(Beitrag von Olim devona)
Sotib aka sollte uns bei unserem Aufenthalt in Khodjand eine seiner Wohnungen zur Verfügung stellen. So war es abgemacht. Doch es stellte sich heraus, dass alle Wohnungen, die er verwaltete, belegt waren. So rief er seinen Freund Ravshan an und forderte eine seiner Wohnungen an. Ravshan kam auch gleich mit dem für Leute seiner Klasse obligatorischen deutschen Mercedes Benz angebraust. Als er unser gewahr wurde, sahen wir Zweifel in seinem Gesicht. “2 junge Menschen mit langen Haaren und vier Kindern in meine gerade neu renovierte Wohnung?” stand da in etwa geschrieben. Wir gingen in den zweiten Stock. Ravshan öffnete die Wohnungstür und fragte noch einmal ängstlich nach, ob sich Sotib aka auch wirklich für den Zustand der Wohnung verbürgen könne? “Na, klar!”, schallte Sotibs Antwort, “die Deutschen sind doch ein kulturvolles Volk!”.
“Kulturnij” nannte er das und dieses kulturnij hatte ich zuvor schon tausendfach gehört – für die meisten war es ein geläufiges Wort, dass ausdrückt, man wisse sich zu benehmen und was sich gehört, richte keinen Schaden an und täte niemandem etwas zuleide. Im Deutschen würden wir wohl heute sagen “zivilisiert”. Schon der Umstand, dass das Wort im Tadschikischen wie im Uzbekischen als russisches Lehnwort daherkommt, gibt einen Hinweis darauf, dass das Verständnis von Kultur in Zentralasien seine Wurzeln in der Russifizierung, Kolonisierung und vor allem Sowjetisierung der Region hat.
Zwar war schon im russischen Kolonialismus, der sich ab 1862 weite Teile Mittelasiens hörig oder gefügig gemacht hatte, eine ordentliche Portion Zivilisationsmission enthalten, doch in den frühen Jahren der Sowjetunion bekam diese Mission eine neue Qualität. Nach Revolution und Bürgerkrieg und den immensen Gewaltausbrüchen zwischen 1918 und 1921 hasteten viele junge Menschen in Mittelasien gerade in den Städten von einem Selbstversuch zur Erlangung von Kultur in den nächsten. Die Kulturrevolution nahm von den jungen Gemütern Besitz und machte viele städtische Jugendliche zu Vorkämpfern für das “Neue Leben”. Alles war neu in diesen Jahren: die Literatur, die Kunst, das Theater, das Dorf, die Landwirtschaft. In allem ging man nun “Lenins Wege”.
(Bauern der Kolchose “Lenins Weg” bei der Einfuhr gekaufter Waren vom Markt. Amateurfoto Museum Khodjand, ca. 1927)
Wie nun aber Kultur zu erreichen sei, dazu hatte der Genosse Gesundheitsminister Semaschko in Moskau schon Anfang der 1920er Jahre die richtige Formel: “Kultur ist gleich Alphabetisierung plus Hygiene”. (In unseren Breiten ist von dieser Auffassung das Wort Kulturtasche übrig geblieben.) Also schickte man die Menschen in Alphabetisierungskurse und verabreichte ihnen durch Wanderkinos anschaulichen Hygieneunterricht. So einfach konnte Zivilisationsmission im Arbeiter- und Bauernstaat sein.
Letztlich hätten die Bemühungen um Kultur seit den 30er Jahren als fragwürdig erscheinen müssen, wanderten doch diejenigen, die sich in der Kulturrevolution engagierten, ins Gulag. Und die Staatsaufgabe, Kultur zu verbreiten, war auch zum Ende der Sowjetunion noch nicht überall erreicht. In den Jahren der Perestroika malte der Maler Tursunali Ahmadaliev das folgende Bild.
(“Ertaga payshanba” (“Morgen ist Donnerstag”) bzw. “Oi” (Mond), Tursunali Achmadaliev, Kokand, Uzbekistan, 1987.)
Der offizielle Name des Bildes für Ausstellungen hieß Mond (oi). Der eigentliche Titel und damit auch das Motto ist der kurze Sinnspruch “Ertaga payshanba” (Morgen ist Donnerstag). In diesem Bild thematisiert der Maler eigentlich ein anzügliches Thema. Denn zum Zwecke der Hygiene und der traditionellen familiären Gemütlichkeit am Vorabend des muslimischen freitäglichen Feiertages waschen sich die Frauen traditionell am Mittwoch Abend. Doch spricht dieses Bild auch das einfache Fehlen von fließend Wasser in den Häusern dörflicher Gegenden oder eines Bades im Dorf an. War kein Bad auf dem Hof der Bauern oder als öffentliche Einrichtung im Dorf, dann mussten die Frauen im Schein des Mondes den nahen Fluss besuchen, um sich hier im Schutz aufgehängter Kleider zu waschen. So ist dieses in der Perestroikazeit gemalte Bild auch als Anklage an die Dorfarmut zu lesen.
Heute meint “kulturnij” ein wertvolles Gut, das vor allem “wohlerzogen” und “schicklich” bedeutet, genauso wie sein mittelasiatisches Pendant “adabi”. Oft wird sein Gegenstück, das “unkulturvoll sein” auf alles Mögliche angewendet. Schlaglöcher in den Strassen, Busverspätungen, ja ganze Völker bekommen dieses Prädikat.
Als nach zwei Monaten Ravshan die Wohnung von uns abnehmen sollte, wollten wir ihn und sein Verständnis der Deutschen als zivilisiertes Volk nicht enttäuschen. Wir hatten deshalb peinlichst genau alle Bleistift- und Buntstiftstriche auf den Tapeten wieder herausradiert. Fehlende Stücke selbiger wurden von uns wieder eingesetzt. Auch die von uns zertrümmerte Klospülung reparierten wir notdürftig und gaben der Wohnung so ihren Glanz vor unserem Erstbezug zurück.
(Olim devona ist Mitwissser am Zentralasienseminar der Humboldt Universität zu Berlin.)
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