Eine Erinnerung von Thomas Loy
Als ich Arkadi (Abrascha) Levayevitsch Il’yasov das erste Mal traf, saß er in seiner Küche und wartete auf mich. Es war im April 2005 in Samarkand. Ein gemeinsamer Freund hatte mir Arkadi als Gesprächspartner empfohlen und ihn am Abend zuvor angerufen und gefragt, ob er bereit sei, mir etwas über die Geschichte der Bucharischen Juden zu erzählen. Er war einverstanden.
Die Familiengeschichte, die mir Arkadi dann erzählte, begann in Herat in den 1850er Jahren und endete eineinhalb Stunden und eineinhalb Jahrhunderte später in Israel. Arkadi verstand sich, wie er gleich zu Beginn dieses Gesprächs mit Stolz herausstellte, nicht als “Bucharischer” Jude, sondern als “Eroni”, als “Iranischer” Jude. In seinen Erinnerungen präsentierte er sich als ein Nachkomme derjenigen Juden Mashhads, die nach ihrer kollektiven Zwangsbekehrung zum Islam im Jahr 1839 zu großen Teilen nach Herat übersiedelten, da sie dort ihren jüdischen Glauben weiter offen ausüben konnten. Später zogen einige von ihnen weiter in die boomenden Städte Russisch Turkestans und ließen sich hier nieder. Arkadi Il’yasovs Lebensgeschichte beginnt mit der Kindheitsgeschichte seines Urgroßvaters und seiner Ur-Großmutter in Herat. Hano, die Ur-Großmutter, geboren in Herat 1876, ist neben Arkadis Mutter Rohel (geboren 1913 in Kerki) die zentrale Figur in Arkadis Erinnerungen. Herat, Marv, Kerki und schließlich Samarkand sind die Stationen dieser Familiengeschichte.
Wie so viele jüdische Geschichten aus Zentralasien ist auch Arkadi Il’yasovs Geschichte eine Geschichte der Trennungen und Wiedervereinigungen und eine Geschichte vom Verschwinden und vom Vergessen und Verdrängen der Iranischen (Mashhader) und Afghanischen (Herater) Wurzeln eines beträchtlichen Teils der sogenannten Bucharischen Juden Zentralasiens. Wie viele andere Familiengeschichten belegen die Erinnerungen Arkadis, die große Mobilität und Flexibilität jüdischer Familien und die engen Beziehungen der jüdischen Gemeinden (Nord)Afghanistans, (Nordost)Persiens und Zentralasiens bis in die 1930er Jahre. Sie zeigt auch, wie vielfältig die jüdischen Gemeinden dieser Region waren, und dass die lange Geschichte der Juden in Zentralasien nicht als ein Kontinuum gedacht werden kann, sondern als eine bewegte und eine bewegende Geschichte mit vielen Wendungen und Veränderungen und lokalen Besonderheiten auch und insbesondere im 20. Jahrhundert.
Das folgende Zitat, war Arkadi Il’yasovs Einstieg in seine Lebens- und Familiengeschichte:
Die Bucharischen Juden kamen vor 2100 Jahren nach Samarkand. Aber meine Familie stammt aus Iran und lebte dort lange Zeit bevor sie dann nach Zentralasien kamen. Tausend Jahre, vielleicht 1500 Jahre? Sie lebten dort sehr lange. 1855 zogen die Eltern meines Großvaters von Mashhad in Iran nach Herat in Afghanistan. In Herat lebten sie 50 Jahre, bis 1905. 1905 zogen sie von Afghanistan nach Turkmenistan in eine Stadt namens Marv. Dort blieben sie 7 Jahre bis 1912. 1912 zogen sie weiter nach Kerki. In Kerki lebte meine Familie von 1912 bis 1937. In diesem Jahr zogen sie dann nach Samarkand. Die eine Hälfte unserer Verwandten lebte hier, die andere Hälfte blieb in Turkmenistan. Später dann gingen einige von Samarkand nach Taschkent und nach Duschanbe…
Einige seiner Geschwister verließen die Sowjetunion in den 1970er Jahren und gingen nach Israel. Dort trafen sie auf Verwandte, die nach der Schließung der Sowjetisch-Afghanischen Grenze Mitte der 1930er Jahre auf der Afghanischen Seite geblieben waren und im Anschluss an die von der neuen Kabuler Regierung verhängten wirtschaftlichen Restriktionen gegenüber jüdischen Händlern und nach der Deportation von Juden aus weiten Teilen Nordafghanistans nach Palästina emigriert waren. Arkadi reiste erstmals 1999 nach Israel um seine Familienangehörigen wiederzusehen. Aber er blieb nicht lange, sondern kehrte nach Samarkand zurück. Dort lebte er nach dem Tod seiner Frau alleine und kümmerte sich um viele Belange des täglichen Lebens der immer kleiner werdenden jüdischen Gemeinde in Samarkand. Unter anderem assistierte er dem Shohet beim Schlachten und organisierte die ordentliche und ordnungsgemäße Verteilung des Fleisches. Von seiner kleinen Rente – von 1963 an arbeitete er 33 Jahre lang bis zu seiner Pensionierung als innerstädtischer Busfahrer in Samarkand – kaufte er das, was er zum Leben brauchte. Es war nicht besonders viel. Was er immer bei sich hatte, war eine Packung Karvon. Ohne Filter. Seine Lieblingszigarette.
Ich hätte Ihm sehr gerne noch eine Packung vorbei gebracht. Und ich bereue es sehr, dass ich in den letzten Jahren nicht mehr dazu gekommen bin, es zu tun. Vergangene Woche ist Arkadi Il’yasov nach kurzer schwerer Krankheit in Samarkand verstorben. Gott sei ihm gnädig. Ich werde die Tage und Gespräche mit ihm nie vergessen. Gute Reise Dyadya Arkadi!
Im November 2017 traf Fred Daudon Arkadi Il’yasov in Samarkand und portraitierte ihn mit tollen Bildern und einigen zitierten Passagen aus meinem Buch “Bukharan Jews in the Soviet Union: Autobiographical Narrations of Mobility, Continuity and Change”. Wer das anschauen und nachlesen möchte, muss sich durch die erste Hälfte der hier verlinkten Rubrik “Bukharan Jews” klicken, bevor er auf Arkadi trifft, wie er die Tür zum jüdischen Gemeindezentrum in Samarkand auf/zuschließt. Dann folgen sieben Seiten mit Interviewpassagen aus meinen Erinnerungsgesprächen mit Arkadi und dessen abschließender Wunsch, vor seinem Tod noch einmal seine Familienangehörigen in Israel zu sehen.