Afghanistan vor 50 Jahren

Rede von Reinhard Schlagintweit, Kulturatachee der Deutschen Botschaft Kabul von 1958 bis 1961, anläßlich der Eröffnung der Afghanistanausstellung im Mauritianum Altenburg

Vor ein paar Wochen wurde ich freundlich eingeladen, mich in fortgeschrittenem Alter noch einmal an mein Lieblingsland zu erinnern und darüber zu sprechen. Ich tue das sehr gern. Denn Afghanistan war mein und meiner Familie Lieblingsposten in einer mehr als 40 Jahre dauernden Tätigkeit im Auswärtigen Dienst. Nicht nur uns ging es so. Ich kenne niemand, der damals, und auch später noch, in Afghanistan lebte und der nicht sein Leben lang von diesem Land und seinen Menschen schwärmte.

Fotos von der Reise nach Nuristan 1958

Fotos von der Reise nach Belutschistan, 1959

Im letzten Jahr meines Dienstes in der Türkei hatte ich bei der Personalabteilung in Bonn mein Interesse an einem Posten in Afghanistan angemeldet. Ich war gern in der Türkei und hoffte wohl, in Afghanistan eine Steigerung der für uns so anderen, reizvollen Welt des muslimischen Orients zu erleben. Von Afghanistan hatte ich keine Ahnung. Mich reizte das Unbekannte, Abenteuerliche, das ich mit diesem Namen verband. Als ich meiner Frau beichtete, was ich mit dem Personalreferat besprochen hatte, war sie nicht begeistert. Wir waren eine fünfköpfige Familie, das jüngste Kind war noch keine zwei Jahre alt. Gerade zu dieser Zeit gab es einen ernsten Konflikt zwischen Afghanistan und seinem Nachbarn Pakistan. Pakistan sperrte zeitweise den Khyber Pass, den wichtigsten Grenzübergang; häufig mussten Transitgüter nach Kabul wochenlang auf die Genehmigung zur Weiterfahrt warten. Für eine Mutter von drei Kindern war das nicht besonders verlockend. Nach ein paar Wochen, als keine Alarmnachrichten mehr eintrafen, sagte sie: Also wenn du so gerne nach Afghanistan willst – ich komme mit. Das schaffen wir schon.

Afghanistan war mein zweiter Posten im Auswärtigen Dienst. Meine Familie und ich lebten vom März 1958 bis September 1961 in Kabul. Diese dreieinhalb Jahre gehörten zu den schönsten meines Berufslebens. Wir fühlten uns menschlich wohl und gewannen gute Freunde. Die großartige, unzerstörte Landschaft hatte etwas zu Herzen und zur Seele gehendes. In Kabul wurde unser jüngster Sohn geboren. Wir unternahmen wunderbare Reisen und genossen die natürliche Gastfreundschaft, die uns überall entgegengebracht wurde. Meine Frau weinte, als sie Ende 1961 das Flugzeug nach Deutschland bestieg. Auch mich hat, wie Sie sehen, Afghanistan seither nicht wieder losgelassen.

Fotos von der Reise nach Nuristan 1958

Fotos von der Reise nach Belutschistan, 1959

Der Reiz dieses Landes bestand natürlich auch in seinem vormodernen Charakter. Wir trafen in Afghanistan auf eine Welt, die von Industrialisierung, Konsumwirtschaft, Verstädterung noch kaum berührt schien. Gleichzeitig war ich Zeuge politischer und sozialer Veränderungen, deren Bedeutung weit über die Grenzen des kleinen Landes hinausging. Afghanistan war vor 50 Jahren noch nicht “entdeckt”. Hippies gab es noch nicht, die belebten erst 10 Jahre später die Basare und fuhren per Bus oder Anhalter weiter nach Indien. Es kamen noch nicht einmal Touristen. Drogen waren kein Thema. Wenn, ganz selten, ein deutscher Student sich auf der Durchreise bei der Botschaft meldete, luden wir ihn zum Mittagessen ein.
In Kabul gab es damals noch wenig Autos. Als ich in den ersten Wochen im Hotel wohnte, brachte mich morgens eine Pferdedroschke in die Botschaft. Unser Haus war eins der wenigen, das ein Blechdach besaß; Küche und Abstellräume waren, wie die meisten Nachbarhäuser, nur mit Lehm gedeckt und mussten nach Regen oder Schnee mit einer einfachen Steinwalze wieder dicht gemacht werden. Eine elektrische Pumpe versorgte das Haus mit Grundwasser. Vor dem Haus wuschen sich viele Menschen in den Wassergräben, die zwischen Straße und Häusern entlang führten und auch anderen Zwecken dienten.

Ich spürte täglich, wie stark Afghanistan vom Islam geprägt war. Das Fastengebot im Ramadhan und das Alkoholverbot wurden, im Gegensatz zur Türkei, strikt eingehalten. Alle Frauen trugen den Ganzkörperschleier, der in Afghanistan Chodiri genannt wird; während des ersten Jahres unseres Aufenthalts sah ich das Gesicht keiner einzigen afghanischen Frau. Die Gespräche mit Kollegen vom Außenministerium oder mit anderen Bekannten ließen eine tief sitzende, mystische Form des Glaubens ahnen. Ein seit langem in der Gegend tätiger deutscher Fachschullehrer vermittelte den Besuch von angesehenen Heiligen. Manchmal sahen wir an der Straße, weitab von Kabul, wie imposante alte Männer hinter einer Bettelschale hockten, die eine unglaubliche Würde ausstrahlten. Sie bettelten nicht aus Armut, sondern weil sie sich, wahrscheinlich in einem reifen Alter, zu einem Leben in Demut, ohne Besitz und Bindungen entschlossen hatten

Nach einem Jahr erlebten wir mit, wie die Schleier (chodiri) – Pflicht aufgehoben wurde. Am afghanischen Nationaltag erschienen der König, der Ministerpräsident und andere Angehörige der königlichen Familie und des Kabinetts zum ersten Mal in Begleitung ihrer Frauen in der königlichen Loge. Die Damen waren unverschleiert, trugen aber Kopftuch und Mantel.

Das wurde in Kabul als Befreiung empfunden. Die Bevölkerung akzeptierte die Neuerung, weil sie ihr nicht aufgezwungen wurde; jede Frau war frei, die Chodiri anzuziehen oder nur die Haare zu verhüllen. Am meisten freuten sich die Schulmädchen, die nun fröhlich in ihrer dunkeln Schuluniform und mit weißem Kopftuch auf den Straßen herum liefen. Nur im Süden des Landes brannten einige Schulen.

Fotos von der Reise nach Nuristan 1958

Fotos von der Reise nach Nuristan 1958

Während unserer Zeit in Afghanistan war das ganze Land sicher. Wir fragten gar nicht, ob man ohne Gefahr mit den Kindern zu den Buddhas nach Bamian fahren und an den großartigen blauen Seen zelten konnte. Einmal wanderten meine Frau und ich mit einem deutschen Bekannten (und dessen afghanischen Koch) zehn Tage lang durch das Pandschirtal, später das Reich des Freiheitshelden Ahmed Schah Massud. Auf dem Weg zum über 4000 Meter hohen Andschuman-Pass übernachteten wir im Zelt; manchmal auch bei Dorfbewohnern, die uns eingeladen hatten.
Alle Macht im Staat lag in den Händen der königlichen Familie, des beliebten, aber wenig aktiven Königs Zahir Schah und seines Neffen und Schwiegersohns, des Ministerpräsidenten Prinz Daud. Daud regierte das Land mit eiserner Faust. Räuber wurden ohne viel Federlesens aufgehängt. Die paschtunischen Stämme ließ man weitgehend in Ruhe. Konflikte zwischen den Sprachgruppen schien es nicht zu geben.
Die ethnische Vielfalt des Landes wurde erst am Nationalfeiertag sichtbar, wenn die Menschen aus dem ganzen Land nach Kabul strömten. Da tanzten wilde Paschtunen im Kreis andächtig zuschauender Städter, die langen Haare in die Luft schleudernd, während etwas weiter Turkmenenstämme ihre martialischen Reiterspiele austrugen.

“Armut” war damals kein dringendes Thema. Natürlich wusste jeder, dass Afghanistan zu den ärmsten Ländern der Erde gehörte; die Vereinten Nationen schätzten das Prokopfeinkommen auf 30-60 $ im Jahr. Aber die Menschen im Land kannten nichts anderes; es gab keine Alternative. Die meisten Frauen, auch die Mehrheit der Männer, konnten weder lesen noch schreiben. Die Regierung fing erst seit kurzem an, auch auf dem Land Schulen zu bauen. Von einem Gesundheitsdienst konnte außerhalb Kabuls und einer Handvoll anderer Städte keine Rede sein. Viele Missstände einer vormodernen Gesellschaft wie Kinderehen und Gewalt in der Familie, die heute mit Recht energisch bekämpft werden, waren uns damals nicht bekannt. Es gab sie natürlich; ich zweifle aber, ob sie unsere afghanischen Freunde beunruhigten.

Fotos von der Reise nach Nuristan 1958

Fotos von der Reise nach Nuristan 1958

Die afghanische Regierung hatte mit ausländischer Hilfe für die Jahre 1956-1961 zum ersten Mal einen Fünf-Jahres-Plan aufgestellt. Durch die Verbesserung der Infrastruktur, sowie einige Kraftwerke und den Bau der ersten Fabriken “Zement, Textil, Zucker“, wollte man Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung schaffen. Damals lief gerade die ausländische “Entwicklungshilfe” an. Es gab ein älteres amerikanisches Programm; mit zwei großen Staudämmen wurde das Hilmand Tal landwirtschaftlich entwickelt; dazu kamen der Bau der Straße von Kabul nach Kandahar und des Flugplatzes Kandahar. Die Vereinten Nationen unterhielten eine große Vertretung, ihre Berater saßen in vielen Ministerien. Ein weiteres Programm, das der Sowjetunion, konzentrierte sich auf die Erforschung von Bodenschätzen und den Bau von Straßen, und zunehmend auf den militärischen Sektor.
Nach den USA gab die Bundesrepublik Deutschland am meisten nicht-militärische Hilfe. Der Grund unserer Großzügigkeit waren nicht nur die bis in die Zeit des ersten Weltkriegs zurück reichenden freundschaftlichen Beziehungen, die seither fast ohne Unterbrechung von Beratern, Lehrern, Ingenieuren und Firmen gepflegt worden waren. Sondern auch, weil Bonn sicher gehen wollte, dass Afghanistan, ein blockfreier Staat, der enge Beziehungen zur Sowjetunion unterhielt, die DDR nicht völkerrechtlich anerkannte. Es war die Zeit der Hallstein-Doktrin und der “sogenannten” DDR.

Im Rahmen der Wirtschaftshilfe unterstützten wir den Bau des Kraftwerks Sarobi, das die Versorgung von Kabul sicherte, und den Ausbau der Textilfabrik in Gulbahar; beide wurden von deutschen Firmen durchgeführt. Das wichtigste Projekt der Technischen Hilfe waren Berufsschulen, 3 technische Schulen in Kabul, Kandahar und Khost, sowie eine Handwerksschule und eine Lehrerbildungsanstalt. Dazu kamen in meiner Zeit eine Mission der Bundesanstalt für Bodenforschung zur Erkundung von Bodenschätzen und eine Hydrologische Mission, die die Wasservorräte des Landes untersuchte und die Behörden bei ihrer Nutzung beriet.

Nicht zu vergessen die deutschsprachige Oberrealschule. Zu unserer Zeit hieß sie Nedschat-Schule, später erhielt sie wieder ihren alten Namen Amaniye, nach König Amanullah, der sie 1924 gegründet hatte. Zu meiner Zeit unterrichteten dort zwischen drei und fünf deutsche Gymnasiallehrer, die vom Auswärtigen Amt bezahlt wurden, afghanische Buben in naturwissenschaftlichen Fächern und Deutsch. Viele wichtige Persönlichkeiten sprachen gut Deutsch, weil sie die Schule besucht und/oder in Deutschland studiert hatten.

Die Deutsche Botschaft hatte damals nur drei Diplomaten: den Botschafter, den Wirtschaftsreferenten und mich. In meine Verantwortung fielen die ersten Veranstaltungen mit westlicher Kunst. Den Anfang machte ein junger deutscher Gitarrist, der schon in Ankara bei uns gespielt hatte. Als er auf dem Weg nach Indien durch Kabul kam, dachten wir uns aus, dass er zusammen mit afghanischen Musikern ein Konzert geben könnte; jeder sollte seine Musik spielen, die Afghanen ihre indisch klingenden einstimmigen Weisen, Siegfried Behrends Bach und Villa-Lobos.

So geschah es. Das Konzert fand im einzigen Kabuler Kino statt, es hatte erst vor kurzem eröffnet. An diesem Abend war es bis auf den letzten Platz besetzt. Das jugendliche, durchweg männliche Publikum hockte im Schneidersitz auf den Sesseln und spuckte Nussschalen auf den Boden. Wahrscheinlich waren sie vorher noch nie in einem Kinosaal gewesen. Ihre Begeisterung äußerten sie durch aufmunternde Zurufe.
Auch die bildende Kunst erlebte durch uns eine Premiere. Am Rand der Stadt gab es ein Messegelände mit Pavillons, in dem befreundete Staaten einmal im Jahr Nutzfahrzeuge und Maschinen zeigten. Anlässlich des Nationalfeiertags 1960 benutzten wir das deutsche Haus, das zufällig leer stand, um während der Festwochen moderne Kunst auszustellen; das Auswärtige Amt hatte uns dafür ein paar Dutzend Lithographien zur Verfügung gestellt. Das war das erste Mal, dass so etwas in Kabul auftauchte. Der König eröffnete unsere Ausstellung, das ganze Kabinett begleitete ihn.
Die “Galerie” war gut besucht. Vormittags kam das städtische Bürgertum, Lehrer, Studenten, Beamte; die Männer im dunklen Anzug und mit der üblichen Karakul-Fell Mütze, viele Frauen unter der Schatri; nachmittags drängte sich das Landvolk mit Turban, langem Hemd und weiten weißen Hosen durch die Räume.

Fotos von der Reise nach Nuristan 1958

Fotos von der Reise nach Nuristan 1958

Zu dieser Zeit zeigten sich aber bereits dunkle Wolken am politischen Himmel. Am bedrückendsten war die immer stärker werdende Stellung des nördlichen Nachbarn. Wenige Jahre vorher war es der Sowjetunion gelungen, eine politische Schlüsselfunktion in die Hand zu bekommen; sie hatte zugesagt, die afghanischen Streitkräfte auszurüsten und zu schulen. Man nahm das in Kabul zunächst kaum bewusst wahr, wollte es vielleicht auch nicht ganz wahrhaben, weil es so gar nicht in dieses konservative, von Traditionen geprägte Land passte. Das war so gekommen: Anfang 1955 hatte Prinz Daud zunächst die Amerikaner um Militärhilfe gebeten. Daud hatte vom Nachbarn Pakistan verlangt, es sollte seinen Paschtunen das Recht auf Selbstbestimmung geben; das hiess praktisch, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich dem von Paschtunen geprägten Afghanistan anzuschließen; diese Forderung hatte zu schweren Spannungen mit Pakistan geführt. Nun musste Afghanistan seine Streitkräfte ausbauen. Der Gegner Pakistan war aber der Verbündete der USA im den amerikanischen Regionalbündnissen Bagdad-Pakt und South East Asian Treaty. In dieser Situation konnte der amerikanische Außenminister Dulles nicht anders, als auf die afghanische Bitte mit “Nein” zu antworten.

Daraufhin wandte man sich an den Nachbarn im Norden. Der reagierte prompt. Noch im gleichen Jahr reisten die beiden starken Männer des Kreml, Parteichef Chruschtschow und Ministerpräsident Bulganin, persönlich nach Kabul. Im Gepäck hatten sie die Bereitschaft, die Streitkräfte materiell und personell zu modernisieren, dazu noch einen Entwicklungskredit über die damals sensationelle Summe von 100 Millionen Dollar und ein großzügiges Stipendienprogramm, das die afghanische Regierung verpflichtete, jährlich eine größere Zahl Akademiker zur Ausbildung in die Sowjetunion zu schicken. Damit sicherte sich die Sowjetunion einen bestimmenden Einfluss auf das politische Geschehen in Afghanistan.

Fotos von der Reise nach Nuristan 1958

Fotos von der Reise nach Nuristan 1958

In den 50er Jahren hatte Afghanistan begonnen, sein Bildungssystem auf breitere Schichten der Bevölkerung auszudehnen. Mit Studenten und Hochschulabsolventen, auch aus der Provinz, entstand eine neue soziale Gruppe. Während unserer Zeit in Kabul erlangten sie zum ersten Mal Zugang zu öffentlichen Berufen und entwickelten ein politisches Bewusstsein. Zu dieser Gruppe gehörten Journalisten und Lehrer, mit denen ich zu tun hatte. Wenn ich sie besser kennen lernte, hörte ich, wie kritisch sie den Zustand ihrer Gesellschaft sahen. Sie verglichen die Rückständigkeit Afghanistans mit der Entwicklung der Nachbarn, vor allem mit den zentralasiatischen Provinzen der Sowjetunion. Schon wenn man mit dem Flugzeug nach Norden flog, sah man, wie sich jenseits der Grenze die Landschaft veränderte: statt trockener Steppe sorgfältig angelegte, grün schimmernde Felder, stattliche Dörfer, in denen es Schulen gab und die Kranken versorgt wurden. Die Menschen dort gehörten zur gleichen Kultur wie sie selbst. Die Rückständigkeit des eigenen Landes musste also an etwas anderem liegen, sei es die traditionelle Regierung, sei es die in Afghanistan viel unbedingter ausgeübte Religion. Die Verhältnisse in den zentralasiatischen Sowjet-Provinzen erhielten für viele kritische Intellektuelle Modellcharakter.
Aber zunächst versuchten die traditionellen Eliten in Kabul, die sowjetische Präsenz zurückzudrängen; das massive Auftreten der kommunistischen Weltmacht war innen- und außenpolitisch auf Kritik gestoßen.

Als erstes wurde der Ministerpräsident ausgewechselt. 1963 trat Ministerpräsident Prinz Daud, wohl nicht freiwillig, zurück. Als Grund vermutete man Unzufriedenheit darüber, dass Dauds Paschtunistan-Politik das Land in gefährlicher Weise isoliert hatte; die daraus entstandene Abhängigkeit von der Sowjetunion wurde weder von den politischen Eliten noch von der Bevölkerung gebilligt. Ein Bürgerlicher, der bisherige Bergbauminister Mohammed Jussuf, übernahm die Regierung. Er bemühte sich, das außenpolitische Gleichgewicht wieder herzustellen. Liberale Persönlichkeiten traten ins Kabinett ein, die Beziehungen zu den USA und Europa wurden ostentativ gepflegt.

Fotos von der Reise nach Nuristan 1958

Fotos von der Reise nach Nuristan 1958

In diesem Zusammenhang besuchte König Zahir Schah mit seiner Frau 1964 Deutschland. Ich war inzwischen nach Bonn versetzt worden; zu meiner Zuständigkeit gehörte auch Afghanistan. Meine Frau und ich durften die Gäste auf ihrer Reise durch das Bundesgebiet begleiten. Ich werde nie vergessen, wie ich mit dem damaligen Hofdichter, der zum Gefolge des Königs gehörte, im Auto durch Oberbayern fuhr. Der an karge Hochgebirge und Wüsten gewohnte Mann brach während der Fahrt aus dem Stehgreif in rhythmischen Gesang aus, um die herrliche grüne Landschaft zu rühmen.
Dem schwachen Ministerpräsidenten, der über keine Hausmacht verfügte, unter einem schwachen König gelang es nicht, den außenpolitischen Kurs des Landes zu korrigieren. Es entstand zwar eine neue Verfassung mit einem Parlament und einem besseren Rechtssystem. Ohne ein Parteiengesetz konnten sich die ohnehin wenig aktiven gemäßigten Kräfte nicht formieren. Fünf Ministerpräsidenten in zehn Jahren waren nicht in der Lage, die Stellung der Sowjetunion zu erschüttern. Die Führung war nicht einmal stark genug, um die Bildung radikaler Gruppierungen am Rand der Legalität zu verhindern. Auf der Linken bildeten sich zwei kommunistische und eine maoistische Partei; rechts formierten sich militante islamische Verbände.

Ein traditioneller Schwachpunkt der afghanischen Sozialstruktur war schon seit jeher der tiefe Graben zwischen Stadt und Land. Bei meinen Reisen hatte ich oft gespürt, wie fremd die Menschen in den Dörfern und die Eliten in der Hauptstadt einander waren. Jeder Beamte, jeder Lehrer betrachtete einen Posten in der Provinz als Verbannung und versuchte, möglichst bald wieder nach Kabul versetzt zu werden; dort war gewöhnlich auch die Familie geblieben. Die Landbevölkerung sah in der fernen Regierung vor allem eine Quelle von Unannehmlichkeiten wie Steuern, Arbeitsfron und Wehrdienst. Die schwachen Verbindungen zwischen Kabul und den Dörfern rissen ab, als zwischen 1969 bis 1972 eine schwere Dürre das Land heimsuchte. Die Regierung schaffte es nicht, die Hilfslieferungen aus befreundeten Staaten effektiv zu verteilen und das Schicksal der Menschen zu lindern. Der Not fielen etwa 100 000 Menschen zum Opfer. Erstmals übte die Bevölkerung auch am König Kritik; er wurde für das Versagen des Staates verantwortlich gemacht. Ein Jahr später setzte Prinz Daud, der elf Jahre lang kein politisches Amt bekleidet hatte, den König ab und rief die Republik aus. Ohne das Versagen bei der Dürre wäre es kaum möglich gewesen, die Monarchie, bisher die tragende Säule des Staates, mit einem Handstreich abzuschaffen.

Fotos von der Reise nach Nuristan 1958

Fotos von der Reise nach Nuristan 1958

Prinz Daud, der neue Präsident, hatte schon die Sowjets ins Land geholt. Jetzt war er mit Hilfe der in der Sowjetunion ausgebildeten Offiziere und Politiker erneut an die Macht gekommen. Es dauerte aber nicht lange, da wurde ihm klar, dass Politiker, die eine religionsfeindliche Ideologie durchsetzen wollten, nicht dazu taugten, ein Land mit einer so streng religiösen Bevölkerung wie Afghanistan zu führen. Mit finanzieller und politischer Unterstützung des Schahs von Iran versuchte er, diese Kräfte in der Regierung und bei den Streitkräften zurückzudrängen. Es war zu spät. 1978 putschten kommunistische Parteiführer und Offiziere und erklärten Afghanistan zur sozialistischen Republik; Prinz Daud wurde ermordet. Schon nach zwei Jahren mussten die kommunistischen Führer sowjetische Truppen zu Hilfe rufen; sie sahen keinen anderen Weg, um mit den muslimischen Gruppen fertig zu werden, die in den Dörfern gegen sie angetreten waren und sich als überlegen erwiesen.

In der gegenwärtigen Situation ist es vielleicht nützlich, sich daran zu erinnern, dass auch die afghanischen Kommunisten, ohne und mit der Sowjetunion, die afghanische Gesellschaft in einer modernen Richtung entwickeln wollten. Die meisten von ihnen und ihre Helfer – Studenten, Lehrer, Künstler – waren keine Ideologen, die einer abstrakten Philosophie anhingen und das Eigentum abschaffen wollten; sondern auch Idealisten, die hofften, mit Hilfe eines in der Nachbarschaft erfolgreichen Gesellschaftsmodells mit der bedrückenden Armut, der beschämenden Rückständigkeit ihres Landes fertig zu werden. Viele ihrer Reformen waren vernünftig und an der Zeit: die Landreform und die Abschaffung des Brautpreises, Maßnahmen, die den unteren Schichten der Landbevölkerung zugute kommen sollten; die Studenten, die in die Dörfer kamen, um auch Erwachsenen Lesen und Schreiben beizubringen; die Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten der Frauen. Aber diese Verbesserungen trafen auf tief verwurzelte Traditionen; daher wurden sie als unislamisch verworfen und als fremd bekämpft. In dem erbitterten Machtkampf zwischen radikalen islamischen Gruppen und Vertretern einer in der Stadt angesiedelten Lebensweise gingen sie unter. Wenigstens teilweise. In der Stadt, also in Kabul und in den nicht-paschtunischen Städten des Nordens, setzten sie sich weitgehend durch und hielten sich, bis die Taliban wieder die Einhaltung der traditionellen Lebensweise erzwangen.

Vor fünfzig Jahren hatte gerade eine neue Phase im “Great Game”, der politischen und ideologischen Rivalität um Afghanistan, begonnen, welche die damaligen Großmächte seit mehr als 150 Jahren untereinander austrugen. Nachdem Großbritannien sich von Indien aus Jahrzehnte lang eine Art Protektorat über den Pufferstaat gesichert hatte, baute sich jetzt, nach dem Abzug der Briten aus dem Subkontinent, der nördliche Nachbar als Kontrollmacht auf.

Fotos von der Reise nach Nuristan 1958

Fotos von der Reise nach Nuristan 1958

Die weitere Entwicklung verfolgte ich nur aus der Ferne. Die Sowjetunion musste 1989 geschlagen abziehen und jeden Anspruch auf Dominanz aufgeben. Der afghanische Staat war schon vorher im Kampf zwischen Besatzungsmacht und Freiheitskämpfern zerrieben worden; nun brachen Bürgerkrieg und Chaos aus.

Die USA, die einzige übrig gebliebene Weltmacht, zögerten lange, bevor sie sich in diesem strategisch wichtigen politischen Vakuum engagierten. Aber als nach dem 11.9.2001 mit dem Krieg gegen den Terror ein neuer globaler Machtkampf ausgebrochen war, glaubten sie, das arme Land am Hindukusch sei zur Partei geworden; die USA selbst würden von dort bedroht. Sie vertrieben die reaktionären Machthaber, setzten eine neue Führung ein und versuchten, einen Staat nach ihren Vorstellungen zu bauen, wenn es nicht anders ging, auch mit Gewalt.

Aber Amerika war, ähnlich wie zwei Jahrzehnte früher die Sowjetunion, dieser Aufgabe nicht gewachsen, als die Afghanen sich gegen die fremde Bevormundung wehrten. Gegenwärtig zieht auch Washington sich wieder zurück. Als Folge drohen, wie vor 20 Jahren, Staatszerfall und Bürgerkrieg.
Ich möchte wenigstens kurz einen weiteren Vorgang erwähnen, der etwa in der Zeit, in der ich in Afghanistan lebte, anlief und seither die Auseinandersetzungen im historischen “Großen Spiel” um Afghanistan begleitet: “Entwicklung”.

Mit Fünfjahres-Plan, Bildungswesen, Infrastruktur, Entwicklungshilfe und fremden Heeren begann damals die Moderne, intensiver, direkter als bisher in die Gesellschaften des Landes einzudringen. Noch deutlicher wird dies am Beispiel der Haltung zu “Armut”. Eine neue Dynamik setzte ein, die das Leben und Denken der Menschen veränderte, aber auch hohe soziale Kosten verursachte, wie Verunsicherung, blutige Konflikte, die Aufgabe von Traditionen. Die Prozesse, die damals anliefen, sind heute, 50 Jahre später, noch lange nicht zu Ende.

Die geschichtliche Periode, in der Amerika und Europa im “Größeren Mittleren Osten” Ordnung schaffen und durch unmittelbare Einwirkung Werte vermitteln konnten, geht zu Ende. Neue Kräfte entstehen, die politische und soziale Veränderungen ohne uns, und auch gegen uns, durchsetzen, mit unseren Instrumenten, unserer Technologie, aber ohne unseren Schutz, und in vielen Fällen auch ohne unsere Werte. Afghanistan stehen wieder schmerzliche Prozesse bevor, Prozesse, deren Charakter und Auswirkungen wir nicht kennen.

Die Staatengemeinschaft muss versuchen, Wege zu finden, um dem afghanischen Volk auch unter schwierigen Umständen zu helfen, die Armut zu bekämpfen, seine Wirtschaft zu verbessern, und Sicherheit zu schaffen. Nur wenn es hier Fortschritte gibt, kann der Staat von innen wieder aufgebaut werden, ein Staat, der zu den Menschen und ihrer Kultur passt und ihren Bedürfnissen entspricht.

 

Nachtrag: Mittlerweile sind die Erinnerungen Reinhard Schlagintweits in unserem Verlag edition-tethys in einem Buch erschienen. Wem dieser Artikel gefallen hat, sollte auch das Buch nicht verpassen.

2 Thoughts on “Afghanistan vor 50 Jahren

  1. Hans Jürgen Schütz on February 26, 2016 at 15:20 said:

    Da werden doch Erinnerungen wach: Unsere Familie war bis 1959 in Kabul – der Vater bei der FAO.

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