Rezension zu Christoph Ransmayr, Der Fliegende Berg. Fischer 2006.
(Beitrag von Franz Xaver Erhard)
Tibet, das Schneeland, Projektionsfläche für endlose Phantasien. Mit einer Reisegruppe bin ich unterwegs im nahezu unbekannten Kham. Irgendwo zwischen Pema und Jekundo, auf der alten Teestraße, die Südchina mit dem tibetischen Hochland verbindet, krame ich aus meinem Seesack das Buch, das meine Reiselektüre sein sollte und das ich noch am Tag meiner Abreise in einer Buchhandlung in Berlin eilig besorgt hatte: Der Fliegende Berg. Christoph Ransmayrs neuer Roman.
Ransmayers Romane sind immer irgendwie auch Reiseromane, sie führen ihre Leser in nahe oder ferne, historische oder fiktive Welten; sei es das Nachkriegsdeutschland des erfundenen Friedens von Oranienburg in Morbus Kitahara, in das Exil Ovids am Schwarzen Meer in Die Letzte Welt oder wie im neuesten Fall nach Tibet.
Zwei Brüder machen sich von einer Insel Irlands aus auf, den letzten noch unbekannten Berg dieser Welt, den Phur Ri, den Fliegenden Berg in Kham zu besteigen. Nur einer der Brüder, der schwächere, kehrt zurück nach Irland, von wo aus er die Geschichte ihrer Familie und den Tod seines Bruders erzählt. Die Geschichte vom Fliegenden Berg wird somit zum Bericht des Auseinanderfallens einer Familie und einer Reise zu sich selbst. Damit greift Ransmayr einerseits einen Tibetmythos auf, wie er seit Jahren durch die Populär- und Trivialliteratur geistert: Tibet als das mystische Shangri-La, in dem der an der westlichen Zivilisation zerbrechende Mensch Heil und Erlösung findet. Jedoch fällt Ransmayr nicht auf die plumpe Utopie herein, sondern entwickelt daraus seine spannende Erzählung, die die persönliche Geschichte der beiden Brüder mit der sozialen und politischen Realität Tibets verbindet. Nicht von ungefähr ist der Captain, der Vater der beiden Brüder, ein verbitterter Freiheitskämpfer Nordirlands, das seit Jahrhunderten unter der Herrschaft Englands steht. Diese fast zufällige Analogie des Freiheitskampfes macht auch die Situation Tibets für den Leser nachvollziehbar.
Eingebettet in die Lebensgeschichte der Brüder ist die Geschichte der Besteigung des Fliegenden Berges, ein Bergsteigerabenteuer, das vom Schwinden der Wahrnehmung, von Euphorie und vom Tod berichtet. Es sei die Geschichte des Dramas der Brüder Reinhold und Günther Messner 1970 am Nanga Parbat, geisterten die Gerüchte durch die Feuilletons.
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Ransmayrs Ausloten letzter Welten erfährt in diesem epischen Buch eine Wendung. Während bisher von Ausweg oder Hoffnung nicht die Rede sein konnte, offeriert im Fliegenden Berg das archaische Land Kham der tibetischen Nomaden den Ausweg der Liebe. Als Liam noch nach unberührten Flecken und unerklommenen Höhen strebt, hat sich sein Bruder schon längst in die nach Yak und Rauch duftenden Arme der Nomadenfrau Nyema fallen lassen und in dieser Umarmung die Befreiung aus der klaustrophoben Familiengeschichte erfahren.
Ich schlage das Buch zu und schaue aus dem Fenster des muffigen Hotels in Jekundo auf die Abfälle in der Strasse: Plastik, Exkremente, Staub und Kadaver. Es fällt mir schwer an Orten wie diesem an Befreiung und Erlösung zu glauben.
(Franz Xaver Erhard ist Tibetologe und Literaturwissenschaftler und promoviert zur neueren tibetischen Literatur. Er lebt und arbeitet zur Zeit in Lhasa, Tibet.)
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