Von Stalin bis Rahmon. Der Kulturpalast der Urunhodschaev-Kolchose

Ein Text von Wladimir Sgibnev

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Etwa sechs Kilometer südöstlich des Stadtzentrums von Chudschand steht auf einer Anhöhe im Dorf Arbob zwischen Baumwollfeldern und Bauernhöfen ein riesiger bonbonfarbener Palast. Wie kommt dieses riesige Gebäude in diese ländliche Gegend im Norden Tadschikistans mit all seinen Kolonnen und Fontänen und mit dem massiven Alabasterschnitzwerk und den schweren Lüstern aus Kristall?

Bei diesem rosafarbenen Prachtbau handelt es sich um das 1957 erbaute Kulturhaus der Urunhodschaev-Kolchose. Mit diesem Namen ist auch das Gebäude untrennbar verbunden. Saidhodscha Urunhodschaev. Das Leben und Wirken dieses Mannes liest sich wie aus einem Musterkatalog für den idealen Sowjetbürger Zentralasiens.Geboren 1901 im Dorf Schaichburhon unweit von Chudschand, wurde Saidhodscha Urunhodschaev nach einer Weberlehre politisch aktiv und nahm in den 1920er Jahren an Kämpfen für den Aufbau der Sowjetmacht im Ferghana-Tal teil. Er stand in der vorderen Reihe der Reformatoren und Kollektivierer der Landwirtschaft in Nord-Tadschikistan und baute mehrere Kooperativen und Kolchosen mit auf. Im Jahre 1952 wurde er Vorsitzender der Kolchose “Moskau”. Dieses Amt hatte er bis zu seinem Tod 1967 inne. Zu seinen Ehren erhielt die Kolchose nach seinem Tod seinen Namen und hieß fortan “Urunhodschaev-Kolchose”. Seit 1958 war er Abgeordneter des Obersten Sowjets der UdSSR und wurde mit zahlreichen Orden und Medaillen dekoriert, darunter zwei Mal mit der Auszeichnung “Held der Sozialistischen Arbeit”. Unter seiner Leitung erzielte die Kolchose Traumerträge von bis zu 2,5 Tonnen Baumwolle per Hektar und brillierte auch bei anderen landwirtschaftlichen Kulturen. [inspic=656,left,,290]
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Über die landwirtschaftlichen Höchstleistungen hinaus sollte sich Urunhodschaevs Kolchose auch auf dem Gebiet der sowjetischen Kultur profilieren und ein repräsentatives Gebäude in Form eines pompösen Kulturhauses, in diesem Fall gar eines Kulturpalastes, erhalten.

Kulturhäuser kamen in der Sowjetunion auf, nachdem im November 1920 die Organisation “Glavpolitprosvet” (Hauptkomitee für Politik und Aufklärung des Volkskommissariats für Volksbildung) gegründet wurde. Der zuständige Volkskommissar A. Lunatscharskij sagte dazu:

Der Klubarbeit kommt eine riesige Bedeutung zu. Der Klub soll ein Stückchen des Sozialismus’ sein; ein Ort für Bildung und Freizeit und für die Weiterverbreitung der Grundlagen des neuen sozialistischen Lebensverständnisses und des sowjetischen Aufbaus.

Die Klubs und Kulturhäuser wurden also ausdrücklich als Zentren des kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens konzipiert; als Orte an welchen der “neue Mensch” geschmiedet wurde. Diesem allumfassenden Verständnis zufolge ähneln sie Kirchen weit mehr als Bibliotheken.

“Glavpolitprosvet” wurde von Lenins Frau Nadeschda Krupskaja geleitet, was auf die Bedeutung des Kulturhaus-Projekts hinweist. Schon 1940 gab es in der Sowjetunion 125 000 Klubs und Kulturhäuser, davon 35 000 in ländlichen Gebieten. Auch in anderen Ostblock-Staaten setzte eine rege Bautätigkeit von Kulturhäusern in Stadt und Land ein. In der DDR wurden z.B. in den Dörfern Murchin und Mestlin (beide Mecklenburg-Vorpommern) vergleichbar pompöse Paläste gebaut.

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Das Kulturhaus auf dem Land war darüber hinaus Ausdruck eines “Paradigmenwechsels in der Dorfplanung”, demnach nicht mehr das von der bäuerlichen Landwirtschaft geprägte Dorf, sondern die Angleichung ländlicher an städtische Standards. Daher sollten Kulturhäuser auch mit modernster Technik und Medien ausgerüstet werden. Allein durch seine Dimensionen kann der Kulturpalast in Arbob mit den entsprechenden Häusern in den sowjetischen Hauptstädten mithalten.

Seit seiner Berufung zum Kolchosen-Direktor, setzte sich Urunhodschaev mit seiner ganzen all-sowjetischen Bekanntheit stark für den neuen Kulturpalast ein. Bestimmt spielte auch das in Zentralasien verbreitete Verlangen, der Nachwelt etwas Bleibendes zu hinterlassen, eine Rolle bei Urunhodschaevs Einsatz für den Kulturpalast.

Er war, sagt man, auf seinen Reisen sehr von der klassizistischen Architektur Leningrads angetan. Das deckte sich sehr gut mit dem damals vorherrschenden Architekturstil des Stalin’schen Empire. Diesem Stil lag zugrunde, dass

die Klassik, entsprechend dem Verständnis der damaligen Zeit, als eine universelle Architektursprache aufgefasst wurde, und ihre Verbindung mit nationalen Elementen verstanden wurde als die Lösung des Problems der nationalen Form im Rahmen der internationalen sowjetischen Architektur

So war seit Mitte der 1930er Jahre die Architektur auf eine Stapelung klassischer und nationaler Anleihen und Zitate reduziert und der Architekt auf eine Rolle eines Dekorateurs, dem die Aufgabe oblag, die von der Architekturakademie der UdSSR vorgegebenen Typenbauten mit den jeweils nationalen Ornamenten zu versehen.

Auf Urunhodschaevs Wunsch hin wurden junge Leningrader Architekten an dem Bau beteiligt. Der verantwortliche Architekt war hingegen Hikmat Abdullaevitsch Juldaschev (1913-1983), einer der ersten tadschikischen Absolventen einer Architekturschule und der zweite Tadschike, der Mitglied des Architektenbundes geworden war. So vereint Urunhodschaevs Kulturhaus in einer für die damalige Zeit vorbildlichen Weise den Leningrader Klassizismus mit nationalen, tadschikischen Elementen. Der Kulturpalast steht exemplarisch für die sowjetisch-tadschikische Baukunst dieser Zeit. Kein Buch über die Architekturgeschichte Tadschikistans kommt ohne dessen Erwähnung aus:

Das Gebäude ist typisch für seine Zeit. Es basiert auf einer klassischen Grundlage und im Inneren findet man zahlreiche Alabasterschnitzereien und Fresken mit einer überwältigenden Vielfalt von Ornamenten und kräftigen Farbzusammenspielen. Der klassische Zugang [zur Architektur] zeigt sich sowohl in der Gestaltung des Außengeländes als auch in der Axialkomposition der Zufahrten und der Fontänen-Kaskade mit ihrem reichen Skulpturenschmuck

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Die Eingangshalle, von der die Treppen nach oben abgehen, wird von wuchtigen Kolonnen dominiert. Von der Decke hängen zwei pompöse Lüster. Von der Halle aus gelangt man in den Hauptsaal mit Platz für mehrere hundert Menschen. Der Saal ist über und über mit Alabasterschnitzwerk geschmückt, ebenso wie die Galerie und die angrenzenden Flure, deren Decken aufwändig bemalt sind. Die Schnitzereien entstanden dabei größtenteils durch die Hand von usto Mirumar Asadov, während Gafur Mansurov und Maksud Soliev die Fresken ausführten. Die Nebenräume sind ebenfalls in ihrem prunkvollen Originalzustand samt der ursprünglichen Einrichtung erhalten geblieben. Doch schon zu seiner Bauzeit 1954-1957 galt der Kulurpalast als lebendes Fossil, denn

die Tendenz zur Dekor-Wut und zur unkritischen Übernahme von Mitteln und Formen der Vergangenheit begann die Einführung industrieller Baumethoden zu bremsen, die angesichts des täglich wachsenden Ausmaßes und Tempos [im Bauwesen]unvermeidlich waren. Das alles hat, seinerseits, eine ganzheitliche Lösung des Problems einer richtigen Verwendung des nationalen Erbes in der modernen Architektur der Republik in die Ferne geschoben

Nachdem Nikita Chruschtschows Dezember 1954 auf der All-Unions-Konferenz der Bautätigen die “Ausschweifungen im Bauwesen” gegeißelt hatte, wurden zahlreiche Gebäude nur sehr zögerlich, wenn überhaupt noch zu Ende gebaut.

Das Gebäude wurde, auch wenn es nicht mehr dem Geist der Zeit entsprach, dank Urunhodschaevs Beharrlichkeit vollendet, ohne dass Veränderungen am ursprünglichen Plan vorgenommen wurden. Die beiden Seitenflügel und der Mittelrisalit mit den hohen Säulen erscheinen sehr klassisch. An der Fassade gibt es nicht viele Elemente, die der tadschikischen National-Ornamentik zugeordnet werden könnten; eventuell geben die dreieckig zulaufenden Bögen zwischen den Kolonnen und in den Fensteröffnungen Anlass zu “nationalen” Konnotationen. Unterhalb der Fenster des Erdgeschosses befinden sich Mosaiken mit Zitaten russisch- und tadschikischsprachiger Dichter, die zu Heimatliebe, sowjetischem Patriotismus und Arbeitseinsatz aufrufen.
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Im Inneren ist die Atmosphäre fast gespenstisch: alles leer, niemand zu sehen, nur die Einrichtung aus einer lang vergangenen Zeit.
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Dieses Gebäude war über Jahre das Zentrum des kulturellen Lebens der Kolchose, Schauplatz zahlreicher Aufführungen, Kinovorstellungen, Feste und dergleichen mehr. Es bot Raum für Frauen-, Pionier- und Leseclubs; in einigen Räumen waren Teile der Kolchosen-Verwaltung untergebracht. Der Palast hob sich demnach nur durch seine Größe von den Tausenden anderer Kulturhäuser ab.

Nach der Unabhängigkeit wurde der Palast für kurze Zeit zum Brennpunkt der tadschikischen Politik. Der Norden des Landes blieb vom Bürgerkrieg 1992-1997 verschont, und die Lage in Leninabad, wie Chudschand zu Sowjetzeiten hieß, war deutlich ruhiger als in der umkämpften Hauptstadt Duschanbe. Daher gab es nach Ausbruch der Gewalt wiederholt Aufrufe, die Sitzungen des Obersten Sowjets und der Regierung nach Chudschand zu verlagern. Dafür sprach auch, dass der Präsident Rahmon Nabiev von dort stammte, ebenso wie alle Parteichefs Tadschikistans seit 1946 und große Teile der damaligen Regierung.

Im September 1992 befand sich Präsident Nabiev quasi als Geisel in der von der Opposition beherrschten Hauptstadt. Er entschied sich, in den Norden zu fliehen, wurde jedoch am 7. September am Flughafen von Oppositionskräften festgenommen und zur Abdankung gedrängt. Tatsächlich erwog der Oberste Rat noch am Morgen dieses Tages, seine Sitzungen nach Chudschand zu verlagern, wozu es aber nicht mehr kam. Auch der darauffolgende Interimspräsident Akbarschoh Iskandarov konnte das Chaos im Land nicht stoppen und trat am 10. November 1992 zurück:

In Anbetracht der Tatsache, dass ein Teil der Bevölkerung der Republik der Ansicht ist, die heutige Regierung sei ungesetzmäßig und uns das Misstrauen ausspricht, verkünden wir, die Mitglieder des Präsidiums des Obersten Sowjets und der Regierung der Republik, die Niederlegung unserer Ämter, um den Volksdeputierten die Möglichkeit zu geben, auf der Sitzung des Obersten Sowjets am 16. November 1992 ein neues Präsidium des Obersten Sowjets und eine neue Regierung zu wählen.

Diese Sitzung sollte, nach Beschluss des Präsidiums, in Chudschand stattfinden und der Kulturpalast der Urunhodschaev-Kolchose wurde zum Sitzungsort bestimmt, vor allem aufgrund der guten Sicherheitslage, der einfachen Zugangskontrolle zum Gelände und sicherlich auch wegen der großzügig vorhandenen Räumlichkeiten.

Sie ging als die 16. Sitzung des 12. Obersten Sowjets in die Geschichte Tadschikistans ein. Ein gewisser Emomali Scharipovitsch Rahmonov, Direktor der Kolchose “Lenin” im südtadschikischen Danghara, wurde am 19. November 1992 im großen Sitzungsaal des Kulturpalastes zum neuen Staatsoberhaupt Tadschikistans gewählt. Möglicherweise hat ja der Kolchosen-Direktor Rahmonov dabei von der Aura des erfolgreichen Kolchosen-Direktors Urunhodschaev profitiert. An die historische Wahl erinnert jedenfalls heute noch ein Portrait des tadschikischen Präsidenten im Sitzungssaal, der sich mittlerweile Rahmon schreibt.
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Zum 15. Jahrestag der 16. Sitzung des Obersten Sowjets im Jahre 1997 wurde der Kulturpalast renoviert und bekam einen neuen Anstrich. Während der Feiern erinnerte der Präsident daran, dass das Jubiläum “ein gesegnetes historisches Datum” sei, “welches die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung symbolisiert sowie den Beginn der Rettung von Staat und Nation”. Auch an der Fassade ist der Gründungsmythos des modernen Tadschikistans abzulesen. Wo sich zu Sowjetzeiten links und rechts des Eingangs Portraits von Marx und Lenin befanden, hängen heute dementsprechend Emomali Rahmon und Ismoil Somoni.
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Für den überwiegenden Teil des Jahres versinkt der Palast in einen Dornröschenschlaf, den nur vereinzelte Verwaltungsbeamte oder Besucher stören. Aber zu besonderen Anlässe zieht er nach wie vor ein großes Publikum an, wie etwa zu Navruz-Feiern oder zu Konzerten der beliebten Sängerin Schabnami Surajo. Auf jeden Fall lohnt sich ein Umweg über die Urunhodschaev-Kolchose, um diesen geschichtsträchtigen Ort und seine außerordentliche Architektur und Einrichtung mit eigenen Augen zu sehen. Der Palast steht wie kein anderes Gebäude für Tadschikistans langen Weg, angefangen bei Stalins Nationalitätenpolitik bis hin zum Bürgerkrieg.

Fotonachweise:

TSSE: Tadzhikskaia Sovetskaia Socialisticheskaia Respublika “Enciklopediia, Glavnaia nauchnaia redakciia tadzhikskoj sovetskoj enciklopedii”, Dushanbe 1974, S. 772-773.

Veselovskij I: Veselovskij V.G. (Hrsg.): Arhitektura sovetskogo Tadzhikistana, Strojizdat, Moskva 1987, S. 81

Veselovskij II: Veselovskij V.G. (Hrsg.): Arhitektura sovetskogo Tadjikistana, Strojizdat, Moskva 1987, S. 80

2 Thoughts on “Von Stalin bis Rahmon. Der Kulturpalast der Urunhodschaev-Kolchose

  1. Ich habe mal einen Meister getroffen, der mir als Tischler davon erzählte, dass es am Ruhm eines Teehauses zwei Beteiligte gibt. Derjenige, der es initiiert und bezahlt (in der Zeit des Sozialismus fast immer die Kolchosdirektoren, in jeder Kolchose ist ein Teehaus nach ihnen benannt) und derjenige der es baut und ausstattet mit Schnitzereien oder Malereien je nachdem, was er besser kann. Wer dieses Teehaus im Dorf baut, der ist der wirkliche König. Daraus dann ein Kulturpalast zu machen, das ist sicher dem Sozialismus geschuldet, das Ruhmesstreben durch ein Teehaus hat regionale und ältere Wurzeln als der Kulturpalastbau, hier treffen eben nur zwei Gelegenheiten zusammen.

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