Die folgende Reportage von Masuma Erfan erschien am 27. April 2021 auf dem afghanischen Nachrichtenportal subhekabul.com. Sie ist ein Beleg für die beeindruckende Entwicklung, die ein unabhängiger Journalismus in Afghanistan in den vergangenen zwanzig Jahren erfahren hat. Reportagen wie diese zeichnen ein sehr anschauliches Bild vom Alltag im heutigen Afghanistan. (Diese Übersetzung lag bereits im Juli 2021 vor – wie lange “der Alltag im heutigen Afghanistan” noch so aussieht, wie im April von Msuma Erfan geschildert, lässt sich nach den politischen und militärischen Entwicklungen der letzten Tage allerdings nur schwer voraussagen.)
Die Übersetzung aus dem Dari stammt von Bianca Gackstatter
Jeder meiner Tage beginnt mit dem Überqueren der Pul-e Sokhta. Alleine bin ich dabei nicht, denn tausende Menschen passieren täglich diesen Ort. Einige von ihnen sind auf dem Weg zum Unterricht und zur Universität mit Taschen voller Bücher und Stifte. Einige andere hingegen sind mit staubiger und schmutziger Kleidung auf dem Weg zu ihren Arbeitsplätzen und eine weitere Gruppe geht mit den Händen in den Hosentaschen und derart hochnäsig, dass sie nicht wahrnehmen, was um sie herum geschieht.
Dabei ist Pul-e Sokhta mit dem Lärm der Straßenhändler sehr interessant und für mich von Tag zu Tag sehenswerter. Auf einer Seite ist er voller Obst- und Gemüsewägen und auf der anderen Seite sieht man eine Reihe von Schustern, deren Blicke sich vor allem auf die Schuhe der Passanten richten und die jedes Mal beten, dass die Füße vor ihnen zum Stehen kommen, damit sie ihrem Handwerk nachgehen können. Wenn ich die Pul-e Sokhta weiter entlang gehe, riecht es nach Dreck, Müll, Sucht und Elend, ein Gestank, der allen Passanten in die Nase steigt und sie nötigt, ihren Blick nach unterhalb der Brücke zu richten. Die Stimmen der Autowäscher und das Hupen der Autos, Motorräder und Kleinbusse bringen mich wieder zu mir und aufs Neue verstehe ich, warum ich gerade in dieser Gegend herumschlendere. Auf jener Seite die Geldwechsler vor ihren in Glaskästen geschützten Geldbündeln. Wie zu den alten Zeiten des Königs lehnen sie in ihren morschen Stühlen. Den Geldwechslern gegenüber sind die Schuster. Manche unterhalten sich miteinander und manche sind damit beschäftigt, die Schuhe ihrer Kunden zu putzen. Neben einem kleinen Lebensmittelladen befindet sich ein Heiligenschrein. Es handelt sich um einen kleinen Heiligenschrein im belebtesten Teil Kabuls. Sein Name lautet „Schrein der Märtyrer“. Man sagt, dass er um das Jahr 1383 (um das Jahr 2004 u.Z.) erbaut wurde. Der Schrein ist von Lehmmauern und grünen Toren umschlossen und wird von den Menschen aufgrund von verschiedenen Bedürfnissen und Geheimnissen aufgesucht. Manche kommen hierher, um sich ihr Schicksal und ihr Glück wahrsagen zu lassen. Manchmal sprechen sie Bittgebete und manchmal lassen sie sich Amulette anfertigen, damit ihre Probleme gelöst werden mögen.
Vor dem Schrein stehen ein paar Mädchen verschiedenen Typs. Ihre Augen sind auf das Ende der Straße gerichtet und sie erwecken den Anschein, auf jemanden zu warten. Ich passiere eine kleine eiserne Haltestelle, wie sie zwei Jahre zuvor auf Anordnung von Ashraf Ghani in vielen Ecken der Stadt gebaut wurden und die sich vor allem zu einem Schlafplatz für Arbeiter und Süchtige entwickelt haben. Ich erreiche die Gruppe von Mädchen neben dem Tor zum Schrein der Märtyrer. Einige von ihnen sind hübsch geschminkt und einige von ihnen halten mit fahrigem Gesichtsausdruck Bücher in den Händen, in denen sie schnell etwas lesen, vielleicht haben sie gleich eine Prüfung. Vom Tor des Schreins aus steige ich zwei kleine Treppen hinunter, die zu einem langen, schmalen Gang führen. An den Lehmwänden ist durch den Einfluss des Regens das darin enthaltene Stroh gut sichtbar. Der schmale Gang beherbergt auch eine Gruppe von Mädchen, die beieinanderstehen und über die Hitze sowie über den Unterricht und Prüfungen sprechen. Ich gehe weiter. Das Wetter ist klar und die Wolken sind wie verstreute Zwerge über den Horizont verteilt. Die große Hitze lässt mich vermuten, dass es bestimmt schon Mittag ist. Als ich auf die Uhr sehe, zeigt sie 11 Uhr und 19 Minuten an. Es schwirren nur wenige Mücken und es erscheint leerer als auf den anderen Friedhöfen Kabuls. Einige Frauen sind hier in Gruppen versammelt und kochen gemeinsam Halwa über dem Feuer.
Mir gegenüber ist ein weiteres grünfarbenes Tor, das mit Schlössern und bunten Stofftüchern geschmückt ist. Es ist ein Tor wie jedes andere, aber mit hunderten Schlössern behängt und ich habe das Gefühl, dass es sehr schwer sein muss und die Last dieses ganzen Gewichts bestimmt nicht tragen kann. Als ich die Hand ausstrecke, um ein Stoffband zu betrachten, streckt eine Frau schnell ihr Gesicht zum Tor und jedes Mal, wenn sie die Schlösser oder die Stoffbänder küsst, flüstert sie etwas. Neben ihr steht ein kleines Mädchen und hält sich an ihrem Tschador fest. Als die Mutter ihre Bittgebete und ihr Anliegen beendet hat, zieht sie ihre Tochter schnell an der Hand und reibt ihr mit den Stoffbändern das Gesicht.
Ich gehe weiter und gelange ins Innere des Schreins. Ein Mann, dessen Rücken vom Alter gekrümmt ist, schreit mit lauter Stimme und verbietet den Frauen, im Schrein herumzusitzen und sich zu unterhalten. Der Innenraum des Schreins ist groß. Soweit ich das beurteilen kann, gibt es vier Gräber, von denen eines augenscheinlich geschmückter und von einem blauen Eisengitter umschlossen ist. Es gibt drei Bäume, aus deren Stämmen und Holz erkennbar wird, dass es sich um alte Bäume handelt. Die Bäume recken ihre Kronen gen Himmel und berühren schon fast die Decke, eine Holzdecke, die von Eisenpfeilern gestützt wird. Als ich die Bäume berühre, merke ich, dass sie voller Nägel sind, die in sie eingeschlagen wurden. Ich habe das Gefühl, dass die Bäume verletzt sind und leiden. Der Mann sitzt auf einem Stein und aus seinem Erscheinungsbild wird deutlich, dass es sich um den Mullah dieses Schreins handeln muss. Als ich frage, warum diese Nägel in die Bäume geschlagen wurden, antwortet er ohne zu zögern: „Die Leute haben die Nägel eingeschlagen. Leute, die krank sind oder Zahnschmerzen haben, kommen in den Schrein und schlagen die Nägel ein, um von ihrer Krankheit geheilt zu werden.“ Auf der anderen Seite gibt es große Töpfe vor Wänden, die bis zur Decke rußgeschwärzt sind. Laut den Worten des Mullahs haben die Menschen mit ihren Gaben, in der Hoffnung, dass ihre Gaben angenommen werden, mit zig Händen die Wände schwarz gefärbt. Neben den Töpfen brennen langsam Kerzen herunter und jeder, der kommt, zündet eine Kerze an. Die Kerzen brennen langsam ab und sind umgeben von geschmolzenen Kerzenstummeln. Der Mullah sagt, dass im Schrein vier Märtyrer begraben sind, die im Krieg gefallen sind und allesamt Sayyids (Nachfahren des Propheten Mohammed) waren. Viele Frauen sitzen alleine, einige auch mit ihren Kindern, auf dem Boden des Schreins. Sie teilen ihre Gaben untereinander und unterhalten sich, während sie sich das heiße Halwa in den Mund stecken. Ich gehe in Richtung des Eingangstores des Schreins. Eine Gruppe von Mädchen, augenscheinlich Studentinnen, betritt mit Tüten voller Essen den Schrein. Sie setzen sich auf eines der Gräber und beginnen, gierig zu essen.
Neben dem Eingangstor befindet sich noch ein weiteres Tor, das zu einem großen Hof führt. Der Hof ist voller großer und kleiner Gräber. Als ich den Hof betrete, sehe ich einen Mann auf einem Stuhl sitzend, umringt von weiteren Frauen, die ihm dabei zusehen, wie er die Perlen seiner Gebetskette dreht. Eine Frau sitzt weiter vorn als die anderen und sagt: „Herr Mullah! Mein Mann verhält sich mir gegenüber überhaupt nicht gut, können Sie mir ein Amulett geben?“ Während der Mullah seine Gebetskette weiterdreht, sagt er: „Das macht 100 Afghani. Komm am Samstag, um Dein Amulett mitzunehmen.“ Ein junges Mädchen mit hübschem Gesicht, tritt mit seiner Mutter vor den Mullah. Sich schämend und mit gebeugtem Kopf sitzt sie neben ihrer Mutter, die leise etwas zum Mullah sagt. Er schließt seine Augen und fängt wieder an, seine Gebetskette zu drehen. Als das Mädchen sich vom Mullah entfernt, nähere ich mich ihr und frage sie, was der Mullah ihr weisgesagt habe. Obwohl sie sich immer noch schämt, antwortet sie leise: „Ich habe drei Verehrer und weiß nicht, welchen von ihnen ich auswählen soll. Wir sind gekommen, um eine Weissagung zu erhalten, welchem von ihnen ich eine positive Antwort erteilen soll.“ Ich entferne mich von dem Mädchen und nachdem sie vom Mullah ihre Antwort erhalten haben, gehen sie. Ein anderes Mädchen, das sehr durcheinander wirkt, kommt mit einem Stapel Papier an und sagt zum Mullah: „Ich habe mich im Finanzministerium beworben. Können Sie mir vorhersagen, ob ich angenommen werde?“
Ich möchte gerade aus dem Schrein herausgehen als mein Blick auf ein Pärchen in einer anderen Ecke des Hofes fällt. Die beiden sitzen auf dem Boden, schauen sich verliebt an und sprechen über ihre Zukunftspläne. Als ich sie nach dem Grund ihrer Anwesenheit im Schrein frage, grinsen beide ruhig und sagen: „Es ist schon vereinbart, dass wir uns verloben werden. Ehrlich gesagt kommen wir zweimal pro Woche hierher, um uns zu sehen. Hier ist es ruhig.“ Ein anderes Paar lehnt, ohne von seiner Umgebung Notiz zu nehmen, an die Wand gelehnt und schaut einander an. Erneut möchte ich aus dem Schrein herausgehen, als zwei andere Mädchen ankommen, sich neben ein Grab setzen und hastig Pommes im Brot essen. Der schmale Gang des Schreins ist voller Mädchen, die entweder auf ihre Freunde warten oder aber zu zweit oder zu dritt beisammen stehen und sich unterhalten. Ein Mädchen hält wütend das Handy ans Ohr und sagt mit lauter Stimme: „Ich stehe hier schon seit einer Stunde, wo steckst Du?“ Ich gehe in Richtung von ein paar Mädchen, die mit Büchern in der Hand im Schrein herumstehen. Als ich sie nach dem Grund ihrer Anwesenheit an diesem Ort frage, antworten sie lachend: „Wir haben eine Prüfung. Der Kurs beginnt später und wir sind gekommen, um einander zu den Kursinhalten, die wir nicht verstanden haben, zu befragen.“
Fast die ganze Zeit über, die ich im Schrein verbringe, sehe ich kaum Männer hereinkommen. Es sind vor allem Mädchen hier, die aufgrund des Mangels an anderen geeigneten Orten in der Stadt den Schrein als sicheren Ort betrachten. Der Schrein der Märtyrer ist eher ein Ort, um sein Herz auszuschütten, ein Ort für Verliebte und ein Ort zum Speisen, als ein Pilgerort.
Mädchen und Frauen haben hier einen sicheren Ort für sich gefunden. Für uns als Bürger ist es eine Schande, dass Mädchen nicht selbstbewusst auf der Straße oder in der Gasse auf ihre Freunde warten können, dass sie nicht zusammen gehen oder etwas essen können. Diese Frauen kennen den Schrein als einen Ort, an dem sie sich entspannen können. In der Zeit, die ich im Schrein der Märtyrer verbracht habe, hatte ich das Gefühl, dass in dieser Stadt niemand zärtliche Gefühle ausdrücken oder sich verlieben oder in Ruhe kurz etwas essen kann. Das muss in einem Vakuum stattfinden. Dort (im Schrein) habe ich die Liebe, die Einsamkeit und die Ratlosigkeit gesehen, die aus den Blicken der Anwesenden sprachen. Ich trat aus dem Schrein heraus, der immer noch gut besucht war.