Der “Kilometer 80” – Doppelte Botschaft und Grundstein für die “neue Hauptstadt Qaraqalpaqstans”

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Als sich der Zerfall der UdSSR ankündigte und rasch vollzog, plädierten auch einige Politiker in Qaraqalpaqstan für eine Souveränität ihrer autonomen Region und forderten Unabhängigkeit – auch von Usbekistan. Im Herbst 1990 reichten Vertreter der qaraqalpaqischen Intelligenz die Forderung nach Souveränität Qaraqalpaqstans bei der Regierung ihrer “autonomen Republik” ein. Aber erst nach dem Abschluss der Baumwollernte wurde diese Forderung nach Taschkent weitergeleitet. Dort stießen die Pläne für eine Unabhängigkeit der Aralseeregion auf wenig Gegenliebe. Anfang Dezember 1990 besuchte Islam Karimov Nukus und traf sich dort mit Vertretern der qaraqalpaqischen Regierung und 20 ausgewählten Repräsentanten verschiedener gesellschaftlicher Bereiche. Karimov bot Qaraqalpaqstan die Unabhängigkeit an, allerdings nur innerhalb der Usbekischen SSR. Die Deklaration für die Selbständige Republik Qaraqalpaqstan (Suverennaia Respublika Qaraqalpaqstan) innerhalb der UzbSSR wurde schließlich am 14. Dezember 1990 unterschrieben.

Zwei Jahre später stand das 60-jährige Jubiläum von Nukus als Hauptstadt Qaraqalpaqstans auf dem Programm des nunmehr unabhängigen Uzbekistan. Im Jahr 1932 hatten sich die Qaraqalpaqen vom linken und die vom rechten Ufer des Amudarya nach langen Streitereien auf den kleinen am rechten Flussufer gelegenen Ort Nukus als neue Hauptstadt geeinigt. Vier Jahre zuvor war Tortkul, die erste Hauptstadt sowjetisch Qaraqalpaqstans von einem Amudarja-Hochwasser stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Bereits damals wurde von Wissenschaftlern und Ingenieuren eine wasserlose Anhöhe etwa 80 km nördlich von Turtkul und 80 km südlich von Nukus nahe am Amudarja, der so genannte “Kilometer 80” als möglicher Standpunkt für eine neue Hauptstadt genannt. Das in einer Senke gelegene Nukus eignete sich nach Ansicht vieler Planer nicht wirklich als Standpunkt für eine repräsentative Hauptstadt. Die Grundwassersituation in diesem Gebiet erlaubt eigentlich keine Bauten über vier Stockwerke. Dennoch verschwanden die Pläne für den Bau einer neuen Hauptstadt Qaraqalpaqstans in den Schubladen der sowjetischen Behörden. Erst in den unruhigen Zeiten am Ende der Sowjetunion wurde der Ort in der Wüste nahe der kleinen Siedlung “Kipchak” dann noch einmal zum Politikum.

Anlässlich der bevorstehenden qaraqalpaqischen Hauptstadtfeierlichkeiten brachte Islam Karimov, nunmehr Präsident des unabhängigen Uzbekistan, den lange vergessenen Ort als Standort für eine “neue Hauptstadt Qaraqalpaqstans” ins Gespräch. 1991 setzte Karimov den Grundstein für diese Hauptstadt und ließ ein erstes Gebäude errichten, in dem zukünftig der Oberste Sowjet Qaraqalpaqstans residieren sollte. Begossen wurde diese Grundsteinlegung standesgemäß bei einem Festbankett in dem neu errichteten Gebäude mit Champagner. In Stein gemeißelt kann man seither die präsidiale Botschaft an die Qaraqalpaqen lesen: “Der erste Stein der zukünftigen Hauptstadt Qaraqalpaqstans, gelegt vom ersten Präsidenten Uzbekistans Islam Karimov (2. Dezember 1991)”.

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Doch der Sinn dieser Botschaft war und ist ein anderer. Ein Blick auf den heute vergessenen Ort am Straßenrand bei “Kilometer 80” genügt. Genau ein Jahr nachdem die Forderungen nach Unabhängigkeit Qaraqalpaqstans auf dem Papier abgewendet werden konnten, machte Karimovs Grundsteinlegung 1991 noch einmal allen deutlich: Eine Abspaltung Qaraqalpaqstans von Uzbekistan wird nicht geduldet.

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Es ist diese Botschaft, die mit der Grundsteinlegung und der darauf folgenden Einstellung der Baumaßnahmen bei den Menschen in Qaraqalpaqstan ankam. Und zumindest “die ältere Generation verstand die doppelte Botschaft Karimovs sofort”. Bis 1924 verlief genau hier die Grenze zwischen dem uzbekisch dominierten Kreis Shurakhan und dem qaraqalpaqisch-kazachischen Kreis Shimbay. Aus uzbekischer Sicht markiert der Ort der Grundsteinlegung zur neuen Hauptstadt Qaraqalpaqstans also exakt das Ende des qaraqalpaqischen Territoriums. Der “Kilometer 80” befindet sich genau auf Trennlinie zwischen dem mehrheitlich von Qaraqalpaqen und Kazachen bewohnten Amudarja-Delta und dem von Uzbeken dominierten Südqaraqalpaqstan rund um Urgench (dem Herz des alten Chorezm), das der uzbekische Präsident im Falle einer Abspaltung Qaraqalpaqstans als zu Uzbekistan gehörendes Territorium reklamiert.

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Seit der Grundsteinlegung wird “Kilometer 80” verstanden als unausgesprochene Grenze zwischen einem unabhängigen Qaraqalpaqstan und Uzbekistan. Sollte sich das qaraqalpaqische Autonomiestreben zu weit und zu deutlich ausnehmen, dann so befürchten viele Bewohner Qaraqalpaqstans, würde genau hier die Grenze dieser beiden Staaten verlaufen und nicht wie heute gut 100 km weiter südlich. Die vier fruchtbaren Bezirke der heutigen Republik Qaraqalpaqistan (Amudaria, Beruni, Ellakqala und Tortkul), mit den großen Städten Tortkul und Beruni, würden im Falle einer Abspaltung an Uzbekistan angegliedert.

Und all jene, die dieser Forderung nicht nachgeben oder die diesen Teil der in Stein gemeißelten Botschaft des uzbekische Präsidenten nicht begreifen, würden das gleiche Schicksal erleiden wie die Champagnerflasche, die Islam Karimov am Tag der Grundsteinlegung auf eben jenem stellvertretend zerschlug.

ein Beitrag von Thomas Loy

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