Flächen zum Siedlungsbau kauften. Alle nicht-schulpflichtigen und mobilen Personen der Familie Babur Alis jedoch sind 10 Monate des Jahres in Zelten aus Plastikplanen und Bambusgestänge unterwegs.

Shumon

Shumon, der Sohn des Chowdur, wohnt in einem Haus, das der Vater, Rahim chowdur, vor wenigen Jahren bauen ließ. Dieses Haus ist groß, hat mehrere Zimmer, geräumig auch für Gäste und wird einmal, nach dem Tod des Vaters und der Übernahme des Amtes, das Zentrum der großen mal bede Gruppe, die sein Vater jetzt anführt sein. Diese umfasst ein Viertel der gesamten mal bede Gruppen im Delta. Grundsätzlich kann man sagen, dass alle bede Gruppen im Delta in vier Gruppen und das Delta in vier Reviere geteilt sind. Es gibt dabei zwei nördliche und zwei südliche Reviere, die jeweils einem bede Führer unterstehen. Eine der zwei südlichen Gruppen führt also Shumons Vater, Rahim chowdur, an.

Bede_Haus

Bede Haus der etwas ärmeren Familien. Sie sind aber immer noch wohlhabender als die Bootsbede

 

Die Fläche, die die Familien um Shumons Vater für einen Siedlungsbau gekauft haben, liegen unweit eines Kanales in Jhalokati. Hier haben sie zwei Typen von Häusern gebaut. Die Chowdurfamilie, d.h. Rahim chowdur und seine Brüder haben geräumige Einfamilienhäuser. Die anderen Mitglieder der Gruppe haben Häuser auf Stelzen, die sehr an die Form eines bede Bootes erinnern. Zu Zeiten der durchaus häufigen Überschwemmungen der Fläche, die sich Shumons Familie gekauft hat, offenbart diese Hausform ihre Funktion.

Wohnhäuser wie Wohnboote. Wegen der Regenfälle und der Lage des Wohnortes stehen die meisten Häuser auf Pfählen

Die Seßhaftigkeit der Familie des Gruppenführers entstand aufgrund der Bildungsanstrengungen der Gruppe. Die Führerfamilie schickt ihre Kinder dabei nicht nur in eine Grundausbildung, sondern läßt sie das ganze Spektrum auskosten: Grund-, Mittel- und Hochschulausbildung. Einige der Großen können schon Englisch Sprechen, so auch der älteste Sohn von Shumon.

Nur wenige Meter trennen die Siedlung und den Fluß. Am Flußufer ankern eine ganze Reihe von Booten, die Mitgliedern von mal bede Familien gehören, die auf den Flüssen mobil sind. Diese kommen zum Führer der Gruppe, ankern hier ein paar Tage, um sich Rat von Shumons Vater zu holen.

Die wichtigste und zentrale Aufgaben der Gruppenführer ist die Festlegung der Routen, die die einzelnen Bootsverbände befahren sollen. Diese sind so abgestimmt, dass sich die verschiedenen Gruppen in einem Revier nicht in die Quere kommen, nicht Gebiete befahren, die andere vorher schon bewirtschaftet haben usw.. Manchmal jedoch sind diese Routen nicht mehr befahrbar. Mal machen neu und zu eng gebaute Schleusen eine Weiterfahrt unmöglich, mal ist ein Kanal zu sehr versandet und daher nicht mehr genug Wasser unter dem Kiel. Dann braucht man Rat. Ein kurzer Rat kann per Mobiltelefon eingeholt werden. Eine so komplexe Sache wie eine Route für ein halbes Jahr oder mehr bedarf jedoch ein paar längerer Absprachen. Der Führer der mal bede ist damit kein Führer über eine Gruppe, sondern ein Vermittler von Territorium. Die Fähigkeiten des chowdur sind also vor allem geographischer Art. Shumon erklärte das mir anhand eines Liedes. Jeder bede muss sein aktuelles Territorium kennen, wie die Strophe eines Liedes. Die Orte in diesem Territorium kann er sonst gar nicht ansteuern, d.h. für sich nutzen. Der chowdur nun muss nicht nur eine Strophe des Liedes kennen, sondern alle, das gesamte Lied. Das muss er nicht nur einmal als Teil einer Prüfung kennen, sondern immer und immer die aktuelle Variante davon. Ansonsten muss er Ordnung in seiner eigenen Gruppe halten. Wie jeder andere Führer einer bede Gruppe für die Ordnung in seiner eigenen Truppe verantwortlich ist. Kommt es dann einmal zu Streitigkeiten zwischen zwei Gruppen, die diese nicht miteinander lösen können, dann ist Rahim chowdur gefragt. Aber das komme sehr selten vor.

Die Gruppe um Shumon besitzt keine Boote mehr. Sie gab sie weiter an ärmere Mitglieder der Gruppe.

Shopun Taloqdir

Shopun Taloqdir fährt in solch einem Boot. Er kam von einem Treffen mit dem chowdur, um eine neue Route auszuhandeln und nahm uns ein paar Stunden auf seinen Booten auf. Er und seine Brüder reisten gerade in einem Zugverband von 7 Booten zu ihren Winterquartieren. Die Frauen heilen als mobile Heilerinnen, die Männer verkaufen Amulette und vertreiben Schlangen. Um auf sich aufmerksam zu machen, gehen sie zu den verstreut liegenden Deltasiedlungen und stimmen vor den Häusern der Bauern Lieder an und machen kleine Minishows. In diesen Shows besingen sie beispielsweise das Geschick einer unsterblichen Liebe, die die grausame Schlangengötting Manascha zerstören wollte: Sie erzählen von der Liebe der Behula, die den bereits verstorbenen Leichnam des Lokindor wieder zum Leben erwecken ließ.

Shumpon in seinem Boot, in der Mitte derKajüte wird gegessen, am Ende ist Schlafplatz für 6 Leute.

Shumpon in seinem Boot, in der Mitte derKajüte wird gegessen, am Ende ist Schlafplatz für 6 Leute.

Dazu machen sie eine kleine Schlangenshow. Oder sie erzählen die Geschichte des Gadschi Kalu, des unerschrockenen Kämpfers, Hautwandlers und Schlangenfängers, oder die von Abdil Ali Garuli, der ein Tabu brach und deshalb von der Drachenschlange Padma kalna entführt wurde. Die treue Frau Nivaron khonda jedoch konnte ihn durch einen Zauber befreien. Sie erzählen diese Geschichten als Zeugnis, dass sie einerseits Ehrfurcht vor den Schlangen haben, andererseits aber auch Macht über diese haben. Durch die kleinen Anspiele, Gesänge, Schlangenbeschwörung und andere Gaukeleien ziehen sie die Aufmerksamkeit der Deltabewohner auf sich und können ihnen dadurch auch das eine oder andere Amulett verkaufen.

Bede_boot

Ein Bede Boot, von außen scheint es dreigeteilt, tatsächlich ist es in fünf Teile gegliedert

Auf den Booten wohnt jeweils eine Familie. Die Wohnboote (nau) kann man in fünf Bereiche teilen. Jeweils einen Eingangsbereich (jhap) vorne und hinten, wobei der hintere Bereich am Bug des Schiffes zum Kochen genutzt wird. Im Hausbereich des Bootes gibt es einen Küchenbereich, mit dem Geschirr, den Kochutensilien der Familie in der Mitte in Regalen, im Schlafbereich hinten lagern die Kleider in Kisten (tolior khol) und einen Eingangsbereich vorne. In den Schlafbereich passen bequem 5 – 6 Leute. Das entspricht auch meist der Familienstruktur der Gruppe. Somit entspricht die Familienstruktur der Bootsgruppen denen der Zeltgruppen bei Babur Ali. Zu diesen Wohnbooten gibt es jeweils auch ein kleines Beiboot (bosha), das für zwei, drei Personen geeignet ist. Mit diesen kann man fischen, Perlen suchen, kleine Fahrten etwa zu regionalen Märkten unternehmen, es zur Flussüberquerung nutzen oder einfach ein paar Meter weiter fahren, um auf Toilette zu gehen.

Während die kleinen Boote mit einem Stechpaddel (baitha) bewegt werden, nutzt man in den Wohnbooten die Ruder zur Fortbewegung oder Bambusstangen (logi) als Staken. Diese sind deshalb recht behäbig unterwegs und schaffen an einem Tag nicht mehr als 7-10 Kilometer.

Bede_Boot

Am Bootsende wird gekocht,die Kleinen baden fast alle Zeit während die Großen von Dorf zu Dorf ziehen und ihre Dienste anbieten

Das Geschirr wird vor dem Benutzen gewaschen und die Asche des Brennstoffes für die letzte Malzeit als Waschmittel genutzt. Küchenabfälle werden an Enten gefüttert, die man sich auf den Dächern der Boote hält.

Die Staken werden auch als Bootsanlegestangen genutzt, um die Boote am Ufer zu halten und um gemeinsame Bootsverbünde zu bilden. Eine Flotte einer Gruppe nennen die bede bohor. Dieser bohor ist auch die Grundlage aller ökonomischen Unternehmungen.

Wie die boira, sind die bede auf ihren Booten vor den Fluten und Stürmen im Delta weitgehend gefeit. Die häufigste Todesursache ist dabei das aus dem Boot Fallen von kleinen Kindern, die noch nicht schwimmen können. Bei Stürmen versuchen die Boots-bede in die kleinen Kanäle zu kommen, in denen sich die Wasserbewegungen in Grenzen halten. Schaffen sie es nicht in ruhiges Fahrwasser droht im schlimmsten Fall ein Kentern der Boote, was jedoch sehr selten vorkommt. Auch hier können aber Familienmitglieder über Bord gehen, das bei unruhiger See auch zum Tod führen kann.

Schluss

Ich fragte einmal Babur Ali, nach der Einschätzung der Entwicklungen der letzten 20 Jahre:

O.G. Vergleichen Sie die Situation, was war damals besser was heute?

Im Boot war es gut. Die ganze Familie war damals zusammen. Auch das Leben im Boot ist gesünder. Wir schliefen gemeinsam auf den Booten, kochten hier und gingen an Land, um zu arbeiten. Hier im Delta ist es auf den Flüssen gesünder. Wir hatten keine Motoren für die Boote. Damals gab es eigentlich keine Probleme. Nun jedoch ist die Bildung wichtiger als alles andere.

O.G.: In den Flüssen sind doch jetzt viele Gifte, die krank machen!

Nein, dieses Wasser haben wir ja doch nicht genutzt! Wir sind immer zu den Handpumpen gegangen und haben das Grundwasser genommen. Die Pumpen standen auf den Basaren oder in der Stadt. Manchmal haben wir es auch von den Familien in den Dörfern geholt. Nun holen wir das Wasser vom Dorfvorsteher. Wir sind zwar arm, aber kennen uns mit der Gesundheit aus. Wir wissen, was zu tun ist.

So bedeutet heute der Ausstieg aus dem Boot, der Kauf von Land und das Verschicken der Kinder in eine Schule gesellschaftlich gesehen einen Aufstieg. Für den internen Zusammenhalt und das Fortführen eigener sozialer und ökonomischer Gewohnheiten ist es jedoch eine weitere Herausforderung, die es zu meistern gilt.

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