Auf dem schmalen Grat. Annäherung an die zeitgenössische tibetische Literatur.

Ein Beitrag von Franz Xaver Erhard

 

[inspic=506,left,,200]  Seit einigen Jahren entwickelt sich auf dem tibetischen Hochland eine Literatur, die nur allmählich auch international bekannt wird. Von den Exilautoren wird sie oft mit Argwohn betrachtet und gilt vielen als reine Parteipropaganda, tibetischer Inhalte entleert. Aber Autoren und Lesern der allerorts aufkeimenden Literaturzeitschriften, in jüngster Zeit auch Blogs scheint diese Literatur ein Anliegen zu sein. Ohne finanzielle Anreize engagieren sich junge Intellektuelle unter den Argusaugen der staatlichen Behörden in einem richtungweisenden Diskurs über die tibetische Kultur.

Jede Zeit bringt ihre eigenen literarischen Formen hervor. Seit den 80er Jahren sind dies für Tibet die kleinen und größeren Erzählformen. Besonders die Kurzgeschichte, die für den Abdruck in Zeitschriften gut geeignet ist, bietet den Autoren eine Möglichkeit, sich einem breiteren Publikum zu präsentieren. In den letzten Jahren sind auch mehr und mehr Romane und Erzählbände einzelner Schriftsteller erschienen, etwa von Tsering Döndrub, Dänba Dargyä oder Khedrub.

Die Verweltlichung der Literatur

[inspic=508,left,,200] Was macht die fiktionalen Genres heute so attraktiv, während die tibetische Kultur in der Vergangenheit fast ohne Romane und Erzählungen ausgekommen ist? Ãœber Jahrhunderte gab der Buddhismus das Paradigma für die geistige Kultur Tibets vor. Bücher und Schriftgelehrsamkeit waren monastischen Institutionen vorbehalten. Erst mit dem gewaltsamen Einmarsch der chinesischen Volksbefreiungsarmee wurden diese Traditionen erschüttert. Um die neue Ideologie an die Massen zu vermitteln, mussten die Besatzer zunächst die Maoistische Lehre in die religiös geprägte tibetische Sprache übersetzen, moderne Druckereien mussten gebaut werden, um Maos Werke in Massenproduktion zu vertreiben und schließlich mussten Schulen gebaut werden, damit die Massen überhaupt lesen lernten. Neben dem kulturellen Kahlschlag der Jahre bis zur Reform Ära Dengs resultierte aus der chinesischen Okkupation eine Verweltlichung der tibetischen Literatur und die Öffnung des für lange Jahrhunderte auf das Religiöse beschränkten literarischen Kanons.

Heute existieren an die zehn Verlage, über hundert Zeitschriften und etliche Zeitungen für ein tibetischsprachiges Publikum. Diese Entwicklung setzt sich im Internet fort, wo bereits Literatur publiziert und in angeschlossenen Blogs diskutiert wird www.tibetcm.com.

Drei Autoren – drei Ansätze

In seinem Essay Der schmale Pfad (1984) ringt Döndrub Gyäl mit der schmerzhaften Erfahrung der Modernität, die trotz aller Bemühungen des großen 13. Dalai Lama und Intellektueller wie Gendün Tschömpel erst in ihrer vollen Wirkungsmacht durch die Volksbefreiungsarmee nach Tibet gebracht wurde. Der Pfad dient Döndrub Gyäl als Metapher für die historische Entwicklung Tibets und seiner Kultur. “Dass der Pfad über zehntausende von Jahren weder verbreitert, geglättet, noch erweitert werden konnte, ist allein unsere Schande. Wie könnte es die Schande unserer Vorfahren sein?” schreibt Döndrub Gyäl und beklagt die fehlende Dynamik und Entwicklung der tibetischen Kultur, die auf dem status quo von vor siebenhundert Jahren verharrt.

[inspic=507,left,,200] Am Ende des Essays resümiert der Autor: “Ich stand zwischen dem Fußpfad und der staatlichen Straße und erinnerte die vergangenen Taten. Als ich die einsame Stille des gewundenen Fußpfades betrachtete und dann die Autos, Traktoren und Pferdewagen, die auf der, den Berg breit und mächtig durchschneidenden Staatsstraße hin und her fuhren, dachte ich an mein Volk und an meine Heimat. Vor meinen Augen sah ich eine prächtig strahlende Zukunft und konnte nicht anders, als meine Schritte in die Richtung der Staatsstraße zu lenken.” Damit beeinflusste der Autor die nachfolgenden Generationen von Schriftstellern, die fortan darum streiten sollten, wie die tibetische Kultur sich weiterentwickeln soll, ohne, dass damit ein Verlust der tibetischen Identität einhergeht.

Langdün Päldschor (*1941), der seine literarischen Erfolge zur gleichen Zeit wie Döndrub Gyäl feierte, erlebte in vollem dramatischem Umfang das tibetische 20. Jahrhundert. Als Knabe in Kalimpong (Sikkim) erzogen, studierte er später in Lhasa und Peking. Während der Kulturrevolution wurde er als aristokratischer Intellektueller aufs Land verschickt. Dort entstand auch seine Novelle Das Scheiteljuwel (1985), in der das Leben des alten Tibet bewahrt werden sollte. Während um Päldschor herum die tibetische Kultur systematisch zerstört wurde, hatte er heimlich einige gerettete Werke der klassischen Literatur studiert und seit den 60er Jahren Notizen zu seiner Novelle gemacht. Anders als bei Döndrub Gyäl ist Päldschors Blick rückwärts in die traditionelle Gesellschaft Tibets gewandt. Das Scheiteljuwel beschreibt mit einem sozialistisch-realistischen Plot die Grausamkeit und Ungerechtigkeit der ‘alten’ Gesellschaft, die trotzdem – vor allem durch die elegante Sprache – in ihrer alten Pracht erscheint. Der grobe Holzschnittcharakter der Handlung ist sicherlich den politischen Zeitumständen geschuldet und ermöglichte Päldschor die Publikation. Im Vorwort gibt er an, die Novelle möge dazu dienen, zu einem späteren Zeitpunkt die tibetische Kultur zu erinnern, und, möchte man unwillkürlich hinzufügen, wieder aufzubauen.

Die Leere beschreiben

Jüngere Autoren der sogenannten 3. Generation, darunter etwa Kyabtschen Dedröl, vertreten einen progressiven Ansatz. Aufgewachsen in den 1980er Jahren sind sie – im Gegensatz zu Autoren wie Päldschor – geprägt von den zuvor ungeahnten Möglichkeiten der Öffnungspolitik, insbesondere durch die langsam einströmenden intellektuellen Einflüsse.

[inspic=511,left,,200] Kyabtschen interessiert sich nicht für Politik oder Gesellschaft. Das einzig Bedeutende ist für ihn der menschliche Geist. Seine Geschichten, sagt er, handeln von seinen persönlichen Erfahrungen. Seine Kurzgeschichte Lhasa Story entstand nach einem kurzen Besuch der heiligen Stadt im Jahr 1998. Die Erzählung besteht aus einer Folge von Eindrücken, die durch den Protagonisten DschoDscho (der Name deutet Traurigkeit an) locker verbunden werden. Ähnlich wie in Päldschors Scheiteljuwel führt die Kurzgeschichte durch verschiedenste Lebensbereiche der Stadt und ihrer Bewohner: den Barkhor, eine Bierkneipe, eine Mönchsunterkunft usw. DschoDscho streift ziellos durch Lhasa, und alle, denen er begegnet sind Geister, Diebe, Huren und Mörder, die sämtlich auf der Suche nach etwas sind, was sie schon vor langer Zeit verloren haben. Dieser Verlust wird metaphorisch durch den goldenen Ring ausgedrückt, den ein Pilger im Barkhor verliert und den DschoDscho aus den Pflasterritzen hervorangelt: “Ist das Gefäß einmal verrottet, kann die Liebe nur in den Staub fallen”, ist der lapidare Kommentar des Pilgers. Am Ende stirbt DschoDscho allein in einem billigen Hotel an einer seltsamen, vermutlich sexuell übertragenen Krankheit.

[inspic=510,left,,200] Sowohl Päldschors als auch Kyabtschen Dedröls Text geben ein radikal negatives Bild von Lhasa. Aber in beiden Texten wird eine Leerstelle deutlich. Lhasa ist das symbolische Zentrum der tibetischen Welt. In beiden Texten suchen die Protagonisten ihr Heil, ihre Befreiung in dieser Stadt. Das Lhasa der Gegenwart jedoch gewährt den Pilgern die angestrebte Befreiung nicht. Während Päldschors Scheiteljuwel eine glorreiche Vergangenheit beschwört, sieht Kyabtschens Lhasa Story die Gegenwart gekennzeichnet durch Verlust, durch Abwesenheit und Mangel. Die tibetische Geschichte hat in eine Gegenwart der Leere geführt. DschoDscho träumt von einem Hengst, auf dem er, die Zügel fest in der Hand, durch das Grasland reitet. Doch der Gaul geht durch und er findet sich in einem, ihm völlig unbekannten Land wieder.

Es ist ein schmaler Grat zwischen Assimilation und Ausdruck einer neuen tibetischen Identität, auf dem sich die jungen Autoren der tibetischen Literatur bewegen. Mit Hilfe neuer, kostengünstiger Technologien und neuer literarischer Formen suchen sie nach Wegen, den offiziellen Diskurs zu umgehen. Gerade die jungen fiktionalen Genres eröffnen dabei Möglichkeiten, der Realität Ausdruck zu verleihen.

don grub rgyal (1997): dpal don grub rgyal gyi gsung ‘bum. 6 vols. Vol. 6: thor rtsom phyogs sgrigs. pe cin: mi rigs dpe skrun khang.

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