Fitrats kleine Kapitalismusschule

1991 ist der Kommunismus mit dem Ostblock untergegangen. 2008 starb der Kapitalismus. Als ich ein junger Student der Wirtschaftswissenschaften war, gab es einen großen Streit zwischen den Sozialisten, die an eine zentrale Planwirtschaft glaubten und den Hayekianern, oder Liberalisten, die auf das Wunder des Marktes setzten. Die Befürworter der Marktwirtschaft argumentierten, dass der Kapitalismus ein evolutionärer Kampf sei, in dem die Stärksten siegen und die Schwächeren, die weniger produktiv und profitabel sind untergehen … die Rettungspakete die für die Banken nach 2008 geschnürt wurden, waren so etwas wie umgekehrter Darwinismus. Je erfolgloser die Banker und je größer die Verluste ihrer Bank waren, desto größer war auch die Unterstützung von Seiten der Steuerzahler, und desto erfolgreicher wurde dem Rest der Gesellschaft das Geld aus der Tasche gezogen.
(Yanis Varoufakis, 2014, Der Kapitalismus (4/6) 47:00-48:20, arte)

110es Geburtsjubiläum Abdurauf Fitrats 1996

Briefmarke zum 110. Geburtsjahr ‘Abdurauf Fitrats im Jahr 1996

Gut 100 Jahre früher machte sich in Buchara ein junger Intellektueller ebenfalls Gedanken über den Kapitalismus, der, in Gestalt des zarischen Russlands dabei war, die Gesellschaft seiner Heimat zu zerstören. Im Jahr 1913 veröffentlichte  ‘Abdurauf Fitrat zwei theoretische Essays in der Zeitschrift Āʿīna. Diese wurde in den Jahren 1913 bis 1915 von Mahmud Xo’ja Behbudi in Samarkand herausgegeben. In “Der Profit” und in “Das Leben und das Ziel des Lebens” beschäftigt sich Fitrat mit den Grundlagen und Besonderheiten der menschlichen Gesellschaft. Den Lesern und Hörern präsentiert Fitrat in den beiden Essays eine auf europäischen Theorien beruhende Entwicklungstheorie, die sich von den traditionell in diesem Raum herrschenden Vorstellungen von Welt deutlich unterschied. Die einer Gesellschaft zu Grunde liegenden Mechanismen stellte er dabei als allgemein gültig, wissenschaftlich erklärbar und rational nachvollziehbar vor. An der Richtigkeit und Notwendigkeit dieser Herangehensweise gab es für Fitrat keinen Zweifel. Durch Überzeugungsarbeit sollte der für nötig erachtete strukturelle Wandel der islamischen Gesellschaft in Buchara und Russisch Turkestan initiiert und die Menschen dieser Region auf die veränderten Rahmenbedingungen der neuen Epoche vorbereitet werden.

Übersetzung des ersten Teils des Essays Der Profit (Āʿīna: Nr. 4. 1913. S.99-100) von ‘Abdurauf Fitrat:

Der Profit (Manfaʿat)

Die Welt ist ein einziges Schlachtfeld, auf dem alle Lebewesen von der Fliege bis zum Elefanten in äußerster Unruhe damit beschäftigt sind auszuteilen und einzustecken. Die Menschheit [ist] eine Gemeinschaft ausgezeichneter Kämpfer auf diesem Platz. Damit du dir einmal von einem Teil der Existenzkämpfe der Menschheit eine Vorstellung machst – komm! – lass uns in Gedanken eine Stunde auf Weltreise gehen.

Als wir nun aus der Stadt draußen waren, stiegen wir in einen Eisenbahn-Wagon…
Streck mal den Kopf aus dem Fenster und schau dir diese grenzenlose Wüste an, wie sie ihre Reinheit und Ebenheit zur Schau trägt! Und schau, in dieser ganzen weiten Wüste gibt es kein grünes Blättchen! Vor einer Woche aber war diese flache Wüste voll mit verschiedenen Gewächsen, die in völliger Freiheit von der Wärme der überfließenden Sonne profitierten. Nur weil sie ihnen zu nichts nutzten, haben sie sie beseitigt.

Schau dir diesen Berg an, der mit seiner ganzen Würde uns gegenüber liegt. Nur weil er ihrer Eisenbahn im Weg stand, haben sie mit Schwarzpulver unbarmherzig seine Brust zerrissen. Heb mal den Kopf! Diesen Drachen der Lüfte, den Du siehst, nennt man Ballon; er ist, auch wenn es die Wortwahl nicht ganz trifft „im Fluge“, und er ist ein Abkömmling des Verstandes und der Weisheit deiner Mitmenschen. Man hat ihn nicht dafür erfunden, um die Gebete des [Himmel]Reiches [besser] zu hören, sondern um von oben herab selbst Feuer auf die Köpfe der Feinde regnen zu lassen. Steig aus dem Wagon aus! Lass uns aufbrechen und in dieser bedeutenden, uns gegenüber liegenden Stadt einen Spaziergang machen…

Dieser Almanach, der gerade frisch aus dem Druck gekommen ist, kauf ihn, lies ihn und dann sieh dir an, wie viele Millionen Menschen die Bewohner dieser Stadt im Laufe eines Jahres für die Ruhe ihres Magens in den Staub der Verderbnis schleuderten.
Komm schlendere auch ein wenig im Inneren dieser Fabriken, von denen jede die Größe einer Stadt hat, und schau dir die Fähigkeit der Menschheit an, sie ist ein Beispiel für die Unermesslichkeit Gottes.
Der Lärm dieses beindruckenden Triebrades, dessen Respekt einflößender Anblick dir ins Gesicht geschrieben steht, ist durch die Handlung eines Kindes von deiner Art, wie du siehst, ständig im Schwange. Und dieser arme Mensch, für dessen Zustand du Mitleid empfindest, ist unter dem Vorwand der Tagelöhnerarbeit in ständiger Bewegung. Weißt du denn nicht was diese Fabriken herstellen? Geschütze, Gewehre, Granaten, Pulver … mit anderen Worten, den Tod! Weshalb sie das tun?!
Damit die Menschen dieses Reiches im Daseinskampf, dem sie natürlich unterworfen sind, nicht unterliegen. Sonderbar? [Du fragst] was der Grund ist für diese fortwährenden Kämpfe?!
Es ist der Profit [Manfaʿat]!

Ja, ebendiese Beobachtung lässt der Profit zu, dass er die Menschen zur Verübung jeder Tat anstiftet. Ungeachtet dessen, muss man diejenigen, die nach Profit streben nicht allgemein verurteilen, weil nämlich das Verlangen nach Profit ein natürliches Bedürfnis der Menschen ist. Ein Gesichtspunkt, der großer Genauigkeit bedarf, ist die Beschreibung dessen was wir unter Profit verstehen. Untersuchen wir also den Gegenstand von ebendieser Warte:
Gewinn [manāfaʿ] besteht aus zwei Teilen – dem allgemeinen Gewinn und dem privaten Gewinn. Der allgemeine Gewinn ist jener, durch den eine Nation gemeinschaftlich einen Nutzen [fāʿida] zieht oder im Ganzen ihren Kragen rettet aus dem Verderben. Diesen Nutzen nennt man auch nationalen Gewinn.

Privatgewinn, ist der Nutzen, der einem Einzelnen der Individuen einer Nation und eines Stammes zukommt, oder aber der Schaden, den er anrichtet. Eben diesen nennt man auch privaten Gewinn.
Die Menschen haben im Verlauf des Studiums des Gewinnes [Manāfaʿ] unterschiedlich gedacht: Einige von Ihnen erkennen ihren persönlichen Gewinn im nationalen Gewinn, und sie erachten jeden Gewinn, der nicht der Nation zugute kommt, als Schaden.

Fortsetzung folgt…

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