Wolfgang Lentz – Mit Phonograph und Kamera bei den vergessenen Völkern des Pamir. Der Sprachensammler und die Technik (1)

Landschaft im Pamir, Foto Zeitbild

Ein Beitrag von Thomas Loy

“Lentz ist eine gedrungene Gestalt, auf der ein Rundkopf mit verschmitztem Gesichtsausdruck thront. Obgleich mit allen Wassern der Schriftdeutung gewaschen, ist er kein Stubengelehrter, denn am Bilde seiner Persönlichkeit haben auch weltliche Wasser gemodelt.” So jedenfalls sah ihn im Jahr 1928 Willi Rickmer Rickmers, seines Zeichens Leiter der Deutsch-Sowjetischen Alai Pamir Expedition, an der auch der junge Iranist Wolfgang Lentz maßgeblich beteiligt war. (Rickmers 1930:12)


Otto Helmut Wolfgang Lentz kam 1900 in Hameln zur Welt. Er starb 1986. Von 1918 bis 1923 studierte er in München und Göttingen. Sein Forschungsschwerpunkt lag auf dem Mittelpersischen, den Neupersischen Dialekten und Sprachen, sowie der Geschichte der Iranischen Religionen. 1926 promovierte er bei Friedrich Carl Andreas (1846-1930) zu den Nordiranischen Elementen im Shahname. Von 1924 bis 1942 war Wolfgang Lentz Mitglied der orientalischen Kommission an der Preussischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, wo er u. a. an den Fragmenten der Turfansammlung arbeitete. 1928 nahm er Teil an der deutsch-sowjetischen Alai-Pamir Expedition und 1935 war er maßgeblich an der Deutschen Hindukusch Expedition in Afghanistan beteiligt, wo er sich mit den Sprachen der Region Nuristan beschäftigte. 1939 publizierte er eine Arbeit über die Kalendersysteme und Zeitrechnung in Nuristan und im Pamir. 1942 bis 1945 diente er in der Wehrmacht. Ab 1950 war er Privatdozent für Iranistik an der Universität Hamburg, wo er 1955 außerordentlicher und 1964 ordentlicher Professor wird (Lentz emeritierte 1968). 1957/58 hatte er eine Gastprofessur an der Columbia University New York inne und 1960/61 an der Texas University in Austin.

Die Alai-Pamir Expedition 1928

Im Auftrag der Preussischen Akademie der Wissenschaft sollte Wolfgang Lentz die im äußersten Nordosten des iranischen Sprachgebiets befindlichen, schriftlosen Sprachen und die materielle wie geistige Kultur ihrer Sprecher untersuchen. Die wenigen Wissenschaftler, die sich zuvor mit den so genannten Pamirsprachen (Schugni, Ruschani, Jasgulami, Ischkaschimi, und Wachi) beschäftigt hatten, waren auf spärliche Materialien angewiesen, die meist nebenbei und zudem von Laien zusammengetragen worden waren und daher, so Wolfgang Lentz, kaum ausreichten “zur Erwerbung einer über das Elementarste hinausgehenden praktischen Kenntnis” dieser Sprachen.

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Im Vergleich zum Neupersischen war der diesbezügliche Forschungsstand sehr unbefriedigend, denn “in mehr als einem Fall wurde das Material vor Jahren, teilweise vor Jahrzehnten gesammelt und erst spät oder noch gar nicht zugänglich gemacht.” Dies und die Annahme, dass diese ostiranischen Sprachen in Kürze von den türkischen Dialekten der Ebene gänzlich verdrängt sein würden, ließ das Sammeln und Archivieren von sprachlichem Material als dringende wissenschaftliche Notwendigkeit erscheinen. Denn:

Es gilt zu retten, was zu retten ist.

Um ein möglichst breites Spektrum der kaum bekannten Sprachen aufzunehmen und dadurch sprachwissenschaftliche und lauthistorische Analysen erst zu ermöglichen, führte Lentz im Expeditionsgepäck neben einer “Zeiß-Ikon-Kinema” einen “einfachen Excelsior-Phonographen des Edisongrossisten Paetzold mit verbesserter Aufnahmemembran” und einen neu entwickelten “elektromagnetischen Aufnahme- und Wiedergabeapparat.”

Das mitgebrachte Material zerfällt in poetische und prosaische Texte und Wortlisten, sprachliche und musikalische Phonogramme, photographische und kinematographische Aufnahmen und eine Sammlung von Gebrauchsgegenständen der iranischen Bevölkerung des Westpamir. Aufzeichnungen und Aufnahmen stammen aus dem Gebirge und aus der Ebene.

Dass jedoch wissenschaftliches Scheitern trotz (oder gerade wegen) moderner Betriebsführung und der Ersetzung der Sinne durch neueste Technik möglich ist, soll im folgenden am Beispiel der phonographisch gestützten Sprachwissenschaft Wolfgang Lentz gezeigt werden.

Die “Maschine die unsere Lieder frißt”

Lentz war 1928 einer anderen Route gefolgt als die übrigen Expeditionsteilnehmer. Von Taschkent aus besuchte er zunächst Samarkand und Buchara, sowie zweimal das “Dorf Isfara” im Ferghanatal, das erst im Jahr nach der Expedition der nun eigenständigen Sowjetrepublik Tadschikistan zugeschlagen wurde. Dort nahm er den ersten Teil seiner Sprachbeispiele auf. Im Juni stieß er dann in Osh zu den anderen Expeditionsteilnehmern. Willi Rickmer Rickmers wartet dort seit dem 31. Mai auf das Gepäck und die 30 Wissenschaftler. Am 19. Juni startete die Karawane. “Das Anwerfen dauerte von fünf Uhr früh bis Mittag.” 33 Pferde und ungleich mehr Kamele transportierten 16 Tonnen Gerste, 100 Kamelladungen Mehl und Holz sowie 100 Kisten mit dem restlichen Proviant, Technik und Gepäck von Osh an den Oberlauf des Tanimasflusses auf dem Pamirhochplateau.

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Mitte Juli zog Lentz dann vier Tagesreisen stromabwärts nach Oroschor im oberen Bartangtal. Zusammen mit einem der Expeditionsärzte, dem Allgäuer Dr. Kohlhaupt, arbeitete er dort drei Wochen, bevor sie den Chordschinpass nach Jazghulam überquerten, um dann weiter über Wantsch, den Pandsch und die Darwazkette, den Chingob und die Peter der Große Kette am Zusammenlauf des Muksu und des Kyzyksu im Alaital wieder auf einen Teil der Hauptexpedition trafen. Dort trennte sich Lentz schließlich von der Gruppe und reiste alleine entlang am Surchob nach Duschanbe und Taschkent, wo er zwei Monate lang sein Material durcharbeitete und ergänzte.

Die letzte Ansiedlung. Tadschikendorf in einem Gebirgstal des Pamir, Foto: W.R. RickmersBevor Lentz im Juni 1928 auf die übrigen Teilnehmer der Expedition und den dazugehörigen Tross an Wissenschaftlern, Hilfspersonal sowie Reit- und Lasttieren traf, testete er seine Aufnahmetechnik zweimal im Dorf Isfara, das ihn, den Sprachwissenschaftler, besonders im Hinblick auf die Besonderheiten der dort vorherrschenden, stark vom Uzbekischen beeinflussten Tadschikischen Sprache interessierte (dort nahm er auch die einzigen beiden “Frauenstimmen” seiner Sammlung auf). Unter der Kapitelüberschrift “Europäisches” ist dazu folgendes zu lesen:

Die phonographischen Aufnahmen erregen, wie nicht anders zu erwarten, die Beteiligung des halben Dorfes. Meine Hauptaufgabe besteht darin, die verschiedenen Interessenten nach kurzer Besichtigung hinauszukomplimentieren. Uhrwerk und Phonoapparat habe ich im Zimmer aufgestellt. Dieses liegt im ersten Stock. Der Draht, der das Mikrophon mit der Maschine verbindet, reicht bis auf die Galerie, die sich auf der Innenseite des Hauses hinzieht. Dadurch verhindere ich, dass das Geräusch des Uhrwerks mit aufgenommen wird. Leider bekommt das Wunderwerk der Technik eines Tages einen Knacks. Man empfiehlt mir den Meister des Dorfes, der sicher Rat wisse. Ich habe Grund daran zu Zweifeln. Denn die mancherlei Fachleute [des Telegraphie-Patent-Syndikat Berlins; T.L.], die sich um die Komposition der Maschine bemühten, haben einstimmig versichert, dass ein Versagen ausgeschlossen sei. Sollte es – schlossen sie mit wissenschaftlicher Bescheidenheit und Akribie wider Erwarten doch eintreten, so könne es sich höchstens um die und die Teile handeln, und dann sei ich allerdings aufgeschmissen. Leider handelte es sich gerade um die und die Teile, das stellt sogar mein Dorfsachverständiger mit nicht geringem Orientierungsvermögen fest. Mithin bin ich im Augenblick aufgeschmissen und bin froh, eine Reihe von Ersatzaufnahmen mit dem einfachen Phonographen machen zu können. Aber auch hier waltet ein Geschick, das niemand voraussehen konnte. Denn selbstverständlich konnte ich nicht zu Haus sämtliche Walzen durchspielen, um ihre Güte zu erproben, dann wären sie wertlos geworden für meine Arbeiten.

Sehen Sie Herr Doktor, hatte der treffliche Alte erklärt, der sie mir verkaufte, da ist eine wie die andere. Und von denen, die wir probierten, war eine wie die andere. Aber an Ort und Stelle im Ernstfall ist jetzt keine wie die andere. Alle sind ungleichmässig in der Stärke. So habe ich die kunstvoll-teure Membran, die von einem eigenen Fachmann konstruiert worden ist, für jedes Stück besonders einzustellen. Dadurch geht allerhand Material verloren. Eine Ersatzsendung, die ich sofort telegraphisch in Berlin anforderte, hat mich nie erreicht. Es ist beinahe ein Wunder, dass trotz dieser widrigen Umstände mir viele und gute Aufnahmen gelangen.

Mit Auge, Ohr, Bleistift und Papier arbeiteten die Forscher in alten Zeiten, denen wir die wertvollsten Kenntnisse über fremde Länder verdanken. Sie waren alles in eins: Gelehrte, Köche, Eseltreiber, Techniker. Heute bei der ständig wachsenden Differenziertheit des Lebens braucht man für all dies und noch viel mehr je ein Dezernat. Also reise man mit einem Stab von Technikern, wenn man sicher ist, dass sie nicht an jeder Wegbiegung die Klügeren sein werden. Es lebe die Zivilisation, die uns nicht hindert, sie sollte leben, wenn es sie gäbe!

Lentz hatte auf eine technische Innovation gesetzt. Um nicht auf die, für sprachwissenschaftliche Zwecke ungenügende Qualität der Phonographenaufnahmen angewiesen zu sein, wollte er ein neuentwickeltes elektromagnetisches Gerät zum Einsatz bringen und nur im technischen Notfall auf den Excelsior-Reisephonograph zurückgreifen, der wie auch der Edison Standard Phonographen nicht speziell für Sprachaufnahmen entwickelt worden war. Gleich beim ersten Versuch versagte die Technik. Neben den im Zitat angeführten Schwierigkeiten gab es jedoch auch kulturelle Hürden mit der “Maschine die unsere Lider frisst” zu überwinden.

Nicht immer findet sich der Sprecher oder Sänger vor der schwarzen Dose sogleich zurecht, und ich muss aufpassen, dass in der Erregung nicht alles vergessen wird, was vorher diktiert wurde.

Rückblickend beschrieb Lentz seine Enttäuschungen als junger und bei seiner ersten Expedition noch unerfahrener Sprachsammler:

Nur “für das Gröbste ist er [der Excelsior-Phonograph; T.L.] auch bei sprachwissenschaftlichen Untersuchungen zu gebrauchen … [jeder] wird diese Resignation verstehen, die auch in einer der Sendung beigelegten Mahnung des Berliner Phonogramm-archivs zum Ausdruck kam: `Nur für Musikaufnahmen´.

Auch die mitgeführte Kamera und war eine derart “unheimliche Maschine” die bei denen, die gefilmt werden sollten “große Angst vor dem Apparat” auslöste. Lentz arbeitete daher stets nach der, von ihm weiter oben erwähnten, klassischen Methode. Bevor er die technischen Aufnahmen machte, transkribierte er die Geschichten, Liedertexte und Sprachbeispiele per Hand. Erst anschließend wählte er die, ihm für den Phonographen geeignet erscheinenden Beispiele aus. In seinen wissenschaftlichen Publikationen findet sich kein einziger Hinweis auf die Arbeit mit dem Phonograph und der elektromagnetischen Diktiermaschine – alle von Lentz publizierten sprachwissenschaftlichen Arbeiten wurden vielmehr nach alter Methodik, ‘mit Auge, Ohr, Bleistift und Papier’ erarbeitet.

Die eigentlichen Probleme mit dem Material sollten sich aber erst nach dem Ende des Forschungsaufenthalts, beim Archivieren und Konservieren der 1928 entstandenen Aufnahmen ergeben. Von den elektromagnetischen Aufnahmen fehlt heute jede Spur. Auch die von Lentz gemachten Filmaufnahmen sind bisher weder beschrieben noch ist bekannt ob sie überhaupt erhalten sind. Ein Teil des Nachlasses von Wolfgang Lentz befindet sich im Hamburger Institut für Iranistik – ebenso unangetastet und schwer zugänglich wie die Walzen mit den Tonaufnahmen aus dem Jahr 1928 im Berliner Phonogramm-Archiv. (Fortsetzung folgt)

2 Thoughts on “Wolfgang Lentz – Mit Phonograph und Kamera bei den vergessenen Völkern des Pamir. Der Sprachensammler und die Technik (1)

  1. Dr. Haschmat Hossaini on February 26, 2009 at 12:34 said:

    Sehr Interessant.

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