Aus dem Schicksal zweier Frauen

Eine Etüde zum Sowjetischen Alltagsdenken in Zentralasien von Olim devona.

4 HeiligeAls ich 2004 mit meinen Archivrecherchen im Museumsarchiv des Kokander Heimatmuseums begann, entdeckte ich ein Dokument, dass uns die Geschichte einer verdienten Bürgerin der Stadt Kokand im uzbekischen Ferghanatal erzählt. Ich will sie ein wenig ausgeschmückt in wenigen Worten wiedergeben:

In der ehemaligen Hauptstadt des Kokander Khanates Kokand, wurde 1896 Lutfixonum Sarimsakova geboren. Sie verlor früh Mutter und Vater und wuchs bei ihrer Tante auf, als die auch gestorben war, wechselte sie zu ihrem Bruder. Als ihre älteste Schwester verheiratet wurde, nahm diese Lutfi zu sich. Ihre Schwester unterwies sie in der Nähkunst. Sobald sie darin genügend unterrichtet war, nutzte sie diese Kunst, um etwas zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. So verging ihr Leben bis ins Jahr 1923. Die Zeiten waren hart, Frauen schwierig zu verheiraten. Gerade im Ferghanatal hatte der Krieg gewütet und viele Menschenleben gekostet. In jener Zeit pfiff man das Lied auf der Straße:

“Shaftoli shohi arzon — yomon yor.
Der Zweig mit Pfirsischen ist billig
Xar narsadan qiz arzon — yomon yor.
doch billiger als alles sind die Mädchen
Bahosini sorasangiz — yomon yor.
Wenn Du sie nach Ihrem Preis fragst…
kalam keynach buz ushton — yomon yor.
kostet sie ein Kleid und Hosen (aus Nesselstoff)

So blieb Lutfi bis 1923 unverheiratet. In jenem Jahr wurde Tadzhixon Shadieva zur Vorsitzenden der Frauenabteilung und brachte Lutfi dazu, aktiv in den örtlichen Wohnvierteln für die Belange des Frauenklubs zu arbeiten. Frauenklubarbeit hieß damals vor allem auf der Straße Frauen anzusprechen, die bereit waren, sich in einem Frauenklub zu treffen. Neben dem Aspekt der Geselligkeit wurden Klubs für aufklärerische Tätigkeiten genutzt. Im Frauenklub gab es neben Alphabetisierungsversuchen und Näharbeiten auch einen Musik-Dramen-Kreis. Der Musik Dramen Kreis hatte nun die Aufgabe, mit künstlerisch gestalteten Abenden in den Wohnvierteln für die sozialistische Sache zu werben, vor allem aber Frauen für politische Arbeit zu mobilisieren. Diese Abende gestaltete Lutfi für die Frauen und Familien der verschiedenen Wohnvierteln aus. Ein örtlicher Dichter, Aktivist und Theaterregisseur Hamza Hakimzoda Niyazi erfuhr von ihrem Talent und überredete sie 1925, sich in der Kokander Theatergruppe vorzustellen. So fing ihre Theaterkarriere an. Sie reiste in den Folgejahren durch die verschiedene Republiktheater und trat in Kinofilmen auf.

Ihre Stellung als unverheirate Frau ohne Kinder erlaubte ihr ein rastloses Leben in der Theaterwelt. Sie trat im Andijoner Theater, Ferghana, Taschkent Samarkand auf. Für ihre aktive Arbeit wurde sie wiederholt ausgezeichnet. Neben der Theaterarbeit konnte man sie als Lokalpolitikerin gewinnen. Sie war 20 Jahre Deputierte des Taschkenter Deputiertenrat. Im Deputiertenrat auf Republiksebene wurde sie für einen Durchgang (5 Jahre) gewählt. Ihr Leben verlief im Theater und in der politischen Sphäre beinahe ohne erkennbare Brüche. Als Schauspielerin wurde sie mehrfach ausgezeichnet, als Politikerin ebenfalls im Premiensystem, dem sozialistischen Belobigungssystem, mit allerlei Auszeichnungen bedacht.
Ihre Autobiographie schließt sie mit den Worten:

“All mein Leben habe ich der künstlerischen Arbeit hingegeben. All meine erreichten Erfolge verdanke ich der Partei und dem Staat. Ich bringe meine tiefste Dankbarkeit unserer heimatlichen Kommunistischen Partei dar und dem sowjetischen Staat!

Diese glatte Autobiographie gibt wenig Anlaß, über das Geschick von Lutfixanum Sarimsakova nachzudenken. Sie war eine für das Sowjetsystem freigestellte Frau, die sich im Sinne des Zeitgeistes engagierte. Sie gab ihr Leben für die sowjetische Sache hin und war seit 1925 im Bereich der Künste fest eingebunden. Von hier aus engagierte sie sich auf lokalem Niveau für Kommunalpolitk und war einmal Mitglied des Obersten Gremiums der Sowjetrepublik.

Doch ein Name innerhalb ihrer Autobiographie läßt aufhorchen: Tadzhixon Shadieva. Tadzhixon Shadieva war die Initialzündung für Lutfis Karriere, wie sie es für viele andere Frauen auch geworden ist. Tadzhixon war früh an Aktivistin im Namen der sozialistischen Utopie und konnte als Politikerin am Anfang der 1920er Jahre gewonnen werden. Tadzhixon selbst wurde mit 12 als 8. Frau an einen alten Mann verheiratet. Diese Stellung veranlasste sie, gegen ihr vorgeschriebenes Schicksal zu opponieren. So nahm sie die Aufforderung der kommunistischen Partei zur Befreiung der Frau ernst und war hierin eine Aktivistin der ersten Stunde. Ihre Motivation ist wie die vieler anderen Frauen jener Zeit aus ihrem Status als 8. Frau heraus zu verstehen. Sie legte den damals üblichen Schleier ab. Mehr noch als viele andere hundert Ablegerinnen des Schleiers ging sie auch in die Politik und wurde zur Aktivistin in den Frauenkomitees (Zhenotdel), Organisationskommittees, die aller Orten versuchten, Agitationsveranstaltungen für “die Befreiung der Frau” zu organisieren. Hier kreuzten sich, wie wir gesehen haben, die Wege von Lutfixonum Sarimsakova und Tadzhixon Shadieva.

Anders aber als Lutfixonum, der ein Leben innerhalb der Kunst gesichert blieb, gestaltete sich das Leben von Tadzhixon Shadieva. Sie nahm als Aktivistin eine steile Karriere in die höchsten Ränge der republikanischen Frauenabteilung und blieb im politischen Bereich tätig. Hier wurde sie Opfer der purgatorischen Säuberungen von 1937. Sie wurde in den Gulag in den Norden Sibiriens geschickt. Obwohl sie ihre Strafe schon nach zehn Jahren verbüßt hatte, kehrte sie erst wieder zurück, als sich in der Republik die Nachwehen der stalinistischen Verfolgungen gelegt hatten. Sie wußte um die Maschine der Säuberung, die einmal kontaminierte nicht mehr frei gab und Ehemalige immer wieder in ihren Gulag einverleibte.

1964 machte Malik Kajumov, einer der berühmtesten Dokumentarfilmer Uzbekistans, ein Film über Tadzhixon Shadieva. Als Name wird eine alltägliche Begebenheit zum Programm: “Eine Verabredung mit Tadzhixon. In diesem Film wird Tadzhixon Shadieva in einer interessanten Weise dargestellt. Wir sehen sie als Mitvierzigerin als Direktorin einer Sowchose im Ferghana-Kreis im Osten der Republik Uzbekistan. Sie hat hier einen kleinen Sohn, etwa sechs Jahre alt. Wir sind teilnehmende Beobachter an ihrem Alltag und ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen in der filmischen Gegenwart. Dazu wird ein Dokumentarfilm aus dem Jahr 1934 gemischt, der Tadzhixon Shadieva zum Mittelpunkt des Frauenbefreiungsgeschehen macht. Die Retrospektive ist Anlass über die Jugend Tadzhixons und über ihre Zeit als junge Aktivistin der Frauenbefreiungsbewegung zu sprechen. Die hauptsächlichen Zeitebenen, auf denen der Film spielt, sind die Zeit vor der 1937er Säuberung und der Gegenwart von 1964. Die Zwischenzeit bleibt unthematisiert. Für diejenigen, die nicht um Tadzhixons Vergangenheit im GULAG wissen, mag das sehr erstaunlich sein, war doch gerade der Krieg immer eine der wichtigsten historiographischen Meilensteine, in dem man seine aktive Rolle und seinen Beitrag zur Sache der Sowjetunion unter Beweis stellen konnte. Nur Tadzhixon konnte es nicht, sie saß zur Zwangsarbeit verdammt auf dem Permafrostboden irgendwo in Nordsibirien.

Der Film ist Anlaß sie nach ihrer Rehabilitierung als Person wieder öffentlich zu feiern. Er zeigt ihre zwei feierbaren Aspekte: ihre aktivistische Zeit und ihre Gegenwart in der Rolle der Sowchosdirektorin. Genau wie in der Stalinzeit wird das Positive, dass die Protagonistin zum Aufbau des Sozialismus leisten konnte.

Viele der Bilder der 1964er Zeitebene zeigen Kinder, hat doch die Protagonistin selber einen kleinen Jungen, den sie in den Kindergarten bringt, hat doch auch die Sowchose, in der sie Direktorin ist, einen eigenen Kindergarten… Irgendwann einmal sagt sie im Film:

“Ich liebe Kinder mehr als alles andere auf der Welt!”
“Warum? fragt sie der Dokumentarfilmer Kajumov.”
“Vielleicht, weil ich selber nie eine Kindheit hatte!”

Das sind die einzigen persönlichen Worte, die in diesem Film über sich selbst fallen. Filmemacher und Protagonistin schweigen über die Zeit zwischen 1937 und 1964. Doch was sieht das usbekische Auge “zwischen den Bildern”? Sieht es hier nicht eine Frau, die als Politstar der 1930er Jahre auf einem kollektivierten Gut des Staates zur Direktorin geworden ist? Sieht es nicht auch eine Frau, die Großmutter dieses eigenen Sohnes sein müsste? Sieht es nicht eine Frau, die ihr Leben (nicht nur ihre Kindheit) in den Dienst des Sowjetstaates stellte und erst als er sie aus ihrer exponierten Stellung fallen lies, er es ihr ermöglichte einen kleinen Teil ihres verpassten Familienlebens wieder aufzuholen?

Auch Tadzhixon würde in jener Zeit wohl fomuliert haben:

“All meine erreichten Erfolge verdanke ich der Partei und dem Staat. Ich bringe meine tiefste Dankbarkeit unserer heimatlichen Kommunistischen Partei dar und dem sowjetischen Staat!”

Und die Zuschauer des Filmes werden wohl gedacht haben: “Gott sei Dank, sie lebt!”

Olim devona arbeitet zur Zeit am Institut für Ethnologie der Uni Leipzig

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