Nalaicher Kasachen oder Wie Nomaden im Bergwerk landeten


Ein Beitrag von Michael Angermann

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“1910: Beim Rindermistsammeln findet eine arme Frau neben einem Murmeltierhügel einen schwarzen Stein mit mürber Außenseite …”

Vor 100 Jahren wurde in der Kleinstadt Nalaich, die gut 40 Minuten Autofahrt südöstlich von Ulan-Bator entfernt ist, Kohle gefunden. Damit beginnt die Geschichte der Bergarbeiterstadt Nalaich. Anfänglich bauten chinesische Unternehmen die Kohle ab, bis der Bergbau nach der Gründung der Mongolischen Volksrepublik Anfang der 1930er Jahre verstaatlicht wurde. Der Plan sah große Abbaumengen für die Versorgung von Ulan-Bator vor, doch waren nicht genügend Arbeitskräfte vorhanden. Auf dem VIII. Parteitag der Mongolischen Revolutionären Volkspartei im Frühjahr 1930 kam man zu dem Ergebnis, insbesondere der Bevölkerung im Westen der Republik eine wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung zu ermöglichen. Offiziell wurde die “Anwerbung” von Arbeitskräften aus der Westmongolei mit fehlenden Arbeitskräften begründet. Ursache für die Umsiedlung von Kasachen aus der Westmongolei waren jedoch eher Unruhen, die dort durch die Kollektivierung der Viehwirtschaft hervorgerufen wurden. Vor allem kasachische Arbeiter aus den drei Westbezirken Bajan-Ulgij, Chovd, Uvs wurden für den Bergbau im Herzen der Mongolei gewonnen. Nach Aussagen von Zeitzeugen kamen die ersten kasachischen Bergleute aus der Westmongolei bereits 1932 nach Nalaich.

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In Einzeldarstellungen werden die Umstände der ‘Anwerbung’ und Umsiedlung im Buch von Bjamba (Bjamba, Sch.: Gav’jaat üilsijn ezed. Ulan-Bator: Ulsyn Chevlelijn Gazar 1982) angesprochen. Die Biographien dieser verdienten Bergmänner Nalaichs und der im sozialistischen Geiste idealisierende Stil dieser Publikation haben es verdient, einer breiten Öffentlichkeit in Ausschnitten vorgestellt zu werden.

David Chundanbaj bemerkte über seine Anwerbung 1936:

“Ein Herr Bajar kam, um uns anzuwerben. Der Sumsekretär Zajanomdaj sagte zu mir: ‘In Ulan-Bator werden Arbeiter gebraucht. Finde Freunde und dann fahrt ihr hin – so soll es sein.’ Ich erzählte es meinem Freund Kasyen und dann sind wir beide zu Zajanomdaj gegangen. Darauf sagte er: ‘Wir brauchen nicht nur zwei Leute. Sagt es den Jugendlichen und findet viele junge Leute.’ Wir zwei haben dann neben unseren eigenen Bekannten noch 20 weitere Jungen angeworben. Wir hatten den Wunsch in die Ferne zu fahren und uns das anzuschauen. Einen Monat später kam ein LKW. Die Dörfler hatten nichts von der Welt gesehen und interessierten sich deshalb für alles. Vierrädrig, ein offener Kastenwagen, mit stinkendem Geruch und dröhnenden Geräuschen. Wir stiegen auf die Ladefläche und fuhren nach Chovd. Als wir aber in Chovd ankamen, ließ uns der Fahrer im Stich und sagte, ein anderer LKW wird uns abholen. Nachdem wir uns dort fast einen halben Monat umsonst aufhalten mussten, kam ein anderer LKW, um uns mitzunehmen. Aber in der Zwischenzeit waren einige Eltern der mit uns reisenden 20 Jugendlichen gekommen und hatten sie nach Hause zurückgetrieben. Die Eltern schimpften: ‘Sie nehmen die Kinder, um in einer einstürzenden Grube nach Gestein zu graben.’ Auf dem LKW nahmen wir, Kasyen und ich, mit den anderen 16 Kasachen Platz. […] Dann fuhren wir zwei Wochen bis wir in Ulan-Bator ankamen.”

In Nalaich angekommen wurde Chundanbaj von seinem Vorgesetzten begrüßt:

“Das arme Volk der altaischen Kasachen wird die staatliche Industrie unterstützen, ein glückliches Leben führen und den Anfang eines leuchtenden Weges setzen. Ich überreiche dieser Person eine Eisenschaufel und nachdem er das erste Mal in das Bergwerk eingefahren sein wird, wird er sich nach dieser Arbeit sehnen.”

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Chusajn Mansuur beschrieb die Anwerbung im Jahr 1953:

“Im Frühling 1953 kam ein Anwerber des Nalaicher Kohlebergwerkes, der innerhalb der Jugend eine Freude aufkommen ließ, als wenn die Jugendlichen zur Armee einberufen werden. An diesem Tag entwickelte sich in der Nähe der Jurte vom alten Chusajn folgendes Gespräch: ‘Wenn jetzt die Zeit gekommen ist, dass die Jugendlichen gehen, dann kann ich es dir nicht verbieten, was du machen sollst – dann musst du gehen! Mach dich beizeiten fertig!’ Die Mutter fügte unterstützend hinzu: ‘Dinge sehen und Erfahrungen sammeln, das ist richtig mein Sohn. Du fährst nicht allein. Wenn aus der Heimat ungefähr 20 ‘Kinder’ an einen Ort gemeinsam fahren, dann werden sie sich einander wie Geschwister Halt geben. Ganz allein die auferlegte Arbeit musst du gut verrichten! Was soll ich da noch sagen!'”

Über seinen ersten Tag im Bergwerk befand Mansuur:

“In der ersten Schicht schaufelte er nur Kohle. Die Zielvorgabe war 10 Tonnen. Das hieß in 8 Stunden 10.000 kg Kohle schaufeln. Das war am Anfang eine erschreckende Zahl. ‘Doch wenn du es tust, dann fürchte dich nicht, das lernt man schon, das kann man, man muss nur an sich glauben. Die ersten Tage waren äußerst ermüdend, der Körper drohte zu zerbrechen, die Hände übersät von Blasen, doch ich kämpfte, 7-8 Tonnen Kohle habe ich geschaufelt. Letztendlich gewöhnte ich mich daran. 10 Tonnen schaufelte ich und erfüllte damit den Plan. Als ich mich an diese Arbeit gewöhnt hatte, setzte der Enthusiasmus ein.'”

Die meisten begannen wie Mansuur ungelernt die schwere Arbeit im Bergwerk zu verrichten, erst 1954 wurde die Technische Berufsschule von Nalaich gegründet.

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Im Juni 2003 hatte ich die Möglichkeit, mit zwei Zeitzeugen über die Umsiedlung nach Nalaich zu sprechen. Esimchan Kibek berichtete im Interview:

“Nach Beendigung der Mittelschule wurde gemäß der Abschlussnote zugeteilt, was der Schüler zu studieren hat. […] Ich fuhr 1948 mit 100 Mittelschulabsolventen aus Ulgij auf vier LKWs nach Ulan-Bator. Dort sollten wir Pädagogik, Nachrichtenwesen, Wirtschaft oder Finanzwesen studieren.”

Nach der Ausbildung im Technikum zum Ökonom kamen fünf seiner sechs kasachischen Kommilitonen und er nach Nalaich, um für das Bergwerk zu arbeiten.

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Schagda Saipolda, der 1961 nach Nalaich kam und wegen einer Staublunge zum “Verdienten Bergarbeiter” ernannt und frühpensioniert wurde, musste einen anderen Weg gehen, um nach Nalaich zu kommen:

“Nachdem ich die Grundschule im Sum beendet hatte, habe ich Vieh gehütet. Ende der 1950er Jahre wurde ich zum Militärdienst nach Darchan eingezogen. Nach Beendigung wurde ich dann nach Nalaich gebracht, um zu arbeiten, ebenso wie meine kasachischen Mitsoldaten.”

Ab 1968 wurden nach Aussage von Kibek keine weiteren Arbeitskräfte mehr aus den Westaimags “angeworben”, da genügend Nachkommen der jungen Generation die Arbeit ihrer Väter übernehmen konnten. Viele junge kasachische Bergleute der zweiten Generation verließen zu dieser Zeit bereits Nalaich und gingen in andere neueröffnete Bergwerke. Der Lebensweg eines kasachischen Bergmanns in der Mongolei war jedoch mit wenigen Ausnahmen immer fest mit Nalaich verbunden.

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