Ein Beitrag von Olim devona
Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte das rechte Flussufer des Amudarja zum russländischen Generalgouvernement Turkestan. Aus dieser Region des Russischen Reichs hörte man damals im Westen recht wenig. In zeitgenössischen Berichten russischer Reisender auf ihrem Weg nach Chorezm oder in die weiter südlich gelegenen Chanate, nach Afghanistan, Indien oder in den Iran, findet sie nur beiläufig Erwähnung. Da die Deltaregion des Amudarja nicht so voller eindrücklicher Monumente war, wie die südlicheren Wüstenstädte Chiwa oder Buchara, war das Interesse am Delta gering. So blieb das Amudarja Delta und die vielen dort lebenden Volksgruppen, die in lebhaften Auseinandersetzungen mit ihren Nachbarn Handel trieben oder stritten und deren Leben auch durch die Launen der Wasser des Amudarja in Bewegung gehalten wurde, lange Zeit weitgehend unbekannt.
Aus dieser Region ist folgende Geschichte überliefert:
Etwa 1905 oder 1906 wurde aus Russland im Amudarja-Delta die Futterpflanze Luzerne eingeführt, für die die Region um Čimbaj ideale Bedingungen bot. Anfangs deckte die Gewinnung der Luzernensamen nur den Bedarf der lokalen Bevölkerung, doch schnell wurden mehr und mehr Überschüsse produziert.
Die Luzerne oder Alfalfa (Medicago sativa) ist eine aufrecht wachsende, krautige und mehrjährige Pflanze aus der Familie der Hülsenfrüchtler (Fabaceae, Leguminosen). Sie wird weltweit im großen Maßstab als Futterpflanze für Tiere angebaut. Man schätzt, dass sie vor Jahrtausenden vom Menschen in Kultur genommen wurde, vermutlich in den Trockengebieten Zentralasiens, wo sie auch heute noch wild vorkommt. Aufgrund ihres guten Futterwertes wurde sie vom Menschen rasch in andere Länder verbreitet, und war bereits bei den alten Persern und Ägyptern bekannt.
Wie die meisten Arten der Leguminosen lebt auch die Luzerne in Symbiose mit Wurzelknöllchenbakterien. Mit Hilfe dieser Mikroorganismen können die Luzerne-Wurzeln den für Pflanzen so wichtigen Stickstoff nicht nur aus dem Boden, sondern auch aus der Luft binden, was ihr den Vorteil verschafft, dass sie auch auf nährstoffarmen Böden gedeihen kann.
Mit steigender Nachfrage ergab sich um 1910-12 die Notwendigkeit einer Industrialisierung der Luzerne-Verarbeitung. So wurden in Čimbaj einige Betriebe aufgebaut, die jeweils um die zehn Arbeiter beschäftigten. Wenn die Saison angebrochen war, lagen am Ufer des Kegejli-Kanals eine große Anzahl von Transportbooten (qajyq). Die Ware wurde auf dem Wasserweg bis Xoğejli gebracht und von dort auf dem Fluss zum Aralsee verschifft. Mit der Transsibirischen Eisenbahn wurde sie dann nach Europa oder nach Wladiwostok transportiert, von wo die Luzerne auch in die USA exportiert wurde. Ende der Geschichte.
Postmodernisten, Welthistoriker, Globaltheoretiker und die Bastler liquider Theorien sehen gerade im langen 19. Jahrhundert eine neue Qualität auf unserem Planeten, eine Qualität, die sie deshalb betonen, weil sie sie aus dem Heute kennen: die Verflechtungen zwischen den Kontinenten. Heute nennen sie es Globalisierung. In den Universitäten schießen „global studies“-Lehrkonzepte und Institutionen wie Pilze aus dem Boden. Man schließt sich zu globalregionalen Zentren zusammen, erfindet Worte wie glocal, Transmigration und Ethnoscapes, und bewundert diese neue Qualität einer “zusammenrückenden Welt”.
Das Motiv des Zusammenwachsens der Welt zu einer Weltkultur ist ein edles Motiv. Doch es gibt auch eine dunkle Seite. Diese hat mächtige Erzähler, die konkurrierende Narrative der Verflechtung vor mehr als einem Jahrhundert zum Schweigen brachten. Wer dieses Narrativ auf der globalen Bühne monopolisieren sollte, deutete sich schon am Ende des 15. Jahrhunderts an, als die Portugiesen einen friedlichen Seehandel auf dem Indischen Ozean an sich rissen, Verhandeln mit dem Beschuss ungefügiger Hafenstädte ersetzten und bei den arabischen, afrikanischen und indischen Handelshäusern für blankes Entsetzen sorgten. Weitere Beispiele der europäischen Dominanz sollten Jahrhundert für Jahrhundert folgen. Heute gibt es kaum mehr Erzähler anderer als der europäisch dominierten Verflechtungen, die z.B. die Familiengeschichte belutschischer Händler zwischen Zanzibar und der Makranküste wiedergeben, die Beziehungen zwischen Kleinasien, dem Moghulreich und den goldenen Dächern des Khmer Reiches nachvollziehen. Ein paar wenige kümmern sich um diese Verflechtungen, Salman Rushdie oder Amitav Ghosh beispielsweise, aber es sind Narrative am Rande.
Aber kommen wir von den globalen Zusammenhängen von gestern zurück zu unserer kleinen Anekdote. Hier haben wir es mit zwei Erzählungen zu tun: die eine hat keinen Erzähler, sondern Fundorte einer lebhaften Quelle, der Leguminose selbst, die sich überall ausbreiten konnte, als Futterpflanze gebraucht oder durch Samentransport von selbst verbreitet hat. Diese Globalisierung der Leguminose war nachhaltig, erfolgreich und kann auf eine Geschichte von mehreren Tausend Jahren zurückblicken. Die andere Geschichte beginnt im Zeitalter der Imperien, hat ein paar russisch-asiatische Handelsbeziehungen die bis Nordamerika reichten zu bieten und endet in den 1930er Jahren. Ein Narrativ der Kurzzeitigkeit steht gegen eine stille Geschichte der Langzeitigkeit. Zigtausend Jahre stehen 20 Jahren Beziehungsgeschichte gegenüber, und dennoch konnte sich das kurze Narrativ der ökonomischen Verflechtungen, der transnationalen Beziehungen, durchsetzen. Auch in der jetzigen “Globalisierungsepoche” finden sich diese asymmetrischen Narrative. Was zählt sind Echtzeitkommunikation, kurze Flugdauer, schneller Wechsel von Technik und Innovation, eingeschmolzen in ein Jahrzehnt und nur aufrecht zu erhalten durch einen enormen Aufwand an Infrastruktur, die binnen Sekunden zusammenbrechen kann. Das nennen wir Globalisierung, und merken nicht, das wir hier nur das Narrativ, das mit dem Beschuss der Hafenstädte von Indien begann, weitererzählen und weiterleben. Motive in diesen Erzählungen sind Überlegenheit von Technik und Bildung, oder der Blick auf die Zentren und nicht auf die Räume zwischen diesen. All diese Erzählungen haben den Vorteil der Kurzzeitigkeit, sie haben häufig schon im Moment des Erzähltwerdens ein Ende. Die Beziehungsgeschichte der Leguminosen hat es nicht, hier war das transpazifische Abenteuer ein Tausendstel Teil der gesamten Geschichte der Ausbreitung der Luzerne. Und doch ist dieses Tausendstel in der heutigen Zeit um so vieles lauter, erobert die Bücher, wird von den Konstrukteuren eines westlichen Überlegenheitswahns beständig erneut und in imposante und doch fragile Innovationen eingebaut. Wer diesen Narrativen nachhechelt, sollte kurz einmal innehalten und sich die kleine Luzerne vorstellen, oder das Rosengewächs, das wir Apfelbaum nennen oder …
Ach, hier würde eine andere Geschichte anfangen, wir würden Tausende von Jahren zu erzählen haben und doch leise sein wie der Wind… und wir bräuchten andere Erzähler…
Mit freundlicher Unterstützung unserer Blog- Biologin Viktoria Wagner