Leben im Amudarja-Delta

Text zur Ausstellung am Mauritianum Altenburg, Olaf Günther, Thomas Loy

 

Die Betrachtung von Wasserläufen in Zentralasien ist immer wieder ein Thema, auch wenn, wie neulich bei einem Papier der Konrad Adenauer Stiftung, meist nicht viel mehr als eine Zukunftswarnung dabei herauskommt. Im Mittelpunkt heutiger Betrachtungen stehen oft die Steppenendseen, wie der Balchasch See in Kasachstan und der Aralsee in Usbekistan und Kasachstan. Wie wenig jedoch über das Leben in den Deltaregionen von versandenden Steppenendseen bekannt ist, das zeigen einige historische Beispiele.

Kanal

Die Wirtschaft im Amu Darja Deltagebiet basierte auf Wasser

Wer zum Beispiel Sven Hedins Reisebeschreibungen (Im Herzen von Asien, Brockhaus 1903) liest, findet hier beredte Beschreibungen vom Befahren des Tarim Flusses und dem Aussehen des Lop Noor Sees. Nach der Kartierung von Hedin, hatte dieser eine stattliche Größe und ein reges Leben an seinen Ufern. Die Leute nutzten hier, wie am Oberlauf des Amudarjas aufgeblasene Schaffellflöße, um sich auf dem Fluss zu bewegen. Nun etwa 150 Jahre später wissen wir so gut wie nichts mehr vom Leben am Lop Noor See. Die Menschen, die hier als Fischer arbeiteten sind abgewandert oder gestorben. Das ganze Gebiet ist nunmehr Atomwaffentestgelände der Chinesischen Regierung.

Seen verschwinden, Flußläufe auch, im Tarimbecken in Xinjiang hat sich menschliches Leben deshalb weitestgehend vor der Wüste Taklamakan zurückgezogen. Sie ist eine der unwirtlichsten und größten Wüsten Asiens. Auch aus dem größten Teil des Aralsees wurde mittlerweile eine Wüste – die sogenannte Aralkum.

Was mit dem Amudarja in Uzbekistan und Karakalpakistan passieren wird, dass wissen wir nicht. Im Laufe eines gemeinsamen Forschungsprojektes des Zentralasien Seminars der Humboldt Universität zu Berlin und der Akademie der Wissenschaften Karakalpakstan zu den Erinnerungen der im Amudarjadelta lebenden Menschen an den Aralsee und die drastischen Veränderungen ihres Lebensraums, zeigte sich jedoch, dass das Verschwinden des Steppenendsees in der Wahrnehmung der Bevölkerung viel weniger wichtig ist, als die Wasserproblematik entlang des Flusses.

Aber wie sah eigentlich in den letzten Jahrhunderten das Leben im Amudarja Delta aus? Wie hat sich hier das Leben und Wirtschaften der Leute abgespielt und wie kamen die Menschen damals mit den in einem Flußdelta immerwährenden Umweltveränderungen zurecht?

Leben im Flußdelta von c.a. 1600 – 1930

Ende des 17. Jahrhunderts änderte der Amudarja wieder einmal seinen Lauf. Der Chan von Chiwa reagierte auf diese Laufänderung, in dem er einen neuen Hauptkanal graben ließ, der das Wasser des Amu-Darja abzweigte und weiter nach Westen in Richung Ust Jurt Plateau führte. Das Land, das hierdurch entstand, war südseitig vom Kerngebiet des Fürstentums durch Kanäle getrennt. Es machte den Eindruck einer Insel (türk. Orol), wodurch die Region und der See ihren bis heute geläufigen Namen bekamen.

3Jurten-Hühner

Jurten im Deltagebiet, Hühner zeigen die Ethnie an: Karakalpaken

Zur gleichen Zeit kamen immer mehr türksprachige Gruppen aus dem Chanat in den Norden, auf die neu gewonnenen Ackerbauflächen und liessen sich hier nieder. Heute spricht man von ihnen als von den Aral Usbeken. Um den Amu-Darja zu beherrschen, mussten immer wieder Deiche errichtet werden. Dämme aus Lehm und Tamariskengestrüpp (Saxaul) leiteten das Wasser in Kanäle. Diese waren bis zu 10 Kilometer lang und durchzogen das gesamte Deltagebiet. Neben dieser wasserregulierenden Funktion waren die Kanäle die Haupttransportwege für das gesamte Gebiet. An dieser Situation änderte sich auch unter der russischen Herrschaft nichts.
Viehzüchternomaden (Kasachen, Kirgisen oder Turkmenen) weilten mit ihren Schafen, Kamelen und Pferden im Deltagebiet nur im Winter und wanderten für die Sommermonate zum Teil mehrere hundert Kilometer im Jahr in die saftigen Berggegenden des Tienshans in den Süden. Die Deltabewohner im Amu Delta, überwiegend Karakalpaken, betrieben eine ortsgebundene Mischwirtschaft aus Ackerbau, Viehzucht, Fischfang und Jagd. Anders als bei den übrigen Turkvölkern bestanden ihre Herden vor allem aus Rindern. Auch Pferde gab es bei ihnen nur wenige. Die Bewegungen der Karakalpaken waren stark an das Wasser des Amu-Darja gebunden. Immer dort, wo das Wasser Wohnen und Wirtschaften zuließ, siedelten die Karakalpaken.

Dorf im Deltagebiet, c.a. 1950

Dorf im Deltagebiet, c.a. 1950

Wie die andern nomadischen Gruppen Zentralasiens lebten Karakalpaken in Jurten. Da sie aber nicht über Schafe und damit über Wolle zum Filzen verfügten, nutzten sie das überall üppig wachsende Schilf, um die Wände ihrer mobilen Behausungen zu bedecken. Auf den von Ochsen gezogenen Viehkarren bewegten sich die Karakalpaken durch die nassen Marsche des Amudarja- Deltas. Den Frühling und Sommer über wurden die großen Rinderherden ins Schilf getrieben. Waren die Felder abgeerntet, gehörte den Rindern der Rest. Im Winter wurden sie mit Stroh, getrocknetem Schilf und mit Sorghum versorgt.

Die Wirtschaftsform im Amudelta war damit auch im Vergleich zu den sesshaften Oasenkulturen Zentralasiens einzigartig. Die immer wiederkehrenden Überschwemmungen des Amudarja waren Segen und Fluch zugleich. Einerseits gab es durch die Überschwemmungen enorm viel fruchtbaren Boden im Deltagebiet, andererseits zwang der über seine Ufer tretende Fluss die Karakalpaken oftmals dazu, dass zuvor bestellte Land ohne Ernte wieder aufzugeben. Dennoch blieb der Ackerbau unabhängig von den Rinderherden, die beutendere Ressource ihrer Wirtschaftsweise. Bei ihnen war der Ackerbau nicht nur eine untergeordnete Zusatzwirtschaft oder Notbehelf verarmter Viehzüchter. Um die durch die Unwägbarkeiten des Flusses entstehenden Risiken auszugleichen, entwickelten die Karakalpaken eine weitere Kulturtechnik, die bei anderen Turkvölkern durchaus selten ist: den Fischfang.

Schiffahrt auf Kanälen, überall das wichtige Schilf

Schiffahrt auf Kanälen, überall das wichtige Schilf

In den Flüssen und an der Küste gefangener und gehandelter Fisch war eines der Hauptnahrungsmittel der Karakalpaken. Der Fischreichtum des Amudarjas und des Aralsees erlaubte ihnen in Zeiten landwirtschaftlicher oder viehzüchterischer Krisen die Schwierigkeiten des Nahrungsmittelerwerbes zu meistern. Landwirtschaft, Rinderhaltung und Fischfang nach den jeweils aktuellen Gegebenheiten zu nutzen, war eine der Besonderheiten, die die Geschichte der Deltawirtschaft bestimmten. Gelegentlich wurden zudem Wolf, Fuchs und Biber sowie andere zahl- und artenreich im Delta lebende Wildtiere gejagt.

Jagd im Schilf

Pelztierjagd im Schilf

Aufbau – Kanalbau und der Traum vom “weißen Gold”

Seit der Eroberung des südlichen Zentralasiens in den 1860er bis 1880er Jahren träumten Beamte, Ingenieure und Wissenschaftler des Russischen Reiches und später der Sowjetunion in Zentralasien den Traum vom “weißen Gold” und von der für den flächendeckenden Anbau von Baumwolle notwendigen Erweiterung der Bewässerungssysteme über die existierenden Flussoasen hinaus.

Lager zum Ausbau der Wüste

Lager zum Ausbau der Wüste

1929 wurde in der Sowjetunion der erste 5-Jahresplan aufgelegt. Für Zentralasien bedeute dies zweierlei: Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und gleichzeitige Sesshaftmachung der nomadischen Bevölkerung. Ab 1936 erfolgte auch in Karakalpakstan der Ausbau der Bewässerungsinfrastruktur. Gleichzeitig wurde im Amudarja-Delta der Anbau von Baumwolle, der dort bis dahin nur in geringem Umfang betrieben worden war, zum Hauptwirtschaftszweig.

In diesem Zusammenhang wurden auch erste Industrieanlagen in der Region errichtet. In den 1950er und frühen 1960er Jahren erreichte die radikale sowjetische Umgestaltungspolitik und Machbarkeitsphantasien ihren Höhepunkt. “Chemisierung der Landwirtschaft” und “Angriff auf die Wüste” waren die Vorboten der bevorstehenden ökologischen und sozialen Katastrophe. Großprojekte wie der 1954 begonnene Bau des Karakum-Kanals waren dann die reale Umsetzung dieser rücksichtslosen Politik.

Fischaufzug zur Konservenfabrik

Fischaufzug zur Konservenfabrik

Der Karakum-Kanal ist über 1400 km lang und zweigt über 40% des Amu-Darja-Wassers nach Turkmenistan ab, lange bevor es das Flussdelta erreicht. Da dieser gigantische Kanal über weite Strecken kein betoniertes Bett aufweist und offen verläuft, verdunstet und versickert etwa die Hälfte des abgezweigten Wassers bis heute auf seinem Weg durch die gleichnamige Wüste.

Althergebrachte Traditionen und Techniken eines sensiblen Umgangs mit Wasser hielten in Zentralasien der modernen Sowjetphilosophie, sich die Natur “Untertan” zu machen, nicht stand.
Der Staat handelte in der Wasserfrage alles andere als nachhaltig. Vorrangiges Ziel war die flächendeckende, wasserintensive Baumwollproduktion. Für 1 Kg geernteter Baumwolle werden etwa 1000 Liter Wasser benötigt. Wasser war in sowjetisch Zentralasien kostenlos und die moderne Technik ermöglichte es, Wasser in alle möglichen Regionen zu pumpen. Ein angemessener Umgang mit der Ressource Wasser schien daher nicht mehr angebracht. Die verheerendsten Projekte wurden damit gerechtfertigt, dass sie nötig seien, dem Kommunismus so schnell wie möglich zum weltweiten Sieg zu verhelfen. “Wir befanden uns mitten in einem Krieg, in dem alles daran gesetzt wurde, den Sieg zu erringen. Fehler seien dabei in Kauf zu nehmen, da man diese später immer noch korrigieren könne.”

Der Aralsee begann zu schrumpfen und auch in der gesamten Deltaregion veränderte sich die Natur unaufhaltsam. Aus einem von Wasser, Schilf und Schwemmland geprägten Lebensraum wurde eine in Baumwollfelder eingeteilte Ödnis.

Ab den 1980er Jahren war an allen Ufern das Wasser dauerhaft verschwunden

Ab den 1980er Jahren war an allen Ufern das Wasser dauerhaft verschwunden

Seit den 1980er Jahren stand das westliche Zentralasien dann im Zusammenhang mit Wasserübernutzung und starker Bodenbelastung mit Pestiziden und künstlichem Dünger als negatives Lehrbeispiel im Brennpunkt der internationalen Aufmerksamkeit. Lokaler Widerstand in der Sowjetunion regte sich bereits in den späten 1960er Jahren. Mittlerweile werden auch die Auswirkungen auf das Regionale- und das Weltklima thematisiert. Nach dem Ende der Sowjetunion haben sich die Wasserprobleme vor allem für die Bevölkerung im Amu-Darja-Delta noch weiter verschärft.

Kinderschaukel auf dem Hof

Kinderschaukel auf dem Hof

War die Wasserverteilung zu Sowjetzeiten noch zentral geregelt, streiten sich seit dem Beginn der 1990er Jahre die nunmehr unabhängigen Nationalstaaten um diese lebenswichtige Ressource. Internationale Abkommen über maximale Wasserentnahme werden von den Flussanrainern selten eingehalten und sind kaum zu kontrollieren. Seither wird kaum mehr Sorge getragen, dass noch genügend Wasser im Delta ankommt. Selbst Taschkent ist mehr daran interessiert, seine südlich gelegenen Baumwollanbauregionen zu bewässern, als sich um die Lebensbedingungen der Bevölkerung Karakalpakstans zu kümmern. In Taschkent interessiert man sich jedoch vor allem für die Rohstoffe Karakalpakstans. Öl- und Gasvorkommen unter dem verlandeten Seeboden sowie an dessen Westküste, dem Ustyurt-Plateau, versprechen hohe Einnahmen. Eine staatliche Strategie ist demnach das Angebot zur Umsiedlung der Bevölkerung Karakalpakstans, vorwiegend Karakalpaken und Kasachen, nach Zentralusbekistan. Dass die Deltabewohner relativ wenig mit den Menschen in der Region Taschkent oder im Ferghanatal verbindet, spielt bei diesen staatlichen Überlegungen keine Rolle.

Wo früher stattliche Kanäle waren, sind heute Rinnsale

Wo früher stattliche Kanäle waren, sind heute Rinnsale

Den Bewohnern im Amu-Delta wird derzeit das Wasser knapp. Selbst in Nukus, der Hauptstadt der Autonomen Region Karakalpakstan, wird für die knapp 250.000 Einwohner das Wasser auch in wasserreicheren Jahren nur stundenweise freigegeben. Auf den Dörfern und in den nördlich gelegenen Gebieten sieht es sogar noch schlechter aus. So geht es für die Bewohner der Deltaregion schon lange nicht mehr um den Aralsee, sondern um ihr tägliches Überleben.

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