Afghanistan: Innen und außen – ein Gespräch Teil1

Wutt_Afghanistan TitelAbseits der Hysterie und des Auf und Ab medialen Interesses an Afghanistan erschien 2010 ein Buch, das unserer Meinung nach bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit erfuhr. Karl Wutt: Afghanistan von innen und außen – Welten des Hindukusch. Zu wenig Aufmerksamkeit? Verständlich, da Karl Wutt, der sich seit den frühen 1970er Jahren intensiv mit den Gesellschaften und Kulturen Afghanistans und Pakistans beschäftigt, noch immer einen unaufgeregten und sehr genauen Blick auf den Alltag, die Dinge und die Menschen dieser Region richtet und damit die Masse der kurzatmigen politisch und militärisch motivierten journalistischen und akademischen “Berichterstattung” des letzten Jahrzehnts unterläuft und desavouiert. Die Texte und die in den letzten 40 Jahren entstandenen Fotografien und Zeichnungen Wutts führen den Leser und Betrachter ein in die Lebenswelt der Paschai und Kalascha. Gleichzeitig reflektiert Karl Wutt stets seine Rolle als Reisender, Gast und Beobachter. Der von Christian Reder herausgegebene Gegenentwurf zu den medial vermittelten und zunehmend gröber gewordenen Eindrücken von Afghanistan bietet eine erfrischende und inspirierende Lektüre, vor allem für diejenigen, die etwas von fremden Kulturen verstehen wollen oder gar mit dem Gedanken spielen selbst etwas über fremde Welten schreiben zu wollen.

Wir veröffentlichen auf tethys in zwei Teilen das dieses Buch einleitende Gespräch des Herausgebers mit dem Autor. Warum? Weil es uns beeindruckt und wir hoffen, dass es unseren Lesern Lust macht auf mehr: Afghanistan von innen und außen.

Karl Wutt im Gespräch mit Christian Reder

Karl Wutt im Gespräch mit Christian Reder

CHRISTIAN REDER Ihre nuancierten Fotos und Texte in diesem Buch machen bewusst, dass Sie mit seinem Titel Afghanistan. Von innen und außen vor allem Vielschichtigkeit meinen, subtile Qualitäten, Übergänge zwischen Fremdem und vermeintlich Bekanntem, oft Gesehenem, und, richtigerweise,
ein sehr weites Umfeld. Martialisch vergröbernde Zerrbilder werden von den gängigen Medien ohnehin genug geliefert. Warum ausgerechnet Afghanistan?

KARL WUTT Ich weiß es nicht. Vielleicht weil die Donau nach Osten fließt. Als ich erstmals nach
Afghanistan kam, hatte ich, ohne dass ich es wusste, Hans Christian Andersens ‚Galoschen des Glücks’
an den Füßen, die mich mit Zauberkraft in die Zeit eines Königs versetzten, in der es kein Straßenlicht gab.
Ich kam in die Stadt Aqtscha, die ohne Elektrizität war, saß bei Petroleumlicht in meinem Zimmer, als ich
ein langgezogenes Rufen hörte – schaurig, traurig –, dem ich auf die Spur kam, als ich hinaus ging. Es waren
die Nachtwächter, die durch den Basar patroullierten und einander zuriefen, dass sie nicht schliefen. Sie
ermahnten mich, mitten auf der Straße zu gehen, da ich keine Laterne bei mir trug. Zum Zeichen, dass ich
das Licht nicht scheute, ‚Malang’ und nicht ‚Palang’ war. Ein Derwisch und kein Leopard bei Nacht.
Ich habe ein Skizzenbuch aus diesem Jahr 1971, mit Kinderzeichnungen aus Herat. Darin gibt es einen
Derwisch mit Bettelschale (Kaschkul), einen Raubvogel mit Schlange im Schnabel. Blutende Herzen,
weinende Augen, und – weil die Zeit des Königs verging – ein ‚modernes Ziegelhaus Nummer 6′. Von mir aus
hätte ich die ‚Galoschen des Glücks’ behalten, wäre in Afghanistan alles beim Alten. Obwohl Mohammad Naim,
der 14-jährige Junge, der mir das Ziegelhaus zeichnete, gewiss anderer Ansicht war. Jedenfalls fuhr ich,
bis 1977, immer wieder nach Afghanistan. Dem folgte ein ‚Black Out’, bis ich, seit 2002, wieder drei
‚Pilgerfahrten’ dorthin unternahm. Immer in die selben paar Dörfer,wo ich gewesen war. Alles in allem war
ich vielleicht ein Jahr in Afghanistan, war anfangs bloß Beobachter, konzentrierte mich auf Situationen,
auf Einzelheiten und Augen blicke, auf Stimmen und Musik. Das Sehen kommt vor dem Verstehen.

Mit anderen Ländern war es nicht anders. Dem schrecklichen Glück des Aufbruchs folgte der glückliche Schreck der Ankunft, der Unterkunft, für die irgendeine Zementkammer genügte, die ich womöglich schon kannte. Denn ich fuhr immer in die selben Gegenden, sehe das Unscheinbare lieber als das Scheinbare, kenne nur eine Handvoll Länder. Ich bin ein Reiseliebhaber, so wie man ein Musikliebhaber ist, und dann nicht müde wird, das selbe Stück immer wieder zu hören, um die Unterschiede seiner Möglichkeiten zu erfahren. Mit fünfzehn war ich erstmals im Ausland. Ein Tagesausflug von meinem Dorf, das nicht weit von Italien und Slowenien liegt, nach Triest. Ausflug! Ich flog aus in ein Land, das ich nicht verstand. Dessen Sprache deshalb unsagbar schön war, ganz Klang. So haargenau ich etwas hörte, wußte ich doch nicht, um was es ging. Bis am Abend eine Signorina ‚buona sera’ sagte. In Udine. Dann dauerte es vierzig Jahre, bis ich wieder nach Italien kam, diesmal nach Rom, Piazza Bucarest. Rom plus Triest, macht, mit Piazza Bucarest, vier Tage. So kann es einem gehen. So vieles bleibt zu sehen.

CHRISTIAN REDER Wie jeder Fremde kommen Sie ‚von außen’. Global gesehen, so die
dominierende Einschätzung, müsste jedoch längst alles als Innensicht begriffen werden,
der Zusammenhänge wegen.  An den Problemen Afghanistans wird das nur allzu deutlich:
Kriege, Weltwirtschaft, Abhängigkeit, Drogenhandel, Islamisierung. Diesen Druck unterlaufen Sie,
indem Sie Momente spontaner Beziehungen, ob mit Personen oder Landschaften, betonen?

KARL WUTT Das Aufregende am Leben ist doch, es zu berühren, Räume zu entdecken, die einem offen stehen, und dann hineinzugehen. In Herat, gleich zu Anfang meiner afghanischen Erfahrungen, geriet ich einmal in eine Theateraufführung, die sich um ein paar westliche Ausländer drehte, die dort katsch-alu, ‚Kartoffeln’, genannt wurden, ihrer vermeintlichen Essgewohnheiten wegen. Es war wie im Kasperltheater. Wir saßen auf rohen Holzbänken und tranken Fanta-Limonade. Die falschen ‚Ausländer’, vorn auf der Bühne, agierten tollpatschig und waren für fröhliche Ratschläge des Publikums zu haben, mit denen sie rechneten, die sie schon wussten. Ich mittendrin, ein Original – jener ‚Originale’, wagte es nicht, wie die anderen, ins Geschehen auf der Bühne einzugreifen: der einzige echte ‚Kartoffelesser’ im Theater, der sich in den Augen anderer sah. Mit anderen Augen sah. Was gäbe ich darum, zu wissen, was damals und dort, Wort für Wort, gespielt wurde, und wie das Stück überhaupt hieß! – und kann es nirgendwo nachschlagen. Kein Computer hilft mir. Es gibt keinen Markt auf der Welt, der Wissen aus erster Hand – bare Münze, Geld, das auf der Straße liegt – gegen solches aus zweiter Hand tauscht. Das wäre auch ein schlechtes Geschäft.

CHRISTIAN REDER Eurozentrischem ist jedoch kaum zu entkommen. Die Seiten zu wechseln wird
nicht gelingen. Es kann somit nur um Versuche gehen, Innen- und Außenansichten im Blick zu behalten,
sich auf Erfahrungen und Vorstellungen anderer Menschen einzulassen und Gegenseitigkeiten nachzuspüren?

KARL WUTT So ist es. Jede fremde Gegend wird erst allmählich vertrauter. Schwellen werden unmerklich
überschritten. Oft ist das wie in einer Symphonie: fließende Übergänge von einem Satz zum nächsten, andere Tonlagen, andere Rhythmen. Afghanistan ist im Norden Alla turca, ansonsten Andante. Pakistan ist em>Allegro, schnelleres Tempo. Perser und Afghanen artikulieren verschieden. Afghanen sprechen ein schönes, dunkles Persisch, weil sie zwischen kurzen und langen Vokalen deutlich unterscheiden. Auch im Landesinneren gibt es solche melodische Übergänge.
Als Afghane hat sich übrigens nie jemand bezeichnet, dem ich auf dem Land begegnet bin. In Städten ist das üblicher. Auf dem Land meint man eigentlich, wenn von Afghanen die Rede ist, stets die Paschtunen. Zuerst kommt auf jeden Fall die ethnische Gruppe, das ist durch die Warlords und ihre Anhängerschaft noch verschärft worden. In Dörfern abseits der Straßen und Teehäuser hat ein Fremder nichts zu suchen und ist verloren. Man weiß nicht aus und ein, wird ständig beobachtet. Selbst die Notdurft zu verrichten wird dann zum Stress, besonders wenn man die traditionelle Technik dafür nicht beherrscht, nicht adäquat gekleidet ist. Wer aber hat schon je Afghanistan wirklich – ‚von innen’ – gesehen? Selbst Einheimische kennen nur die ihnen geläufigen Sphären. Dass mich E-Mails ‚von innen’ aus Erlangen erreichten, demonstriert, wie das mit ‚innen und außen’ längst läuft. Ihr Absender, Safar Saadat, hatte mir als Kind im Darra-i Nur, im ‚Tal des Lichtes’, zugesehen, was ich da machte. Und jetzt ist er in Deutschland und schickt mir Mails.

CHRISTIAN REDER Für Sie war der langwierige Landweg mit dem Bus – damals von der Argentinierstraße in Wien aus – über die Türkei und den Iran als Annäherung wichtig, bis zur legendären Grenzstation Islam Qalah, der ‚Festung des Islam’, dann von Herat über den Sabzak-Pass in den Norden bis nach Faizabad und schließlich nach Kabul. Mein Zugang, als Organisator des Österreichischen Hilfskomitees für Afghanistan, erfolgte von der anderen Seite her, von Pakistan aus. Wir haben uns auch 1980 in Peschawar am Fuße des Khyber-Passes, damals Basis der Flüchtlingshilfe, heute ein Taliban-Zentrum mit immer wieder attackierten Stützpunkten für den US-Nachschub, kennen gelernt, über Vermittlung von Alfred Janata (1933–1993), der diese Hilfsaktion mitbegründet hat …

KARL WUTT… und der als Erster über meine Studien Bescheid wusste und ein wunderbarer Mensch
gewesen ist. Ich habe seine tiefe Stimme im Ohr, wenn er sich am Telefon meldete, vom Wiener Völkerkundemuseum aus …

[…]

CHRISTIAN REDER Als 1981 Ihr Buch Pashai. Landschaft, Menschen, Architektur über diese kaum bekannte Ethnie der Paschai – damals in englischer Umschreibung – , die kulturell zu den Nuristani im Nordosten des Landes gehört, erschienen ist, eskalierte der Krieg immer mehr. Im Jahr davor war auch ich dort unterwegs, in Nuristan selbst. In meinem Erfahrungsbericht zur Flüchtlingshilfe und über das Aufrüsten islamistischer Gruppen, Afghanistan, fragmentarisch (2004), erzähle ich da von. In diesem Buch nun geht es um intimere Nuancierungen, weil wir uns beide trotz aller Trostlosigkeit dieses ‚Dreißigjährigen Krieges’ ein Wohlwollen erhalten, in Afghanistan so viel Beeindruckendes erfahren haben, Großzügigkeit, Initiative, Überlebenskraft; selbst ethnische Vorurteile wirken im Alltag nicht allzu belastend. Ihre Beobachtungen, Fotos und gesammelte Zeichnungen sollen manches davon vermitteln.

KARL WUTT Nach allem, was Afghanistan angetan wurde, lässt sich vieles verstehen. Wer sagt, dass jeder Taliban ein ‚Feind’ ist? Was ist ein Feind, und wer ist ein Feind? Der, der mir Feinde einredet? Es gibt zahllose Schattierungen der Taliban. Für manchen armen Teufel wird es ein ‚Job’ sein, vergleichbar den Söldnern im Irak. Immerhin im eigenen Land, und nicht nur für Geld. In vielen Gegenden erleben die Menschen weiterhin nur Bedrohung. Das ‚World Press Photo of the Year 2007’ des britischen Fotografen Tim Hetherington stammt aus dem Korangal-Tal, in dessen oberem Teil Paschai leben. Es zeigt einen völlig erschöpften US-Soldaten. Offenbar wird es jetzt als Taliban-Hochburg betrachtet. Was durchaus möglich ist, auch nachvollziehbar, erscheinen doch die eingesetzten Militärs mit ihren Helmen, aufgesetzten Nachtsichtgeräten, der schusssicheren Kleidung, den schweren Stiefeln, wie Marsmenschen in kriegerischen Raumanzügen – jede Schramme sorgsam verarztet –, wie eine exemplarische, völlig fremd wirkende Besatzungsmacht. Was man im Internet über die Kämpfe im Korangal-Tal erfährt, ist entsetzlich. Solange keine andere Art von Ordnung greifbar wird, finden radikale Kräfte Unterstützung. Ich kann mir vorstellen, wie Taliban, die von den Intentionen her – Gewaltbereitschaft, kulturelle Intoleranz, abstruses Frauenbild – durchaus mit unseren Rechtsextremisten vergleichbar sind, in der Zivilbevölkerung Fuß fassen können. Wenn Menschen nicht mehr weiter wissen und keine Hoffnung haben, dann ist der Teufel los.

CHRISTIAN REDER Liberalität kann über Nacht verschwinden; sie wiederzugewinnen hängt von
vielen Parametern ab. Reiseberichte aus den Jahrzehnten vor den andauernden Kämpfen belegen,
dass es für Afghanistan immer wieder Zeitfenster gegeben hat, in denen sich positive Entwicklungen abzeichneten, auch der Zugang problemlos war. Die Gastfreundlichkeit der Bevölkerung
war ohnehin sprichwörtlich. Ob nun internationale Truppen und Hilfsprojekte tatsächlich für
eine Stabilisierung sorgen können, erscheint als ein in vielen Aspekten endloses, vielleicht sogar
illusionäres Unterfangen, solange es primär um den ‚Krieg gegen den Terror’ geht. Ein vages
Arrangement wie im Irak steht im Raum. Es ginge aber um eine neue Balance mit tendenziell
islamisch orientierten Ländern und ihren strukturellen Problemen, so unterschiedlich sie auch
sind. Nicht einmal in Bezug auf Israel und die Palästinenser ist das in Sicht.

KARL WUTT Das Wort Zeitfenster verweist auf ‚Zwischenzeiten’ mit ‚Aussichten’, wenn Gelegenheiten noch nicht vertan sind. Astronomisch gesehen kann ein Zeitfenster dazu dienen, eine bestimmte Konstellation zu nutzen, etwas in eine Umlaufbahn zu bringen. In Afghanistan läuft die Zeit den Militärs davon, solange die Menschen nicht wissen, woran sie sind. Man muss zwei welthistorische Daten im Blick behalten: Den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan am 30. Dezember 1979 und den Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001. Ohne das eine hätte das andere nicht stattgefunden. Auch die Implosion der Sowjetunion hat damit zu tun. Inzwischen ist es zu acht verfehlten Jahren, zu neuen Katastrophen gekommen. Kommt der ferngesteuerte Krieg?

CHRISTIAN REDER Dschihad heißt auch ‚Streben’, nicht zwingend ‚Heiliger Krieg’. Analog zu solchen
Differenzierungen haben uns die demokratischen Traditionen des Dschirga-Systems beeindruckt,
die Ratsversammlungen der Männer in den Dörfern und manchmal auch überregional,
wo so lange diskutiert wird, ‚bis Gegenstimmen verstummen’, wie es heißt. Wo hat es das je bei
uns gegeben? Als – allerdings ständig von Machtgruppen manipulierte – Nationalversammlung
wurde das wiederbelebt.

KARL WUTT Das stammt aus der Welt der Paschtunen. Die Paschai kennen keine Dschirgas. Ihre
Kultur ist der paschtunischen entgegengesetzt. Grundsätzlich handelt es sich um weitgehend egalitäre
Gesellschaften. Den Großteil der Bevölkerung bilden die Siyal, die – unter sich ‚gleichen’ –
Landbesitzer, die über den Handwerkern (Peischawar) und Landlosen (Rayat) stehen, kleineren
Gruppen mit minderen Rechten. Analoge soziale Abstufungen gibt es auch in Nuristan.

CHRISTIAN REDER Trotz der Kriegssituation habe ich mich in Nuristan nie unmittelbar bedroht
gefühlt. Es gab keinen Staat, keine Polizei, jeder hätte uns ausrauben oder umbringen können.
Anarchie – so diese Erfahrung – muss nicht zwingend aggressiv und gefährlich sein. Auch
Fremdenfeindlichkeit bekamen wir, nur beschützt von drei kärglich bewaffneten afghanischen
Begleitern, kaum zu spüren. Verstanden wurde vielfach nicht, was für eine Art von Business wir
vertraten: Pragmatik in Reinkultur. Dass Fremde Nahrungslieferungen angeboten haben, war
mysteriös; nur Waffen wollten sie haben, als wichtigstes ‚Lebensmittel’. Zur Ermordung ausländischer
Helfer kam es jedenfalls erst im Zuge der islamistischen Radikalisierung. Im Krieg selbst allerdings
eskalierte vieles zu unglaublicher Brutalität. Das geht dann schnell.

KARL WUTT Das deckt sich mit meinen Eindrücken. Vor dem Krieg war das Klima alles andere als
aggressiv, aber oft durchaus misstrauisch, wachsam, hatte doch in entlegenen Dörfern kaum wer,
vor allem eine Frau nicht, je Ausländer gesehen. Was sollte ein Fremder schon bei ihnen suchen?
Nichtverstehen ist ein Hauptgrund aller Konflikte. Insgesamt kenne ich jedoch kaum ein Volk,
das tendenziell so locker, so humorvoll ist. Afghanen sind schweigsam und haben viel Taktgefühl.
Zu Ihrer Bemerkung über ‚Waffen als Lebensmittel’: In einem Paschai-Dorf wollten einige ein
paar Wörter auf Deutsch hören, weil das eben meine Sprache ist. Zuerst wurde ich gefragt, was
‚Gewehr’ heißt. Neben einem solchen ‚Sinn fürs Praktische’ spielt aber der viel zitierte Potlatsch
eine wichtige Rolle. Um Ehre und Ansehen zu gewinnen, muss man der Allgemeinheit Feste geben.
Es geht dabei um Prestige, um die gnadenlose Macht der Schönheit. Der Ethnopsychologe Mario Erdheim
sieht in den demonstrativen Gaben, den zur Schau gestellten Opfertieren solcher Feste, eine Art
von Schmuck (Prestige und Kulturwandel, Wiesbaden 1973). Manchmal werden dem Festgeber
sogar Erinnerungszeichen gesetzt, etwa durch Ornamente an seinem Haus. Dies gab es vor dem
Krieg, in islamisierter Form, in Nuristan und bei den Paschai. Im Vergleich mit solchen Traditionen
sind ein paar Säcke Mehl und Salz als Hilfslieferungen immer etwas Ärmliches.

CHRISTIAN REDER Wie sind Sie dazu gekommen, sich anfangs auf die damals kaum bekannten,
heute über 200 000 Angehörige zählenden Paschai zu konzentrieren?

KARL WUTT Die Fachwelt hat sie für paschtunisiert gehalten und wenig Interesse an ihnen gezeigt.
Max Klimburg, der damals Leiter der Außenstelle des Südasieninstitutes der Universität Heidelberg in Kabul war, hat mich auf sie aufmerksam gemacht. Die vielen Schnitzereien aus dieser Region, die im Antiquitätenbasar in der Chicken Street angeboten wurden, haben meine Neugier verstärkt: diese zerstückelte Welt, zertrümmert zum Verkaufen, weil Händler den Marktwert dieser Dinge erkannt hatten und sie aus immer weiter entfernten Gebieten heranschafften.

CHRISTIAN REDER Auch Bruce Chatwin hat sich bedenkenlos mit solchen Exporten finanziert. Ohne
Interesse, ohne Märkte dafür – so der Entschuldigungsstandard – würde vieles einfach verkommen.
Wichtig sei nur das Bewahren, egal wo.

KARL WUTT Die Antiquitäten-Serais der Chicken Street mit ihren hunderten, Wind und Wetter
ausgesetzten Truhen erinnerten mich an die Friedhöfe der Kalascha im Hindukusch Pakistans –
mein zweiter Forschungsschwerpunkt neben den Paschai –, wo die Toten in oberirdisch aufgestellten
Truhen bestattet wurden. Besser war es schon, wenn solche Dinge in einem Museum landeten
und nicht auf einer Ranch in Texas. Nur ist längst nicht alles verkauft worden, bevor es zerfiel und verfaulte. Trotzdem: Die Ausstellungen des Wiener Völkerkundemuseums deprimierten mich, vor allem, wenn ich die Dinge dort – von denen ein paar durch meine Hände gegangen waren, was mir kein Glück brachte – in ihrer ursprünglichen Umgebung in Erinnerung hatte, also an die Menschen dachte, die sie hergestellt und gebraucht haben. Dann kam ich mir vor wie in einer Aufbahrungshalle, oder – schlimmer – in einem Warenhaus. Es ist unsinnig, solche Objekte isoliert vor glattem Hintergrund zu präsentieren, wie in vielen Büchern, herausgelöst aus ihrem kulturellen Kontext, der ihnen ihre Bedeutung gibt. Mein Weg zu den Paschai begann also mit Studien ihrer Relikte im Basar von Kabul, von denen ich möglichst viele fotografiert habe, etwa die wunderbaren Truhen oder diese phantastischen Widder-Kapitelle, die sich mit Menschenhänden an die Schnauze greifen, als würden sie ein Geheimnis wahren wollen. Dorthin musste ich einfach fahren,
um das noch im Ganzen zu sehen.

CHRISTIAN REDER Sie selbst wollten also nichts zerlegen und mitnehmen – auch das ist eine Frage
von ‚innen und außen’. Denn die Welt sei, wie Sie schreiben, schon für sich genommen „ein namenloses Anti-Museum“. Malraux wollte von allen Ausdrucksmöglichkeiten der Welt möglichst viel in ein ‚imaginäres Museum’ retten, als zumindest fotografisch dokumentierbare Auseinandersetzung damit.

KARL WUTT Mit „namenloses Anti-Museum“ meine ich aber die Kehrseite des Musealen, das Durcheinander der Welt. Es gibt ‚Luxus-Museen’. Sie zeigen immer das gängige Gleiche, das ohnedies Anerkannte. In Museen herrscht die Willkür der Auswahl und Bewertung. Wer den Regeln des Zufälligen, Unvoreingenommenen auf der Spur ist, begibt sich ins Freie. […] Damit will ich sagen, dass man am besten gleich ein ‚Welterforscher’ sein sollte, der für das, was er sieht, keine Grenzen zieht. Ethnologen verstehen sich in der Regel als ‚Feldforscher’, als ‚Leute im Feld’ – ein militärischer Ausdruck. Immer geht es darum, jemanden irgendwie zu kaufen, sonst kommt man nicht weiter, vor allem, wenn man auf Systematik aus ist. Aber jede Systematik hat etwas Gnadenloses. Es hängt auch sehr vom sozialen und finanziellen Hintergrund ab. Aus dem ergeben sich, auch noch so uneingestanden, gewisse Attitüden. Ich selbst bin – erstmals 1971 – tatsächlich aus dem Nichts heraus in Afghanistan erschienen: kein Auftrag, kein Budget, keine Institution im Hintergrund. Vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung hatte ich dann für mein Paschai-Projekt 83.000 Schilling, also 6.000 Euro zur Verfügung. Damit musste ich auskommen. Es waren wirklich Alleingänge. Walter Dostal, der damals Vorstand des Instituts für Völkerkunde an der Universität Wien wurde, hat mich gefördert und meine Dissertation Zur Architektur einiger Hindukusch-Täler im Umkreis von Nuristan sehr positiv aufgenommen. Es wurden mir Lehraufträge erteilt, es gab weitere Projektbudgets, zunächst für Nord-Pakistan. Es waren aber schwierige Jahre. An der Fachwelt mit ihrer akademischen Inzucht konnte ich mich immer nur sehr bedingt beteiligen. Auf Kongressen bin ich einfach verloren, anders als in Afghanistan und vergleichbaren Ländern. Aber in der eigenen Kultur unbeholfen, irritiert zu sein, macht es leichter, sich in fremden Kulturen wohl zu fühlen…

Die Redaktion bedankt sich ausdrücklich bei Herrn Christian Reder für dessen Erlaubnis, dieses Gespräch auf tethys.caoss.org veröffentlichen zu dürfen.
Der zweite Teil des Interviews folgt in einer Woche…

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

Post Navigation