Ein unangenehmer Vorteil

Ein Beitrag von Lutz Rzehak

Das Gauhar-Shad-Mausoleum - Foto Lutz Rzehak (2005)

Das Gauhar-Shad-Mausoleum in Herat – Foto Lutz Rzehak (2005)

Reste blauer Fliesen an einer Kuppel aus gebrannten Ziegeln lassen den Glanz vergangener Zeiten erkennen. Immerhin: Das Gebäude steht noch. Die vier riesigen Minarette, die sich in unmittelbarer Nähe gekrümmt, aber hartnäckig gegen den Himmel strecken, als wolle jedes von ihnen dem schiefen Turm von Pisa seinen Ruf streitig machen, sind dagegen das einzige, was von der Moschee übrig geblieben ist, deren Ecken diese Minarette einmal säumten. Die Kuppel mit den Resten blauer Kacheln bedeckt das Grabmal jener Frau, die diese Minarette und die nicht mehr vorhandene Moschee vor mehr als einem halben Jahrtausend in Herat errichten ließ. Königin Gouhar Schad war eine Schwiegertochter Timurs des Lahmen und doch Großen. Aber nicht für weitläufige Feldzüge und kurzlebige Eroberungen, sondern für ihre außergewöhnliche Bautätigkeit wird diese Frau, deren Name “frohe Perle” bedeutet, als Bauherrin der architektonischen Perle Herat in froher Erinnerung behalten.

Lutz Gavhar Shad3

Am Fuß der Minarette – Foto Lutz Rzehak (2011)

Die Türen, die Einlass ins Innere des Grabmals gewähren sollen, sind verschlossen. Im Park sitzen drei Kinder auf einer Bank und vergnügen sich mit einem Rebhuhn, das etwas weniger vergnügt in einem aus Weidenholz geflochtenen Käfig sitzt. Ein Schild, das am Parkeingang steht, erklärt schließlich, warum zurzeit kein Einlass ins Innere des Grabmals gewährt werden kann:

Retiling of the Gowhar Shad Mausoleum.
Undertaken by UNESCO
with funds from the Government of Germany.
Implemented by Department of Historical Monuments of Herat.

Ein Symbol mit einem dreieckigen Dachportal im antiken griechisch-römischen Stil über dem Schriftzug UNESCO und eine viereckige Flagge mit parallel verlaufenden Streifen in Schwarz, Rot und Gelb (statt Gold) wurden in die oberen Ecken des Bauschildes gemalt und lassen auch jene Passanten, die kein Englisch lesen können, piktographisch verstehen, mit wessen finanzieller Hilfe die blauen Fliesen auf der Kuppel des Grabmals der frohen Perle von Herat restauriert werden.

Die Informationstafel zum Wiederaufbau - LutzRzehak (2005)

Die Informationstafel zum Wiederaufbau – Lutz Rzehak (2005)

Deutschland ist heute in Afghanistan vielerorts auch dort präsent, wo keine Soldaten der Bundeswehr und keine deutschen Entwicklungshelfer zu sehen sind. Kaum eine Gelegenheit wird versäumt, diese Präsenz wie auf diesem Bauschild auch visuell zu demonstrieren. Wer hilft, hat einen Anspruch, seinen Namen erwähnt zu wissen. Nur in der Kunst zeichnet sich Mäzenatentum noch durch vornehme Zurückhaltung aus. Deutschland kann ohnehin davon ausgehen, dass seine Präsenz in Afghanistan sehr gern gesehen wird. Afghanistan und Deutschland, so war in den vergangenen Jahren immer wieder aus den Medien zu erfahren, verbindet eine lange und enge Beziehung.

Jeder Deutsche, der schon einmal in Afghanistan war, wird erlebt haben, wie ihm Afghanen ihre ganz besondere Verbundenheit mit Deutschland versichert haben. Die dunklen strahlenden Augen, das freie und ungezwungene Lächeln, wie man es hierzulande, wo Reklamebilder selbst die Art unseres Lächelns zu diktieren vermögen, kaum mehr kennt, und die ungewohnte Wärme, die ein deutscher Afghanistanreisender nicht nur in den Augenblicken solcher Bekenntnisse erfährt, werden auch in ihm den Gefühlszauber einer ganz besonderen Verbundenheit entfacht haben.
Die Gründe für diese besondere Verbundenheit mit Deutschland sind vielfältig.

Aus historischer Perspektive wird von beiden Seiten gern auf die lange Tradition der kulturellen Beziehungen hingewiesen. Wo von der langen Tradition der kulturellen Beziehungen die Rede ist, wird meist zuerst und sicher zurecht die 1924 gegründete Amani-Oberschule erwähnt, an der über Jahrzehnte hinweg wie auch heute wieder (obgleich in einem geringeren Umfang als zuvor) mit personeller und fachlicher Unterstützung aus Deutschland eine dringend benötigte Elite herangezogen wurde und wird. Ohne das solide Fachwissen und ohne die meist nicht weniger soliden Deutschkenntnisse einiger Absolventen dieser Schule wäre das deutsche Engagement beim Wiederaufbau Afghanistans in der gegebenen Form heutzutage schwer vorstellbar. Kulturelle Zusammenarbeit zahlt sich, wie wir wieder einmal erfahren, oft erst langfristig, dann aber sehr nachhaltig aus.

Auch ein von den Medien viel beachteter Deutschlandbesuch des afghanischen Königs Amanullah im Jahre 1927 kann die lange Tradition dieser Beziehungen belegen, obgleich die Zeitungen in Deutschland, der eigenen Monarchie entledigt, dem Privatleben des afghanischen Monarchenehepaars damals nicht weniger Aufmerksamkeit schenkten als dem offiziellen Besuchsprogramm. So blieb ein bitterer Nachgeschmack, als im Anschluss an die Europareise Amanullahs in Afghanistan Bilder verbreitet wurden, die den in eine Militäruniform gekleideten König trinkend und seine in der Charleston-Mode der “wilden zwanziger Jahre” gekleidete Frau ohne Schleier zeigten. Wie so oft wurde die Moderne zuerst in ihren Äußerlichkeiten kopiert. Kurze Zeit später kam es zum allgemeinen Aufruhr, der 1929 in einem Aufstand gipfelte und zur Abdankung Amanullahs führte. Bilder sind selten die Ursache, aber oft ein Anlass für öffentlichen Aufruhr. Die Kleidungsgewohnheiten der Regenten wurden in Afghanistan jedenfalls nie mit vollkommener Gleichgültigkeit verfolgt. (Auch der heutige Präsident Hamid Karsai wird dies wissen, und dieses Wissen hat ihm im Mund seines wieder einmal nicht gleichgültig bleibenden Volkes sogleich den Beinamen Tschapan-Salar eingebracht, was so viel wie “Häuptling im Hirtenmantel” bedeutet.)

Die mit lauteren und unlauteren Mitteln unternommenen Versuche Hitlerdeutschlands, Afghanistan zu einer Abkehr von der im zweiten Weltkrieg erklärten Neutralität zu bewegen, um auch die auf dem fernen Subkontinent gelegenen indischen Besitztümer des britischen Königreichs leichter ins Visier nehmen zu können, beschreiben ein Kapitel ungebremst intensiver, aber aus heutiger Sicht weniger ruhmreicher Verbundenheit zwischen den beiden Ländern. Immerhin hatte diese ungebrochene Verbundenheit schon 1935 eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Expedition deutscher Wissenschaftler verschiedener Disziplinen in den Hindukusch ermöglicht, wo sich “die Reste ältester arischer Bevölkerung” ausgebreitet haben sollten. So steht es jedenfalls im Expeditionsbericht, der kurz vor Kriegsbeginn unter dem Titel “Deutsche im Hindukusch” veröffentlichte wurde. Kein Deutscher, der heute nach Afghanistan reist, möchte sich wohl in dieser Tradition sehen. Jeder Mensch ist froh, wenn etwas nicht angesprochen wird, wofür er sich schämt.

Wie zum Glück ist Forschung ein Bereich, der ohnehin seltener zur Sprache kommt, wenn von den Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan die Rede ist. Die internationale Afghanistanforschung weiß die Arbeiten deutscher oder in Deutschland ausgebildeter Orientalisten, Archäologen, Sprachwissenschaftler, Historiker, Ethnologen, Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen oder Geographen jedenfalls zu schätzen. Die Tatsache, dass sich diese Wissenschaftler in den folgenden Jahren, als es nicht mehr angesagt war, nach den Resten ältester arischer Bevölkerung zu suchen, auf zwei Länder verteilten, weil es unter anderem nicht mehr angesagt sein sollte, nach den Resten ältester arischer Bevölkerung zu suchen, hat ihrer Arbeit und ihrem Ansehen im Ausland und dabei auch in Afghanistan keinen Schaden zugefügt. Im Gegenteil. Erinnerungen an das westdeutsche Goethe-Institut in Kabul, an die Kabuler Außenstelle des Südasien-Instituts der Universität Heidelberg, an ein Studium der Veterinärmedizin in München oder Dresden sowie Erinnerungen an fünf Studenten der Humboldt-Universität zu Berlin (damals Hauptstadt der DDR), die ein Jahr lang an der Universität Kabul ihre Kenntnisse der Landessprachen Dari und Paschto aufbesserten, werden von afghanischen Wissenschaftlern gern im selben Atemzug genannt, wenn sie über ihre besondere Verbundenheit mit Deutschland sprechen.

Einige reden dann auch von Verwandten und Bekannten, die in Deutschland leben. Deutschland bietet fast 90.000 Menschen afghanischer Abstammung eine zweite Heimat, “mehr als jedes andere Land Europas” fasst das Auswärtige Amt die Statistik in einem Länderbericht zusammen. Die Frage, warum die Verwandten und Bekannten nicht zurückkehren, bleibt oft unausgesprochen. Oder sie wird nicht gedacht. Manche wollen die Hilfe nicht missen, die sie von Verwandten und Freunden mit der zweiten Heimat Deutschland erhalten.

Sehr viel Vorarbeit war also Jahrzehnte lang geleistet worden, bis die von den Vereinten Nationen vermittelten Gespräche über die Benennung einer Übergangsregierung nach dem Fall der Taliban ausgerechnet im idyllischen Ambiente eines Gästehauses auf dem 331 Meter hohen Petersberg bei Bonn stattfinden konnten. Schon die alten Augustinermönche wussten die friedvolle Atmosphäre dieser Region zu schätzen, als sie sich im 12. Jahrhundert auf diesem Berg niederließen. Manchmal zahlt sich eben auch fehlendes Engagement aus. Deutschland war eines der wenigen einflussreichen Länder, das nie Krieg gegen Afghanistan geführt hatte und das auch nicht zu den großen Drahtziehern und Hintermännern im Bürgerkrieg der 1990er Jahre gezählt wurde.

Das Ansehen Deutschlands im Ausland hat eine offizielle und eine inoffizielle Seite. Die Bautafel, die uns wissen lässt, dass die blauen Fliesen auf der Kuppel über dem Grabmal der frohen Perle von Herat mit deutscher Unterstützung restauriert werden, gehört zur offiziellen Seite. Auch die deutschen Soldaten, die in der Kabuler Innenstadt für Sicherheit und noch mehr Stau sorgen, wenn sie ihre Panzer halten lassen, um mit einem Händler Tee zu trinken, sind trotz der ungewöhnlichen Herzlichkeit dieser Geste wohl eher der offiziellen Seite zuzurechnen. Zur inoffiziellen Seite des Ansehens, das Deutschland im Ausland erfährt, gehören gewöhnlich der deutsche Fußball, deutsche Autos und deutsche Pünktlichkeit.

In Afghanistan werden vor allem japanische Autos gefahren und geschätzt. Nur wenige Menschen hatten Gelegenheit, die guten und schlechten Spiele der deutschen Nationalelf im Fernsehen zu verfolgen, weil sie entweder gar keinen Fernseher besitzen, weil der Strom für den Fernseher, den sie besitzen, fehlt oder weil sich nicht einmal die guten Spiele der deutschen Nationalelf gegen die Bildschirmkonkurrenz indischer Liebesfilme durchsetzen konnten. Und Pünktlichkeit ist in einem Land, wo die Menschen glauben, nichts in einem solchen Umfang zu besitzen wie Zeit, kein hoher Wert. In jeder anderen Hinsicht wird deutsche Verlässlichkeit aber auch in Afghanistan gepriesen. Marde-ra qaul ast – “Ein Mann, ein Wort!” huldigt ein Sprichwort, das auch wir kennen, aber inzwischen seltener benutzen, diese Tugend.

Ist Verlässlichkeit also das inoffizielle Codewort der besonderen Verbundenheit mit Deutschland, das zwischen den Zeilen der Bautafel geschrieben steht, die uns offiziell wissen lässt, dass die blauen Fliesen auf der Kuppel über dem Grabmal der frohen Perle von Herat mit deutscher Unterstützung restauriert werden? Einen Teil dieses Codes haben wir vielleicht entschlüsselt.

Wer die restlichen Zeichen des Codes der besonderen Verbundenheit mit Deutschland verraten bekommt, fühlt sich oft unwohl, denn er sieht sich von der deutschen Vergangenheit eingeholt, und ist froh, wenn er das Gespräch auf ein anderes Thema lenken kann. “Deutsche und Afghanen sind doch Arier”, bekommt man immer wieder zu hören, wenn die besondere Verbundenheit mit Deutschland begründet werden soll. Afghanen, die bereits Erfahrung im Umgang mit Deutschen besitzen, wissen vielleicht, dass sie einen Fauxpas begehen, und verzichten auf eine solche Erklärung. Man sagt einem Gast besser nichts, was ihn verstimmen könnte.

Gemachte oder gedachte Bekenntnisse dieser Art lassen sich schwerlich mit der anmaßenden Vorstellung abtun, am fernen Hindukusch, wo deutsche Wissenschaftler einmal die Reste ältester arischer Bevölkerung finden wollten, wisse man zu wenig von den politischen, militärischen und menschlichen Folgen arischen Rassenwahns.

So einfach kommt niemand davon.

Untersuchungen im Sinne einer physischen Anthropologie, bei denen die Menschen nach offensichtlichen und weniger offensichtlichen Körpermerkmalen untersucht und anhand gemeinsamer oder unterschiedlicher Merkmale klassifiziert, also in Gruppen eingeteilt werden, die man Rasse nennt, wurden in den 1930er Jahren nicht nur von der Deutschen Forschungsgemeinschaft forciert. Solche Forschungen waren damals auch in anderen Ländern en vogue, weil die rapide Entwicklung der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert (man denke an Mendelejews Tabelle chemischer Grundelemente, an die großen Entdeckungen der Physik und die technischen Erfindungen in ihrer Folge, man denke aber auch an Darwins Evolutionstheorie) einen Glauben an die Allmacht der Wissenschaft erzeugt hatten, der auch die Wissenschaften vom Menschen anspornte, nicht weniger präzise und beweisbar zu sein, und der Wissenschaft über jeden Verdacht der Missbräuchlichkeit erhaben machte. Wer denkt gleich an Gaskammern, wenn von Kraniologie die Rede ist? Wer weiß überhaupt, dass mit diesem unschuldigen Wort die Lehre von den physischen Merkmalen des menschlichen Schädels gemeint ist? Dabei haben die deutschen Wissenschaftler, die in den Hindukusch reisten, um die Reste ältester arischer Bevölkerung ausfindig zu machen, dort vor allem Köpfe vermessen und fotografiert.

Die Vermutung, solche Reste gerade dort finden zu können, hatten ihnen Sprachwissenschaftler nahegelegt. Nachdem bereits seit langem bekannt war, dass viele Sprachen zwischen Indien und Island Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten aufweisen, die sich anhand lateinischer, altgriechischer, altpersischer und altindischer Texte auch in historischer Perspektive nachzeichnen ließen, war klar, dass diese Sprachen auf ein und demselben Ast eines gedachten Stammbaums der Sprachen sitzen müssen. Seine Ausdehnung gab diesem Ast seinen Namen: indogermanisch sagte man vor allem im deutschsprachigen Raum, anderenorts wurde und wird die Bezeichnung indoeuropäisch bevorzugt.

Forschung folgt bisweilen einer eigensinnigen Logik. Der Chemiker klassifiziert die Grundelemente in ihrer reinsten, also unvermischten Form, der Physiker möchte bei seinen Experimenten alle Nebenfaktoren ausschließen, die seinen Versuch verfälschen könnten, und wenn dies unmöglich ist, muss er die Nebenfaktoren widerwillig in seine Berechnungen einbeziehen. Auch der historisch interessierte Sprachwissenschaftler möchte Sprachen am liebsten in ihrer reinsten und unverfälschten Form untersuchen. Aber Sprachen sind selten das, was so ein Wissenschaftler als rein und unverfälscht bezeichnen würde. Sie durchmischen sich und nehmen gern Elemente anderer Sprachen auf: Wörter, Laute, Schriftsysteme, ja sogar grammatische Strukturen. Ganz nach dem Motto: Wenn der Nachbar etwas hat, das ich nicht habe, aber schön und nützlich finde, möchte ich es auch haben.

Nicht im Hindukusch. Genauer: Nicht überall im Hindukusch. Schon vor Hunderten oder Tausenden von Jahren hatten sich Menschen in einige hohe und abgelegene Täler dieses Gebirges zurückgezogen, die man bis heute nur zu Fuß erklettern kann. Hier lebten diese Menschen so abgeschieden, dass ihnen nur selten und kaum über einen ausreichend langen Zeitraum hinweg andere Sprachen begegneten, die ihnen etwas bieten konnten, das auch die in den abgelegenen Hochgebirgstälern lebenden Menschen schön und nützlich genug gefunden hätten, um es in ihre Sprachen zu übernehmen. Nicht einmal den islamischen Glauben konnten sie schön und nützlich genug finden, um ihn freiwillig zu übernehmen. In einer Negativdefinition wurden diese Menschen von ihren Nachbarn, die sie aber nur selten zu Gesicht bekamen, deshalb als Kafiren, also “Ungläubige”, bezeichnet und ihr Land als Kafiristan. Im späten 19. Jahrhundert sollten sie ihre Nachbarn schließlich doch noch richtig zu Gesicht bekommen, als diese eine Insel der Ungläubigen im Innern ihres inzwischen geeinigten Landes nicht mehr dulden wollten. So wurden die Kafiren von ihren Nachbarn und einem Emir, der noch heute gern mit dem Attribut “Eisern” versehen wird, unterworfen und zum Islam bekehrt. Ob dieser Erleuchtung erfuhr ihr Land eine Segnung mit dem Ehrentitel Nuristan, “Land des Lichts”.

Erleuchtet sahen sich auch Sprachwissenschaftler, als sie von Menschen erfuhren, die Jahrhunderte lang so isoliert gelebt haben sollen, dass ihnen nur selten und kaum über einen ausreichend langen Zeitraum hinweg andere Sprachen begegneten, die ihnen etwas bieten konnten, das diese Menschen schön und nützlich genug gefunden hätten, um ihre eigenen Sprachen damit zu verfälschen. Da die Urheimat der Indoeuropäer ganz in der Nähe vermutet wurde, lag die verlockende Vorstellung nahe, diese Menschen könnten in seiner reinsten und unverfälschten Form bewahrt haben, was als Protoform anderer indoeuropäischer Sprachen gilt.

Sprachen sind merkwürdige Dinger. Sie ändern sich nicht nur, wenn der Nachbar etwas zu bieten hat, das man selbst nicht besitzt, aber schön und nützlich findet und zu übernehmen bereit ist, Sprachen wandeln sich auch aus einer inneren Antriebskraft heraus. Später wurde bekannt, dass die Sprachen von Kafiristan, das man inzwischen Nuristan nennen sollte, nicht mehr und nicht weniger Ursprüngliches in seiner reinsten und unverfälschten Form bewahrt hatten als andere Sprachen auch. Dafür konnte ein neuer Zweig auf dem indoeuropäischen Sprachenast ausgemacht werden, der irgendwo zwischen dem indischen und dem iranischen Sprachenzweig gewachsen war.

Auch die Vertreter des unschuldig klingenden Faches Kraniologie mussten einiges dazu lernen, als sie mit ihren Schädelmessgeräten und Fotoapparaten loszogen, um im Hindukusch und seinen Nachbarregionen die Reste ältester arischer Bevölkerung zu suchen. Im selben Jahr, als Deutsche in dieser Mission im Hindukusch unterwegs waren, führte ein sowjetisches Institut für experimentelle Medizin in Taschkent ähnliche Untersuchungen unter der einheimischen Bevölkerung Mittelasiens durch. Physische Anthropologie in diesem Sinne war damals eben nicht nur in Deutschland en vogue, und die Urheimat der Indoeuropäer wurde ohnehin irgendwo in Mittelasien vermutet. Die Taschkenter Kollegen der Deutschen im Hindukusch kamen bei ihren Vermessungen aber zu einem verblüffenden Ergebnis: Von allen einheimischen Bevölkerungsgruppen Mittelasiens entsprachen dem, was nach damaliger Vorstellung den arischen Menschentyp ausmachen sollte, am ehesten die bucharischen Juden.

Der arische Typ hat sich selbst ad absurdum geführt. Nicht nur in Afghanistan. Jedenfalls hat sich Forschung auch dann irgendwie gelohnt, wenn herausgekommen ist, dass es nicht geben kann, wonach gesucht wurde.

Wenn da nicht noch die verfluchte Geschichte mit dem Namen und seinen verschiedenen Bedeutungen wäre! Der iranische Zweig auf dem indoeuropäischen Ast unseres gedachten Sprachenbaums wird in Afghanistan, wo einige dieser Sprachen gesprochen werden, nämlich nicht wie bei uns “iranisch” genannt, sondern ariai, also “arisch”. Dabei steht er so dicht neben dem indischen Sprachenzweig, dass man denken möchte, beide Zweige seien miteinander vergabelt und derselben Stelle des indoeuropäischen Sprachenastes entsprungen. Nicht nur der Baumkundler versteht, was der Sprachenkundler mit diesem Bild sagen möchte: Die Urahnen der Menschen, die heute iranische Sprachen sprechen, die man in Afghanistan aber lieber als arische Sprachen bezeichnet, und die Vorfahren der Menschen, die heute indische Sprachen sprechen, müssen einmal eng verwandte, vielleicht sogar ganz ähnliche Sprachen gesprochen haben. Sie sollen sogar einmal in derselben Region gelebt haben, bis ein Teil von ihnen aufbrach, den Subkontinent zu erobern, andere sich über Vorder- und Mittelasien verteilten und einige sogar die entlegensten Täler des Hindukusch erklommen. Diese Urheimat – kein Wort hat sich bisher als schön und nützlich genug erwiesen, um diesen nach viel Staub klingenden Begriff zu verdrängen, der nun zum dritten Mal in diesem Text verwendet werden muss – diese Urheimat also nannte man nach dem Namen derer, die dort lebten, Ariana, also “Land der Arier”.

Von einer inneren Antriebskraft zum Wandel getrieben, nahm dieser Name im Persischen später die Form Iran an, in der er schön und nützlich genug befunden wurde, um dem Land der Perser einen alten Namen in einer neuen Form zu geben.

Wie nicht nur der Afghanistanreisende weiß, trägt die afghanische Luftfahrtgesellschaft heute denselben Namen, aber in seiner ursprünglichen Form Ariana, denn die neue Form wird schon lange von anderen in einer anderen Bedeutung verwendet. Außerdem klingt die ursprüngliche Form älter, und in einem Land, wo historische Größe gern aus historischer Tiefe hergeleitet wird, ist eine Entscheidung für das Ursprüngliche und Genuine mehr als nur sprachliches Accessoire. Wie einige Afghanistanreisende wissen, trägt in diesem Land deshalb auch manche Herberge den Namen Ariana, deren afghanische Bezeichnung “Hotel” allerdings keineswegs immer das verspricht, was sich ein europäischer Reisender erhofft, wenn er dieses Wort hört.
Immer wieder die verfluchte Geschichte mit den Namen und ihren verschiedenen Bedeutungen! Da muss jemand erkennen, dass nicht zu finden ist, wonach er sucht, obwohl es dort, wo er sucht, etwas gibt, das genau so heißt wie das, was er sucht.

Gouhar Schad, die frohe Perle von Herat, hat von all diesen Irrungen und Wirrungen nichts mitbekommen. Sie ruht in ihrem Grabmal unter einer Kuppel, deren blaue Fliesen heute endlich restauriert werden. Mit deutscher Unterstützung, wie die Bautafel am Mausoleum in Wort und Bild verrät. Ob es sich dabei um arische Brüder und Schwestern handelt oder nicht, wäre ihr so ziemlich egal. Vielleicht nicht ganz. Als Schwiegertochter Timurs des Lahmen und doch Großen würde sie heute ihre Brüder und Schwestern vielleicht eher unter Turken und Türken suchen.

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