Eine Schule im Jaghnobtal

(Beitrag von Thomas Loy)

Mahmad Murod Safarov trinkt seinen Tee aus. Er spricht ein kurzes Gebet und streicht mit seinen Händen übers Gesicht und erhebt sich. Die übrigen Männer falten das Tuch, auf dem soeben noch Brot und Tee serviert wurden, zusammen und folgen dem achtundsechzigjährigen Sprengmeister zu jenem Felsen, der die Arbeiten an der Straße ins Jaghnob-Tal behindert. Seit über zehn Jahren bauen sie daran. Acht Männer und ein Bulldozer, der aus Zeiten stammt, als das unabhängige Tadschikistan noch nicht im Bruderkrieg um Macht und Geld versunken war. 24 Kilometer sind geschafft. Bis zum ersten Dorf, Tagi-Tschanor, sind es noch vier.

Nach wenigen Minuten explodiert der Felsvorsprung und eine Staubwolke zieht durch das an dieser Stelle recht enge Tal. Seit gut zwei Jahren nun sind die ersten Dörfer im Jaghnobtal erstmals über eine Straße erreichbar. An den kargen Existenzbedingungen und der Armut seiner Bewohner hat sich aber bisher kaum etwas geändert.

[mygal=jaghnob]

Ein Hauptanliegen der Menschen, denen ich bei meinen Besuchen im Jaghnobtal begegnete, war die Sorge um die mangelnde Schulbildung ihrer Söhne und Töchter. Viele Kinder und Jugendliche im Tal könnten nicht einmal ihren Namen schreiben. Für die illegalen Rückkehrer war nach der Zwangsumsiedlung der gesamten Bevölkerung des Tals im Jahr 1970 und 1971 kein Schulbesuch mehr möglich. Nur hin und wieder seien Lehrer oder Studenten, Verwandte der Talbewohner, in den langen Wintermonaten freiwillig von Dorf zu Dorf unterwegs, um den Kindern zumindest das elementarste Wissen zu vermitteln. Im Sommer bleibt wegen der anfallenden landwirtschaftlichen Arbeiten dazu kaum die Zeit. Auch hieran änderten 15 Jahre Unabhängigkeit nichts.

Nun tut sich etwas im Tal. Vertreter einer belgischen NGO stießen bei ihren Recherchen in Duschanbe auf den Jaghnobi Sajfiddin Mirzozoda. Das PULLAK PROJECT wurde ins Leben gerufen. Mirzozoda, ein Sprachwissenschaftler der tadschikischen Akademie der Wissenschaften, kümmert sich seit Jahren auch um die politischen und sozialen Belange seiner Landsleute. In Tadschikistan stößt er dabei jedoch meist auf taube Ohren. Für den Bau und den Unterhalt einer Schule mit angegliederter Unterbringungsmöglichkeit für 60 Schüler, seien nicht einmal 10.000 Euro vonnöten. Dieses Geld war aber bisher für die Jaghnobi nicht aufzutreiben. Nicht zuletzt wohl deshalb, weil niemand bei den zahlreich in Duschanbe vertretenen internationalen Hilfsorganisationen als Bittsteller auftreten wollte.

Obwohl das Jaghnobtal entlang des gleichnamigen Flusses nur etwa 70 km nördlich der tadschikischen Hauptstadt liegt, wissen die wenigsten in Duschanbe von seiner Existenz, geschweige denn von der mit ihm und seinen Bewohnern verbundenen Geschichte. Heute leben dort wieder 70 Familien mit knapp 500 Personen. Im Februar 1970 waren es noch über 3000 Menschen die im Tal lebten und arbeiteten. Dann entschied die zuständige Bezirksverwaltung in Ajni dem immer stärker werdenden Forderungen des Zentrums nach Erhöhung der Umsiedlerzahlen und der Baumwollproduktion Folge zu leisten. Ihre Wahl fiel dabei auf die Dörfer des abgelegenen Jaghnobtals, die kaum in der lokalen Administration vertreten waren und auch sonst keine staatliche Rückendeckung genossen. Während in anderen Bergregionen Tadschikistans Behörden und Betriebe zur gleichen Zeit durchaus erfolgreich gegen weitere Zwangsumsiedlungen aus ihren Bezirken protestierten, fand der Widerstand der Jaghnobi gegen die, nachträglich als Evakuierungsmaßnahme deklarierte Umsiedlung, keine Beachtung. Erst ab 1989 wurde in der Sowjetrepublik Tadschikistan die seit den späten 1920er Jahren praktizierte Politik der innertadschikischen Zwangsumsiedlungen öffentlich diskutiert und kritisiert. (TRANS Nr 16.)

Im Sommer 1971 war das Tal menschenleer und wurde in der Folge als Weideland für die Kolchosenherden aus Ajni genutzt. Die Umsiedler wurden zu Baumwollarbeitern im nördlich gelegenen Neulandgebiet Zafarobod umerzogen. Im ersten Jahr der Zwangsumsiedlung kam etwa ein Achtel der Umsiedler, durch die für sie ungewohnt hohen Temperaturen und durch und das mit Landwirtschaftschemikalien verunreinigte Wasser ums Leben. Vor allem Frauen und Kinder waren die Opfer. Bis heute klagen viele der mittlerweile 7000 Jaghnobi in Zafarobod über gesundheitliche Probleme, die vor allem mit den schädlichen Folgen der Baumwollwirtschaft zusammenhängen.

jaghnob-pass.JPGDerweil zeichnete die sowjetische Presse das Bild der glücklichen Jaghnobi, die das Dunkel der Berge hinter sich gelassen hatten, um ihren Beitrag am Fortschritt und Wohlstand ihrer Sowjet- tadschikischen Heimat zu leisten und die Steppenregionen in ein leuchtendes Meer aus weißem Gold zu verwandeln. Einigen couragierten und weniger zufriedenen Familien gelang Mitte der 1970er Jahre die heimliche Rückkehr. Obwohl (oder gerade weil) sie de facto autonom im Tal lebten und keine staatlichen Leistungen in Anspruch nahmen, blieben sie den Behörden ein Dorn im Auge. 1978 wurden sie mit Ausnahme der Bewohner des Dorfes Kirijonte am oberen Ende des Tals zum zweiten Mal umgesiedelt. In den Folgejahren flüchteten viele dieser Familien erneut aus den ihnen zugewiesenen Baumwollanbaugebieten, um ihr Leben wieder in den Bergen zu bestreiten. (Leseprobe, zum Verlag),

Nun soll ab nächstem Jahr erstmals seit fast 40 Jahren der Schulbetrieb im Jaghnobtal wieder aufgenommen werden.

(Thomas Loy ist Mitarbeiter im Zentralasienseminar der HU Berlin, schrieb seine Magisterarbeit über die Zwangsumsiedlungen der Jaghnobi während der Sowjetzeit und promoviert derzeit zum Thema Bucharische Juden — Erinnerungen an die Sowjetunion)

Update 1: Zum Thema in russischer Sprache siehe auch ferghana.ru.

4 Thoughts on “Eine Schule im Jaghnobtal

  1. Pingback: Erster deutschsprachiger Reiseführer für Tadschikistan | tethys. Central Asia Everyday

  2. Pingback: Readers Edition » Windreiter: Blogging Zentralasien

  3. Pingback: Windreiter: Blogging Zentralasien | Tethys. Central Asia Everyday

  4. Pingback: Readers Edition » Eine Schule im Jaghnobtal

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

Post Navigation