Trauerzeremonien (Sugwari) – Im Monat Muharram in Buchara und Samarkand

Ein Beitrag von Massud Hosseinipour
(aus dem Persischen übersetzt von Th. Loy)

Trauerprozession und Selbstgeißelung in Buchara vor 95 Jahren (aus O. Suchareva: "Buchara im 19. Und frühen 20. Jahrhundert".

Trauerprozession und Selbstgeißelung in Buchara vor 95 Jahren (aus O. Suchareva: “Buchara im 19. Und frühen 20. Jahrhundert”.

Ein viertel Jahrhundert ist seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Untergang der Sowjetunion mittlerweile verstrichen. Aber die Eroberung Mittelasiens durch das Russländische Reich, die in der Folge davon gezogenen politischen und ethnischen Grenzen und 70 Jahre bolschewistische und sowjetische Herrschaft haben tiefe Spuren hinterlassen und zwischen uns (Iranern) und unserer anderen, mittelasiatischen Hälfte einen bis heute kaum überbrückbaren Graben gezogen. Wir hören zwar unsere Stimmen, aber klar sehen können wir uns bis heute nicht. Städtenamen wie Buchara, Samarkand und Chudschand versetzen uns (Iraner) in Verzückung und auch ihre Augen leuchten, wenn von Iran die Rede ist. Sie wollen mehr über uns und unsere Geschichte in Erfahrung bringen, und auch wir wollen wissen, was ihnen widerfuhr und heute widerfährt. Doch oft genug bleibt undurchdringlicher Nebel.

Bei uns (in Iran) gedenkt man mindestens einen Monat im Jahr an die Opfer von Kerbala. Ob das die Schiiten in Samarkand und Buchara wohl auch so halten? Zu dieser Frage gibt es bereits einige Artikel in iranischen Zeitschriften. Diese Berichte, wie auch die Schilderungen von Freunden und Bekannten in Mittelasien haben mich dazu bewogen, in diesem Jahr kurzentschlossen zu Muharram nach Uzbekistan zu reisen.

Muharram fiel in diesem Jahr (1394) auf den Monat Aban und damit auf den Beginn der kalten Jahreszeit. Das Thermometer sank bis Mitte des Monats mitunter auf den Gefrierpunkt. Aber beißender als die Kälte traf mich die Nachricht, dass in diesem Jahr aufgrund der verschlechterten Sicherheitslage – wie in vielen anderen Ländern weltweit – auch in Uzbekistan die verschärften Sicherheitsmaßnahmen galten und besondere Maßnahmen ergriffen wurden – wie zum Beispiel das Verbot religiöse Zeremonien aller Art zu filmen oder zu fotografieren. Diese „anti-Terror“ Maßnahme betraf auch ausländische Gäste und selbst wenn diese davon ausgenommen gewesen wären, hätten es die einheimischen Teilnehmer solcher Zeremonien sicher mit großem Argwohn gesehen, wenn Kameras auf sie gerichtet worden wären. Dieses Verbot betraf in Usbekistan selbstverständlich nicht nur die schiitischen Zeremonien, sondern auch Sunniten – etwa deren wöchentliche Versammlungen zum Freitagsgebet. So blieb mir nur das Auge und der Stift, um das Gesehene festzuhalten.
Die Religiosität der Muslime Uzbekistans (Schiiten und Sunniten gleichermaßen) überrascht und erstaunt mich auf jeder meiner Reisen aufs Neue. Dabei ist diese tiefe Religiosität in allen Schichten der Gesellschaft zu beobachten und beschränkt sich nicht auf eine spezielle Gruppe. Ganz als ob die anti-religiösen Kampagnen der Stalin- und Nach-Stalin-Zeit (insbesondere auch gegen den Islam) wirkungslos geblieben sind – zumindest was die Alltagsreligion anbelangt. So kann man oft in Gaststätten beobachten, wie Menschen Brot küssen und mit diesem ihre Stirn berühren, bevor sie dieses verzehren. Fast immer folgt dem Essen ein Segensgebet und vor dem Verlassen des Tisches streichen sich die Gäste mit den Handflächen über Gesicht und (falls vorhanden) Bart – sogar diejenigen, die ganz nach russischer Gepflogenheit während dem Essen fleißig Vodka konsumiert haben. Und eine der ersten Fragen, die ein Tourist aus dem Iran zu hören bekommt, ist, ob auch er (wie es der Fragensteller tut) fünf Mal am Tag die Gebete verrichtet?
Ihre Trauer um die Opfer von Kerbala begehen die Schiiten Uzbekistans vom ersten des Monats Muharram bis Arbaʿin (dem 40. Tag nach dem Märtyrertod des Imam Hossein). Diese Beweinung der Toten gipfelt in den Tagen tasu’a und ‘aschura. Trauerzeremonien (sugwari) gibt es in allen Nächten, jedoch haben die Nächte auf den Freitag besondere Bedeutung. Vor allem an diesen Tagen werden auch Beweinungszeremonien von Frauen veranstaltet. Dabei werden die Trauerzeremonien des Muharram von den Schiiten in Uzbekistan nicht in allen Moscheen durchgeführt, sondern in den „Husseiniya-Häusern“ (auch Husseiniya-chana oder takiya). Selbstverständlich werden hier auch die Versammlungen mit den Erzählungen vom Märtyrertod der Schiitischen Imame vorgetragen. In Samarkand und Buchara gibt es dafür genau jeweils ein Husseiniya-chana (leider fehlen mir Informationen zur Situation in Taschkent). Der Grund hierfür ist wohl weniger der Mangel an Trauernden, sondern anderweitig zu suchen, jedoch war niemand bereit über die wahren Gründe hierfür (mit mir) zu sprechen. Doch ist es offensichtlich, dass in einer so großen Stadt wie Samarkand mit nur einem existierenden Husseiniya sich die Zahl der anwesenden Trauernden allein schon der langen Wege wegen reduziert. Wie überall sonst in Uzbekistan finden die schiitischen Trauerzeremonien heutzutage nur in den Husseiniya-chanas statt und nicht in der Öffentlichkeit, in den Straßen der Stadt.

Masdschid-e Pandschab - ehemaliges Kulturzentrum der Iraner in Samarkand. (M. Hosseinipour 2015)

Masdschid-e Pandschab – ehemaliges Kulturzentrum der Iraner in Samarkand. (M. Hosseinipour 2015)

In Samarkand finden die Trauerzeremonien im Muharram gegenwärtig nur in der Moschee / dem Husseiniya-chana „Die Familie des Propheten (s)“ statt, die auch unter dem Namen „Masdschid-e Pandschab“ bekannt ist. Der neu errichtete Gebetsraum der Moschee, an den sich ein relativ großer Innenhof anschließt bietet Platz für 800 Personen. Die Menschen, mit denen ich mich unterhielt, schätzten, dass in diesem Jahr (2015) an Aschura hier (im Hof und in der Moschee) 3000 Menschen zusammen kamen. Weiter erzählten sie, dass in Samarkand insgesamt ca. 320.000 Schiiten leben. Über die Zahl der in Uzbekistan lebenden Schiiten gibt es keine offizielle Statistik.

In einer Darstellung der Zeitschrift „Revolution“ von 1920 (schūla-ye inqilob, Nr. 22, 1338 h.q.) heißt es über die Aschura-Feierlichkeiten in Bogh-e Schamol, einem Stadtbezirk von Samarkand mit überwiegend Schiitischer Bevölkerung:

„Am Sonntag den 10. Muharram versammelten sich anlässlich von Aschura die Schiiten der Stadt Samarkand in der Moschee von Bogh-e Schamol zum dort abgehaltenen schiitischen Passionsspiel (taʿziya). Aus allen Moscheen und Plätzen von Bogh-e Schamol und anderen Stadtvierteln an denen schiitische Passionsspiele abgehalten werden, strömten die Menschen mit ihren schwarzen Bannern hier zusammen. So kamen fast 5000 Menschen im iranischen Viertel zusammen und nahmen an den Trauerzeremonien teil, darunter Iraner, Afghanen und Kaukasier.“
Dabei muss man berücksichtigen, dass im Jahr 1920 die Gesamtbevölkerung Samarkands noch wesentlich geringer war als heute.

Die schiitische Moschee, in der heute die Trauerzeremonien in Samarkand abgehalten werden (im Husseiniya-chana „Die Familie des Propheten (s)“), befindet sich im Stadtteil „Pandschab“ („Die fünf Ströme“). Bis zu der Zeit, als sich die Iraner, die aus Merv und Bayram Ali nach Samarkand gebracht wurden, und zuerst in der Nähe des Registan-Platzes untergebracht waren hier niederließen, war diese Gegend ein ungenutztes Ödland am Rande der Stadt. Es ist überliefert, dass die Iraner hier Landwirtschaft betrieben, nachdem sie fünf Kanäle angelegt hatten, die das dafür nötige Wasser aus dem Zarafschan hierher leiteten. Es heißt, dass es damals in Samarkand 36 Stadtviertel mit iranischer Bevölkerung gab. Dazu gehörten Tirakzor, Pul-e Muqob, Azhdarmahalla, Kullar Bogho, Čahortut, Chodscha Yussuf Hamadoni, Chodscha Nazar, Schaitonqischloq und Bogh-e Schamol.

Einige dieser Ortsnamen stammen aus dem Azeri. Die Tatsache, dass einige „iranisch-stämmige“ in Samarkand ansässige Gruppen eine oghuzisch-türkische Sprache sprechen, ist nicht nur für uns (Iraner), sondern auch für einige persisch-sprachige Samarkander durchaus überraschend. Dies lässt sich wahrscheinlich darauf zurückführen, dass Nadir Schah nach seiner Eroberung Zentralasiens (1740) zur Herrschaftssicherung einige seiner aus Azerbaidschan und der Region Aran stammenden Regimenter hier ansiedelte, die Azeri sprachen. In Buchara gibt es noch heute ein Stadtviertel namens „Afschar mahalla“ mit iranischen Bewohnern, die sich wahrscheinlich auf Soldaten des Stammes (qawm) der Afschar zurückführen lassen. Und daher wird auch heute noch im Husseiniya-chana von Samarkand die Wehklage (nahwa) auch auf Azeri vorgetragen.

Im Gebetsraum der "Familie des Propheten" Moschee in Samarkand. (M. Hosseinipour 2015)

Im Gebetsraum der “Familie des Propheten” Moschee in Samarkand. (M. Hosseinipour 2015)

Der Gebetssaal der Husseiniya-chana „Die Familie des Propheten (s)“ ist mit schwarzen bedruckten Stoffbahnen ausgeschmückt, auf denen meistens die berühmte und uns (Iranern) wohlbekannte Klage Muhtascham Kaschanis zu lesen ist: Was ist das für ein Aufruhr in der Menschenmenge / welch ein Klagen und welch eine Trauer… (Boz in či schurisch ast, ki dar xalq-e ʿalam ast / boz in či nuha va či ʿazovu či motam ast / …) Diese Aufschriften hat man aus dem Iran hierher gebracht. In der Nähe der Moschee gibt es einen großen Friedhof, der manchmal als „Friedhof der Schiiten“ bezeichnet wird, was aber irreführend ist, da hier nicht nur Schiiten begraben sind, so wie auch auf anderen Friedhöfen Schiiten und Sunniten bestattet werden. Auf der anderen Seite gibt es bei der Moschee auch ein altes Gebäude mit einem großen Hof, in dessen Mitte ein sitzender Firdausi mit seinem Schahname zu sehen ist. Rund um diesen Hof sind kleine Zimmer nebeneinander aufgereiht, wie die Wohn- und Studierzellen der Studenten (hudschra) in den alten Medressen. Dieses Gebäude, dessen ältester Teil im Jahr 1906 errichtet wurde, hat seither viel Auf- und Ab mitansehen müssen. Seit 1924, als die Sowjetische Regierung die volle Befehlsgewalt innehatte und die Befehle Stalins galten, wurde dies alles in eine wohltätige Stiftung überführt (1924-1930) und mittels des in der Spendenbüchse gesammelten Geldes (pul-e sanduq-e zakot) wurden die Mittellosen dort einmal pro Tag mit Nahrung versorgt. Selbstverständlich gab es derartige Wohltätigkeit auch schon früher (in vorsowjetischer Zeit). So berichtete beispielsweise die Zeitschrift schūla-ye inqilob (Die Flamme der Revolution) im Jahr 1919, dass in Zeiten von Hungersnot in der Moschee Essen für die Bedürftigen bereitgestellt wurde.

Später wurde das Gebäude dann unter anderem als Berufsschule genutzt. In den letzten Jahren der Sowjetunion stand das baufällige Gebäude leer. Nach der Unabhängigkeit Uzbekistans wurde hier dann ein Kultur- und Wissenszentrum der Iraner eingerichtet, das sogar von zwei Präsidenten der Islamischen Republik Iran besucht wurde. Aber schon nach kurzer Zeit wurde dieses Kulturzentrum wieder aufgelöst. Der Grund für diese Auflösung dürfte wohl darin gelegen haben, wie mir gegenüber von einigen mit Augenzwinkern versichert wurde, dass sich die Iraner nicht als eine sogenannte „nationale Minderheit“ Uzbekistans begreifen, oder als solche gesehen werden wollen/sollen. Mir gegenüber hieß es: „Wir (Iraner) gehören zu den Gründern dieses Staates und sind keine ‚Nationale Minderheit‘.“ Und auf dem Hof hing ein offizielles Plakat mit der Aufschrift „Uzbekistan, mein einziges geliebtes Mutterland“, das ich bei meinen früheren Besuchen hier noch nicht gesehen hatte.

Eine Zeit lang wurde das Gebäude sogar als Krankenhaus genutzt. Vor einigen Jahren wurden die Räumlichkeiten dann mit finanzieller Unterstützung der Gesellschaft „Das Erbe Firdausis“ renoviert. Gegenwärtig beherbergt es neben einem Café auch ein Restaurant und in den noch ungenutzten Räumen sollen bald eine Bibliothek und ein Museum eingerichtet werden. Der Gruppe, die hinter diesem Vorhaben steht, habe ich versprochen bei meinem nächsten Besuch eine Kopie der 75 Ausgaben der Zeitschrift schūla-ye inqilob mitzubringen. Der Begründer und Betreiber dieser Zeitschrift, Sayyid Reza ʿAlizoda-ye Samarqandi, lebte und arbeitete in Bogh-e Schamol. Nach ihm ist auch das ʿAlizoda-Museum benannt, das ein paar Blöcke weiter steht, und dem ich bereits bei einem früheren Besuch eine Kopie der Zeitschrift geschenkt habe.

(Fortsetzung folgt…)

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