Buchara oder In Erwartung eines Sandsturms

Ein Reprint von Landolf Scherzerlandolf-scherzer.jpg

Mitte der 1970er Jahre reiste ein DDR-Schriftsteller in die 5 südlichen Sowjetrepubliken, die sogenannten -stans , und erschrieb sie einem DDR Publikum. Es entstand das Buch “Nahaufnahmen”. Aus diesem Buch veröffentlichen wir nun nach seinen Erlebnissen in Samarkand ein weiteres Mal seine Streifzüge durch Mittelasien. Sie geben in ungefilterter Fülle Eindrücke eines DDR Schriftstellers aus den späten Jahren des Sozialismus in Zentralasien wieder, die man zwar mit der Brille des Zeitzeugendokuments lesen muß, sie aber trotzdem geniessen kann.

Unlängst erschienen von Landolf Scherzer im Aufbauverlag zwei bemerkenswerte Bücher. In “Die Fremden” spürt er den Erfahrungen von Gastarbeitern in der DDR und derer nach, die mit ihnen und für die sie arbeiten und schildert ihre Schicksale in Wende- und Nachwendezeit. In “Der Grenzgänger” läuft Scherzer entlang der Deutsch-Deutschen Grenze zwischen Thüringen, Hessen und Bayern und berichtet von seinen Erlebnissen auf beiden Seiten.

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Buchara oder In Erwartung eines Sandsturms

Nach meiner Ankunft in Buchara staune ich zuerst über Amateurartisten in blauen Monteuranzügen. Sie klettern auf weißen geradwandigen und spitzgiebligen Schobern herum, die so groß wie Zweifamilienhäuser sind, und versuchen, sie mit Planen zu bedecken. Beim Näherkommen entpuppen sie sich als Millionen sorgfältig gestapelter Baumwollblüten. Doch das erklärt mir nicht die auffällige Hast, mit der die Männer den weißen Flaum unter der Plane verstecken wollen. Der Himmel ist wolkenlos blau, und die Scheibenwischer sind an fast allen Autos bestimmt demontiert, denke ich, da es hier im Sommer sowieso nicht regnet.

“Aber Stürme gibt es”, sagt der Fahrer, der mich vom Flugplatz abholt. “Bald wird ein Sandsturm kommen.” Ob schon in drei oder vier Stunden oder erst in zwei oder drei Tagen, das wisse er nicht. “Doch kommen wird er, die Luft riecht danach.” Bei allem, was ich anschließend in der Stadt sehe und erlebe, habe ich deshalb immer den Hintergedanken: Wann wird der heiße Sandsturm die Stadt erreichen?

Auch die Häuser von Buchara prüfe ich bei meinem ersten kurzen Stadtbummel unter dem Vorzeichen des nahenden Unheils. Bei manchen vierstöckigen entdecke ich zwischen Mauer und Fensterrahmen und an den Fugen der Betonteile sanddurchlässige Ritzen. Die alten orientalischen Häuschen dagegen verbergen sich hinter der lan­gen fensterlosen Duwalwand und sind anscheinend besser gegen den Sturm gefeit. Gleich neben einer Baustelle, auf der Arbeiter mit Kränen Wohnblocks montieren, zimmern Usbeken ihr eigenes Häuschen. Sie hauen Balken mit dem Breitbeil zurecht, kerben das Holz, stemmen es dann in die Höhe und setzen die vierkantigen Hölzer an den Einschnittstellen zusammen.

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Ob sie die Wände ihres künftigen Lehmhauses dicht haben, bevor der Sandsturm kommt?

Ich will ihren Hausbau am Nachmittag beobachten, doch daraus wird nichts. Im Hotel sagt mir ein Intouristmitarbeiter, daß ich nach dem Essen dorthin geschickt würde, wo alle Sandstürme herkommen – in die Wüste. Der Wolga, der dafür bereitsteht, ist nicht weiß, sondern schwarz. Genau wie die zu einem Knoten gebundenen Haare der Dolmetscherin, einer dunkelhäutigen Usbekin, die mich während der Kysyl-Kum-Besichtigung begleiten soll.

Ich hatte die Wüste schon vom Flugzeug aus gesehen: eine Tausende Quadratkilometer große gelbbraune, scheinbar unbewohnte Fläche. Das einzige, was an Leben erinnerte, waren Spuren, wie sie Würmer in den Sand zeichnen, wenn sie nach dem Regen aus ihren Erdlöchern kriechen. Autopfade. Sonst nichts.

Im Pkw steigt das Thermometer auf über 50 Grad. Die Pflanzen werden, je weiter wir uns von der Oase Buchara entfernen, dürrer und der Boden zerfurchter und rissiger. Später wachsen rechts und links der Straße holzige Sträucher; dann nur noch braune stachlige Kräuter auf dem Sand. Die Wüste. Sie ist nicht eben, wie ich sie mir vorstellte. Der Wind hat den Sand zu Dünen gehäuft und wellige Reliefs geformt. Wir steigen aus. Die Dolmetscherin bindet sich ein grünes Kopftuch gegen die sengenden Sonnenstrahlen um. Sie hat weiße hochhackige Schuhe an. Damit stöckelt sie in den Sand und beginnt, ein dürres Kraut zu pflücken. Es sei eine Art Weihrauch, sagt sie und helfe gegen die Grippe. Während sie das alte Hausmittel sammelt, tauchen hinter den Dünen zwei Kamele auf. Ihre Schreie klingen wie blecherne Trompetenseufzer. Die Dolmetscherin, die mir hoch und heilig versichert, daß die Wüstentiere nicht von Intourist bestellt sind, sondern zufällig vorbeilaufen, ist begeistert: “Sie sind ein Glückspilz, sehen Kamele und dazu noch welche, die lachen und gute Laune haben.” Als ich auf dem glühendheißen Sand bis hinter die nächste Düne laufe, um die Tiere zu fotografieren, streikt meine schwarzhaarige Begleiterin. Auf keinen Fall gehe sie einen Schritt weiter. “In der Wüste gibt es Schlangen, und vor Schlangen habe ich Angst, schon wenn ich eine sehe, falle ich in Ohnmacht.”

Die Kamele traben “lachend” weiter. Ich bekomme sie nicht mehr auf die Linse, dafür farblose Eidechsen, die sich allerdings auf dem entwickelten Film nicht vom Sand unterscheiden lassen.

Der Fahrer winkt. Ich gehe zurück zum Auto, möchte aber nicht einsteigen, denn wir werden jetzt bei 60 Grad bestimmt unter dem Blechdach schmoren. Also verzögere ich die Abfahrt und frage die Dolmetscherin, ob tief in der Wüste Menschen leben. Schon vom Flugzeug aus hatte ich gesehen, daß sich dort, wo das Grün der Maulbeersträucher in das endlose Gelb des Sandes übergeht, Stromleitungen in die Wüste wagen.

Die Dolmetscherin weiß es nicht genau.

Ein Traktor, den Hänger vollbeladen mit Brennholz – mühevoll in der Wüste gesammelten Saksaulsträuchern tuckert vorbei. Der Fahrer hat wegen der Hitze die Kabine des Treckers abgeschraubt.

Wir werden in 50 Minuten wieder in der Stadt sein. Dort gibt es klimatisierte Räume im Hotel. Und unter der Dusche kann ich den Schweiß und den Staub abspülen. Nur in den Seiten meines Notizbuches werde ich noch nach Wochen feinste, mich an die Wüste erinnernde Sandkörner finden.

Kamele waren da, und wie auf Bestellung trompeteten sie lustig. Der Wind wehte schwach und warm.

Farblose Eidechsen huschten zwischen den wellig aufgeworfenen Sanddünen
umher.

Wüstenromantik?

Wüstentourismus!

Auf der Rückfahrt läuft mir das Wasser den Rücken entlang. “Ich möchte jetzt baden gehen”, sage ich, als wir den braunen, trägen Serewschanfluß überqueren. “Haben Sie denn eine Badehose mit?” fragt die Dolmetscherin. Sie ist achtundzwanzig und verheiratet. “Nein”, erwidere ich, “dann eben FKK.” Nachdem ich ihr erklärt habe, was FKK bedeutet, zitiert sie zuerst Allahs Gesetze und die Komsomolgebote, dann schaut sie mich mißtrauisch an, vermutet, daß ich ihr einen Bären aufbinde. Da sagt der junge usbekische Chauffeur: “Ich diente in der DDR, habe einen Major gefahren. Wenn wir an der Ostsee oben waren, schauten wir mit dem Fernglas immer mal zum Nacktstrand hinüber. Natürlich der Major als erster…”

Trotz dieser Fürsprache wird nichts mit baden. Dafür verspricht die Dolmetscherin, daß wir grünen Tee gegen den Durst trinken und uns unter Bäumen von der Wüste erholen werden.

Wir steigen im nächsten Dorf vor einem Selbstbedienungsbüfett aus. Auf den Tischen der schattigen Veranda liegen Hühnerknochen, Schaschlikspieße und Weißbrotreste. Die Bauern essen hier ihr Mittag. Als wir kommen, räumt die Kellnerin einen Tisch ab und fegt mit dem Tuch die Krümel vom Holz. Nur die Fliegen setzen sich wieder. Vor der Veranda fließt der müde Serewschan. Die Dolmetscherin erzählt, daß er irgendwo hinter Buchara Selbstmord begeht und in der Wüste versickert.

Der heiße grüne Tee löscht den Durst. Ich trinke wie die Einheimischen vier oder fünf Schalen. Mein kurzärmliges Hemd ist schweißnaß. Am Nebentisch sitzt ein schnauzbärtiger Usbeke. Er hat ein langärmliges Baumwollhemd an, dazu schwarze Reithosen und langschäftige Stiefel. Offenbar spürt er die Hitze nicht. Ich lade ihn ein, sich an unseren Tisch zu setzen. Er dankt, stellt sich vor: “Tachir Koroljow” und holt Melonen und Konfekt für uns.

Ich frage ihn, ob er die Wüste gut kennt.

“Ja”, lächelt er, “schon in den dreißiger Jahren war ich dabei, als wir in der Wüste Bäume pflanzten, um Buchara vor Wanderdünen und Sandstürmen zu schützen.”

Als ich ihn bitte, mir von Sandstürmen zu berichten, zuckt er mit den Schultern. Ein Sandsturm sei nichts Außergewöhnliches, aber wenn ich möchte, würde er mir von Schlangen in der Wüste erzählen. Ich nicke, die Dolmetscherin schüttelt sich.

Der Boden ist salzig, wie auf der Haut getrockneter Schweiß. Deshalb waschen wir aus dem Sand zuerst das Natriumchlorid heraus. Nur dann schenkt die Wüste uns Früchte. Wir waren sieben Meliorationsarbeiter und wohnten zusammen mit Schafhirten in ihren Jurten, jenen Behausungen, in denen die usbekischen Hirten seit Menschengedenken übernachten. Überall ändert unsere neue Ordnung das Leben zum Guten, sagten damals die Verantwortlichen. Nur die Hirten wohnen noch wie eh und je in den armseligen Jurten ihrer Väter; es ist Zeit, auch für sie Holzhäuser zu errichten. Als die Bauleute kamen, waren die Hirten, die uns freundlich aufgenommen hatten, mißmutig. Vielleicht kürzt der Kolchosvorstand unseren Lohn, wenn wir feste Häuser haben, orakelten sie. Aber schon bald steckten sie ihre Nasen, sooft sie Zeit hatten, zu den unverglasten Fenstern herein und fragten, wann die noch nach frischem Holz und Ölfarbe riechenden Wohnungen endlich fertig seien. Zum Schluß brachten die Bauleute den Strom in das kleine Dorf. Zur Einweihung der Häuser erschien ein bedeutender Mann vom Kreis. Er sagte: Nun könnt auch ihr die Wüste ,Gulistan’ -glückliches Land – nennen! Dann stieß er mit dem Baubrigadier, den besten Hirten und dem Dorfältesten an und rief: ,Also, Genossen Hirten, zieht um, brecht eure alten Zelte ab, zerschlagt die Zeichen jahrhundertelanger Rückständigkeit!’ Da wurden die Leute plötzlich sehr still. Was denn, die Jurten abreißen? Ein Leben lang waren sie ihr Dach bei Regen, ihr Schutz vor den Schlangen, ihr Schatten in der Hitze und ihr Schild vor dem Sturm gewesen. Einige Hirten schlugen vor: ,Wir könnten doch in die neuen Häuser ziehen und die alten Jurten daneben stehenlassen.’

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,Schluß jetzt mit dem Gerede, trinken wir auf die Eroberung der Wüste!’ rief der Genosse vom Rayon. Wir tranken viel. Aus Freude über die festen Häuser, aber auch aus Trauer um die alten Jurten. Vor Einbruch der Dunkelheit trugen wir unseren Hausrat in die neuen Wohnungen. Alle schliefen gut und fest.

Wir erwachten, als ein Hirte wie angestochen schrie: ,Schlangen, Schlangen!’ In jedem Zimmer fanden wir die giftigen Viecher. Manche lagen im Bett auf den Decken. Vielleicht hatte sie der frische Holzgeruch angelockt. Allah sei Dank, nur einer wurde gebissen. Aber wir besaßen kein Impfserum, denn in eine Jurte waren die Schlangen nie gekommen. Sie mochten den Geruch der aus Kamelhaaren gefertigten Decken und Vorhänge nicht. Bauleute rasten nun mit dem Jeep zu ihrem Stützpunkt. Nach drei Stunden kamen sie zurück und brachten das Serum. Inzwischen hatten wir alle unsere Kamelhaardecken aus den Jurten geholt und in den neuen Häusern ausgebreitet. Seitdem ließen die Schlangen sich nie wieder blicken.”

Tachir freut sich, daß ich seine Geschichte notiere, und obwohl die anderen Kolchosbauern ihren Tee schon ausgetrunken haben und sich kopfnickend von uns verabschieden, erzählt er noch eine.

,,1965 begleitete ich eine Gruppe von Geologen, die nach Öl in der Wüste suchten. Wir hatten zu wenig Wasservorräte mit, und deshalb borgte ich mir von einem vorbeiziehenden Hirten eine Kamelstute aus. Diese Tiere können dreißig Tage aufs Trinken verzichten und geben doch immerfort Milch. Aber nachdem selbst die Kamelstute nicht mehr wollte, beschlossen die Geologen, daß wir uns ein paar Tage im Stützpunkt der Bohrleute satt trinken und ausruhen sollten. Der Bohrtrupp bestand aus fünf Männern und einer Frau. Sie hieß ,Batno, Schönheit’, wusch den Arbeitern die Hemden und kochte. Ihr Mann Lasis stammte aus dem gleichen Dorf wie sie. Er hatte zwei Hammel und 3000 Rubel Kalym, Brautgeld, für sie bezahlt. Die Hälfte des Geldes
mußte er sich vom Verkäufer des Dorfladens borgen. Nach der Hochzeit sagte der Vater zu Lasis: ,Mein Junge, geh zu den neuen Baustellen in der Wüste. Dort kannst du einen achtbaren Beruf erlernen und reichlicher Geld verdienen als zu Hause.’ So kamen Lasis und Batno zu den Bohrleuten. Lasis war ein gelehriger und fleißiger Arbeiter, der von Monat zu Monat mehr Geld in der Lohntüte hatte. Manchmal arbeitete er zwölf Stunden am Bohrturm, manchmal auch sechzehn. Als seine Schönheit ihm vorwarf, daß er keine Zeit mehr für die Liebe habe, sagte er: ,Ich arbeite doch für unser Glück, und um glücklich zu sein, brauchen wir viel Geld.’ Unter den Bohrleuten war auch ein Russe aus Leningrad. Dem machte Batno schöne Augen. Lasis merkte es und schlug sie. Eines Abends, Lasis machte Überstunden am Bohrturm, bat die Frau den Russen, mit ihr in der Wüste spazierenzugehen. Es sei dunkel, sagte sie, keiner werde es erfahren. Eine Stunde später merkte Lasis, daß seine Batno nicht im Lager war. Er suchte sie, die Wüste verriet alles. Lasis entdeckte die Spuren im Sand, lief ihnen nach, sah, wie die Fußstapfen sich immer näherkamen. Er fand den Platz, wo sie zum erstenmal gelegen hatten, überraschte sie am Hang einer Düne. Zwei Tage später war er in seinem Heimatdorf und verlangte von Batnos Vater den Kaufpreis, die zwei Hammel und 3000 Rubel, zurück. Als der Vater sie ihm nicht gab, erschien Lasis nach fünf Tagen wieder im Lager der Bohrleute und sprach mit Batno, als sei nichts geschehen. Sie leben noch heute zusammen.”

Tachir verabschiedet sich, er muß zur Arbeit. Wir trinken unseren Tee aus.

Ich möchte noch einmal zur Wüste zurückfahren, durch den glutheißen Sand waten, den Kamelen hinterherrennen, Schlangen und farblose Eidechsen suchen, die Dünenhänge hinaufklettern und den Stromleitungen nachschauen, bis sie sich im Flimmern der tanzenden Luft irgendwo am Wüstenhorizont auflösen.

Statt dessen fahren wir in Richtung Stadt.

Die zirkuszeltgroßen Planen sind inzwischen auf allen Baumwollbergen festgebunden. Der Sturm wird die Blüten nicht wie Schneeflocken auseinanderpusten können. Ich studiere den Himmel. Er ist noch unverändert blau. Auch am Verhalten der Leute merke ich nichts von einem nahenden Sandsturm.

Vor dem Hotel wartet eine andere Dolmetscherin, die mich in den nächsten Tagen begleiten wird. Sie heißt Rima. Als erstes frage ich sie, ob es wirklich einen Sturm geben wird. Sie zieht die Luft durch die Nase und sagt: Ja, er kommt!

Rima ist Tatarin, 25 Jahre alt, noch nicht verheiratet. Letzteres sagt sie bedauernd.

Ihre Gewißheit, daß der Sandsturm kommt, läßt mich befürchten, daß ich die nächsten Tage in meinem Hotelzimmer verbringen muß. Also möchte ich die kostbare Zeit nutzen und mir das anschauen, was mich in Buchara am meisten reizt: die traditionellen orientalischen Lehmhäuschen. Gesehen habe ich sie noch nicht, denn sie sind in der Regel nicht zu sehen. Vor hundert, vor fünfzig, aber auch noch vor dreißig Jahren haben die Usbeken mannshohe Mauern um Hof und Haus gebaut. Ich bin in Buchara schon an einigen dieser Duwalmauern vorbeigegangen, doch ich fand keine Lücke, um zu lugen, wie diese Häuschen aussehen, die sich dahinter verstecken. Die schattenspendenden Mauern sind sorgfältig weiß getüncht, aber krumm und bucklig. Beim genauen Hinschauen kann man sogar die Abdrücke der Hände erkennen, die den Lehm seinerzeit glattklopften. Jedem Ungläubigen, der es wagte, solch einen Hof -streng unterteilt in Männerhaus und Frauenhaus – durch die niedrige schwere Holztür in der Lehmmauer zu betreten, drohte noch Ende des 19. Jahrhunderts in Buchara die Todesstrafe.

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Rima, die 1950 in Buchara geboren wurde, kennt viele Leute der Altstadt. Bei meiner Frage, ob sie mit mir in solch eine orientalische Behausung gehen würde, stutzt sie. Gut, sagt sie nach einigem Zögern, gut. Aber erst nach 17 Uhr, wenn die Arbeitszeit zu Ende ist, dann wäre es nicht dienstlich.

Ich stehe pünktlich um 17 Uhr vor dem Hoteleingang. Sie kommt. Ihr Gesicht verrät, noch bevor sie sich verlegen zu entschuldigen beginnt, was sie sagen wird. “Ich kann nicht mit Ihnen in eines der alten Häuser gehen, das ziemt sich nicht, glauben Sie es mir.”

Es hat keinen Zweck, sie überreden zu wollen. “Wenn Sie möchten, probieren Sie es allein”, schlägt sie vor.
Ich gehe zur Bar, trinke dort zwei doppelte Wodka und sage zu Rima: “Ich versuche es.”
Sie prophezeit: “Es wird Ihnen nicht gelingen!”

Schon eine Stunde laufe ich ziellos durch die Stadt. Suchen mußte ich nicht nach den Lehmhäusern. Ihre Region beginnt nur hundert Meter neben dem komfortablen Hotel. Die alte Stadt ist bunt, laut und mit unseren Maßstäben nicht zu messen. Fleisch wird auf der Straße verkauft. Der Händler hat es an dem stärksten Ast eines Baumes hängen, und wenn er ein Stück davon abschneidet, nehmen es ihm die Fliegen übel. In alle Häuser, selbst in die historischen Moscheen münden, die Gassen in der Luft überquerend, Gasleitungen. An den Fenstern einer “nicht mehr arbeitenden” Moschee kleben die sowjetischen Walt-Disney-Figuren Hase und Wolf. Innen wurde eine Kinderbibliothek eingerichtet. Im früheren Gebetssaal sitzen Schüler und lesen Fadejew, Einstein und Ostrowski. Autos können sich nur durch wenige Straßen der Altstadt zwängen, ohne die Lehmmauern zu beschädigen. Fußgänger werden von den Kraftfahrern rücksichtslos zur Seite gehupt. In einer der engsten Gassen begegne ich einer FDJ-Delegation, die sich in Blauhemd und Feiertagsanzug durch die alten Viertel schwitzt. Große bunte Plakate an den weißen Duwalmauern werben für einen westdeutschen Karl-May-Film.

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Die Gassen der Altstadt sind baumlos. Dafür lugen grünblättrige Kronen neugierig über die Lehmbarrikaden. An die Wände gelehnt sitzen alte Usbeken wie Haremswächter auf der Erde und beobachten schweigend jeden Vorüberkommenden. Ich überlege krampfhaft, was zu tun sei, damit ich eines der Häuschen betreten kann.

Zuerst versuche ich es bei Leuten, zu deren Broterwerb die Kommunikation gehört: In einem offenen “Laden” besohlt ein Schuster zwei Paar Stiefel, und die Besitzer begutachten, in Strümpfen dabeisitzend, seine Geschicklichkeit.

L. S.: Sdrawstwuitje – Guten Tag! (auf russisch)

Sie: A salam aleikum – Friede sei mit dir (auf usbekisch).

L. S.: Mein Vater war auch Schuster (hier schwindele ich, denn er lernte Tischler.)

Der Schuster: Und hast du das ehrbare Handwerk deines Vaters bewahrt?

L. S.: Nein, ich kann weder Oberleder annähen noch Absätze nageln.

Er: Setz dich, trink eine Tasse Tee!

Ich erzähle über mein Woher und Wohin. Er fragt nach den Bergen und dem Schnee in Thüringen, und was ein Schuster in der DDR verdient. Was hätten Sie, liebe Leser, bloß geantwortet? Ich nahm den durchschnittlichen Verdienst eines Abteilungsleiters in einem kleinen VEB. Hoffentlich stimmte es!

Nach einer Viertelstunde – wehe, du fällst im Orient sofort mit der Tür ins Haus! -komme ich zur Sache.

L. S.: Ihr wohnt noch in den alten usbekischen, von Lehmmauern umgebenen Häuschen?

Er: Ja, sie sind sehr schattig und bequem. Man kann nachts draußen unter dem Blätterdach der Weinstöcke schlafen.

L. S.: Solche Häuser gibt es bei uns zu Hause nicht.
Er: Nein, auch in Moskau nicht.

L. S.: Könnte ich mir solch ein Haus anschauen?
Er: Bitte sehr, überall.

L. S.: Nicht von außen, sondern von innen.
Er: Das geht nicht!

L. S.: Weshalb?
Er: Es geht nicht.

Ich verabschiede mich. Er bringt mich bis zur nächsten Ecke. Erst jetzt bemerke ich, daß ich nicht der einzige Tourist in der Altstadt bin. Ausländer treiben sich zu Dutzenden herum. Sie fotografieren die auf der Erde hockenden Usbeken, die in den Wasserrinnen spielenden Kinder, die im Hof der Moschee betenden Mohammedaner, die zahnlosen alten Weiber, die Männer, die teetrinkend auf den Sofas in den Tschaichanas liegen… Manchmal droht einer der Usbeken mit der Faust, aber nur selten.

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Später fragt mich die Dolmetscherin, ob ich in einem orientalischen Haus war. Ich schüttele den Kopf. “Und der Sturm, was wird mit dem Sandsturm?” frage ich.

Sie steigt mit mir zum Ark, der ehemaligen Festung und Folterhölle des 1921 nach Afghanistan geflüchteten Emirs, hinauf. Von oben können wir über die Stadt bis zur Wüste schauen. “Dort, sehen Sie, wie gelb der Himmel brennt, das ist ein Vorbote für den Sturm. Er wird die Sonne verdunkeln, und wenn sich jemand zehn Schritte aus dem Haus wagt, bekommt er den feinkörnigen Sand wochenlang nicht mehr aus den Kleidern.”

Sie sagt, in die Richtung der Wüste zeigend: “Hoffentlich sind alle Baumwollmeiler abgedeckt.” Ich kann sie beruhigen, schließlich sah ich mit eigenen Augen die Zeltplanenmanöver.

Nein, verbessert sie, nicht in der Stadt, sie meine die in den Dörfern. Es sei schrecklich, mit ansehen zu müssen, wie der Sturm Millionen mühsam gepflückter Blüten in die Luft wirbelt.

Von Rima erfahre ich den ersten, unvollständigen, den kleinen Baumwoilbencht: “Ich war immer dabei, wenn wir als Studenten zur Baumwollernte fuhren. Damit die erbarmungslose Sonne bei vierzig Grad Arme und Gesicht nicht verbrennt, ziehen wir lange Jacken an und vermummen den Kopf, bis nur noch die Augen in einem kleinen Schlitz zu sehen sind. ,Usbekische Ritterrüstung’ sagen wir dazu. Am schwersten fallen einem die ersten Tage. Vom ungewohnten Bücken fühlt man sich abends wie ans Kreuz geschlagen, und die Finger schwellen an… Es gibt für die Baumwolle auch Vollerntemaschinen, doch weil wir noch nicht genug Kombines haben und die Kapseln ungleich reifen, müssen von den fünf Millionen Tonnen Baumwolle, die auf unseren Feldern wachsen, noch rund zwei Millionen Tonnen mit den Händen gesammelt werden. Am schlechtesten”, erzählt Rima, “erging es dabei meinem Bruder. Er ist fast zwei Meter groß. Nach drei Tagen konnte der lange Bengel sich trotz allem Wettbewerbselan nicht mehr bücken. Da wurde er versetzt und der Mädchenbrigade zugeteilt. Er mußte ihnen das Essen kochen.”

Ende des kleinen Baumwollberichts.

Inzwischen ist es Abend geworden in Buchara. Ich schaue, wie weit die individuellen Häuserbauer sind. Zwei von ihnen leiern mühsam einen fast mannshohen Handbohrer, der tellergroße Löcher in die Balken frißt. Sie werden die Verstrebungen für das Hausskelett. In der Mitte des künftig größten Raumes, der usbekischen Familienstube, liegen die Ziegel aus ungebranntem, von der Sonne getrocknetem Lehm.

Die Lampen an den Kränen im Neubauviertel werfen, obwohl es noch hell ist, fahles Licht auf die Baustelle. Im Strahlenschnittpunkt schweben Betonplatten. Eine von ihnen ist halb so lang wie die Wand des kleinen orientalischen Häuschens, das nur 300 Meter entfernt zusammengesetzt wird. Dort müssen die Bauleute bald Äxte und Bohrer zur Seite legen, denn ihnen verwandelt kein Scheinwerfer die Nacht zum Tag.

Bis die Rotgardisten Buchara eroberten, wurde in der Stadt des Emirs nichts außer Moscheen, Medressen, Minaretten, Handelskuppeln und Gefängnissen gebaut. Keine Schulen, keine Krankenhäuser, keine Kultursäle, keine Wasserleitung. Nichts.

1922 bereiste ein Österreicher Buchara und beschrieb die Chausas – Teiche zur Wasserversorgung der Stadt – folgendermaßen: “In der Chausa wimmelt es von Fröschen und Kröten, aber auch Kadaver von Hunden und Katzen liegen darin, wie es auch üblich ist, jede Art Abfall hier hineinzuwerfen. In diesen Becken… baden Hunde, Esel und Pferde, und zugleich waschen gesunde und kranke Menschen hier Gesicht, Füße und Hände, holt man Wasser für Tee und Suppe…”

Drei Jahre später entstand in Buchara das sogenannte “Sowjetminarett”. Noch heute steht dieser Stahlturm als museale Attraktion der Neuzeit vor dem Ark, der Festung des 700 Jahre lang in Buchara herrschenden, mütterlicherseits von Tschinggis-Chan abstammenden Emirgeschlechts. Es ist der erste Wasserturm der Stadt. Elektrizität erhielten die Einwohner 1923. Bis dahin besaß nur der Emir ein Privat-“Kraftwerk”. Es mußte gebaut werden, als der russische Zar dem Emir Olim Chan einen Kronleuchter schenkte.

Auch am Abend läßt der Sandsturm auf sich warten. Deshalb, schlägt Rima vor, könnten wir uns noch das älteste Baudenkmal Mittelasiens, das Mausoleum Ismail Samani, anschauen. Die Amerikaner wollten es für eine Million Dollar nach den United States of America überführen, die UNO reihte es in die weltgeschützten Kunstwerke ein, und die Usbeken hüten und pflegen das Zeugnis ihrer alten Kultur sehr sorgfältig. Vom letzten Saubermachen stehen noch Besen, Eimer und Schaufel im vergitterten Raum. Gelbe Lehmziegel sind als einziger Schmuck des Gebäudes so kunstvoll quer, längs oder winklig angeordnet, daß unzählige Ornamente und steinerne Spitzengeflechte entstehen.

Ismail gründete vor eintausend Jahren, nachdem er die nomadisierenden Araber vertrieben hatte, ein schnell aufblühendes, unabhängiges zentralasiatisches Feudalreich. Noch lange nach seinem Tode soll der Samanidenherrscher Wunder vollbracht haben. Gegen ein gutes Honorar schrieben die islamischen Sekretäre den armen Gläubigen Wunschzettel und Fragebriefe, die sie abends in das Grabmal des Ismail werfen konnten. Am Morgen, nachdem alle Schreiber auf der Festung des Emirs eine Hochleistungsnachtschicht hinter sich hatten, lagen die Antworten des heiligen Ismail im Mausoleum. Über vierzig Jahre lang soll das Wunder funktioniert haben.

Heute steht eine Bank für Liebespärchen vor der weltberühmten Grabstätte. Rima sagt, daß manche junge Leute auch jetzt noch zum Spaß Zettel mit ihren Wünschen in das vergitterte Mausoleum werfen. “Was würden Sie sich wünschen?”

Rima antwortet verlegen, das gehe niemand etwas an, es seien ihre “privaten, ganz intimen Träume”.
Später, auf dem Weg nach Hause, lächelt sie und sagt: “Ich würde mir einen Mann wünschen.”

Sie ist beileibe nicht dick, aber groß und stark wie eine Kugelstoßerin. “Ich bin kein Typ für die kleinen usbekischen Männer.” Rima hat einen guten Bekannten, den alten Hausmeister der Mir-i-Arab-Medresse, der jetzigen Schule für junge mohammedanische Geistliche. Jedesmal, wenn sie dort vorbeikommt, fragt er: “Na, Rima, hast du schon einen Mann?” Und wenn sie den Kopf schüttelt, zeigt er auf ein klappriges Auto und sagt: “Weißt du, Mädchen, damit fahren wir beide durch ganz Buchara, bis wir irgendwo einen Freier für dich finden.”

Was für ein Bräutigam soll es sein?

“Erstens kein Trinker. Zweitens immer gut angezogen. Drittens muß er Gedichte lieben. Und viertens soll er mir viele Kinder schenken, denn eine große Familie ist lustiger.”

Ich frage Rima, nach welchem Auswahlsystem sie diesen Idealmann sucht. “Ich suche ihn nicht”, verbessert sie mich, “ich warte, bis er kommt!”

Weshalb macht sie einem, der ihr gefällt, nicht selbst den Hof? “Das ist unmoralisch!”

War sie schon einmal verliebt?

Keine Antwort.

Und wenn der Mann mit den gewünschten Eigenschaften nicht von allein kommt, was dann?

“Dann nehme ich irgendeinen… Oder”, sie lacht wieder, “ich fahre doch mit meinem alten Bekannten durch die Stadt und lasse mir von ihm einen Bräutigam suchen.”

Sie wünscht mir eine gute Nacht. Falls inzwischen der Sandsturm nicht schon da wäre, käme sie morgen um neun Uhr ins Hotel.

Der Sandsturm bleibt aus. Rima dagegen erscheint am nächsten Morgen pünktlich und strahlend. Neue Frisur, die Fingernägel frisch lackiert, nach Parfüm duftend. Wenn ich möchte, überrascht sie mich, hätte ich vormittags frei. Sie müsse inzwischen einem amerikanischen Einzeltouristen das Mausoleum der Samaniden zeigen.

Freizeit für mich, aber schon lange Arbeitszeit für die individuellen und staatlichen Häuserbauer. Das Balkengerüst steht schon auf dem aus Feldsteinen errichteten Fundament, und die drei Usbeken beginnen, die Ziegel mit einer ganz und gar nicht wie Mörtel aussehenden Masse zu verschmieren. Angeblich soll sie aus Lehm, Kamelmilch, Eiweiß und anderen Nährprodukten bestehen. Ich glaube es nicht, und kosten, wie die Usbeken es mir vorschlagen, möchte ich nicht. Nach einer Stippvisite im Neubauviertel, wo in der Nacht fünf Wohnungseinheiten montiert wurden – zwei der Maurer werden im Block Wohnungen erhalten -, beschließe ich, mein Experiment von gestern zu wiederholen: eines der usbekischen, hinter der Lehmmauer versteckten Häuser zu besichtigen. Diesmal versuche ich es nicht bei alten Handwerkern, sondern bei jungen Mädchen. Die vierte oder fünfte reagiert endlich lachend auf das “Ich bin fremd hier, könnten Sie mir nicht die Stadt zeigen?” Sie ist sehr schlank, sehr dunkeläugig und sehr schwarzhaarig, heißt Menita Chatschaturjan, wohnt in der Altstadt zur Untermiete, stammt aus Jerewan.

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Wir schauen uns während des Gehens von der Seite an. Erst abwechselnd, dann beide gleichzeitig. Sie senkt die Augen. Fast vergesse ich, weshalb ich angebändelt habe. Als ich sie nach Hause bringen will, wehrt sie ab, das sei ne nushno – nicht nötig. Doch ich rede und rede höflich, aber hartnäckig, bis wir doch zu ihr laufen. Die Gassen werden enger – wir sind mitten in der Altstadt. Menita, die sonst so selbstsichere Studentin – sie spielt Klavier, liebt Strauß und Puschkin, geht zur künstlerischen Gymnastik, arbeitet während der Ferien am Informationsstand des internationalen Hotels “Buchara”- wird immer unruhiger, je näher wir ihrer Wohnung kommen. Sie dreht sich oft um. “Nein, genug, Sie gehen besser nicht mit, was sollen die Leute denken ich mit einem Mann, und noch dazu mit einem Ausländer.” Doch so kurz vor meinem Ziel lasse ich nicht locker. Bestimmt werde ich nun zusammen mit Menita endlich eine der “usbekischen Familienfestungen” betreten dürfen. Plötzlich aber, als wir um die letzte Ecke biegen, bleibt die Studentin stehen. “Gehen Sie gleich zurück”, sagt sie leise, aber entschieden. “Meine usbekische Wirtin sitzt dort auf der Straße vor der Tür, sie darf uns nicht sehen, sonst wird sie sehr schlecht von mir denken,.. Bitte, gehen Sie doch!”

Es hilft nichts. Auch nicht das Angebot Menitas, am Abend zusammen ins Kino zu sehen. Kino gibt es auch zu Hause in Suhl…

Do swidanija, Menita!

Wieder irre ich ziellos durch das Gassenlabyrinth der Altstadt. Unaufmerksam, in Gedanken versunken. Und schrecke auf, als eine Menschenmenge den Weg versperrt. Ich drängle mich zwischen die Leute und sehe, wie ein steinalter, fast in Lumpen gehüllter, bartstoppliger Orientale seine vielleicht siebzigjährige Frau an den Haaren die Gasse entlang und bis zu seiner Wohnung zerrt, die sich hinter der blick- und besuchssicheren Duwalwand verbirgt. Nach dem ersten Schock schaue ich nicht mehr auf den wütenden Alten, sondern beobachte die Umstehenden. Kinder johlen, als ob der Zirkus durch die Stadt führe, Erwachsene von etwa vierzig Jahren verfolgen die Szene schweigend, und die jungen Mädchen kichern, lachen, als hätte man ihnen soeben einen Film aus der Vergangenheit vorgeführt. Etwas, das ihnen nie passieren könnte.

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10 Sätze über die Emanzipation der usbekischen Frauen.

Erster Satz: “Und wer von euern Frauen eine Schändlichkeit begeht, so nehmt vier von euch zu Zeugen wider sie und so sie es bezeugen, so schließet sie ein in die Häuser, bis der Tod ihnen naht…” (Koran: Sure 4/19)

Zweiter Satz: Ehebruch von Frauen – lange Zeit die einzige Form ihres Protestes gegen die Unterdrückung – ahndeten islamische Gerichte, indem die Frauen, in Säcke genäht, vom 46,5 Meter hohen Kaejan-Minarett herabgestürzt wurden.

Dritter Satz: Nach der Kasi, der islamischen Rechtsprechung, konnte jeder Mann seine Frau ohne Scheidung und völlig ohne Hab und Gut davonjagen.

Vierter Satz: 1922 verbot die sowjetische Rechtsprechung auch in Usbekistan den Kalym, den Kaufpreis für Frauen, und erhöhte das Heiratsalter der Mädchen auf 16 Jahre.

Fünfter Satz: Selbst die Frau eines Chans, die Dichterin Nadira, die in ihren Schriften gegen die Unterdrückung der Frauen auftrat, ließ der Emir von Buchara ihrer Gesinnung wegen töten.

Sechster Satz: Noch 1928 wurden in Usbekistan 250 Frauen ermordet, weil sie lernen wollten oder sich in der Öffentlichkeit unverschleiert zeigten.

Siebenter Satz: Als in den ersten Jahren der Volksmacht ein Theater in Buchara gegründet wurde, waren weibliche Darsteller nicht zugelassen, alle Frauenrollen mußten von Männern gespielt werden.

Achter Satz: Jagdar Nasriddinowa, die als elfjähriges usbekisches Mädchen das Schreiben und Lesen zu lernen begann, wurde später Präsidentin der Usbekischen Sowjetrepublik und Vorsitzende des Nationalitätenkongresses im Obersten Sowjet.

Neunter Satz: Zur Zeit vertreten etwa 100 usbekische Frauen ihre Republik als Deputierte im Obersten Sowjet.

Zehnter Satz: Nach der letzten Wahl sind ungefähr 40 000 Frauen Usbekistans Deputierte der örtlichen Sowjets.
In Buchara lernte ich drei Frauen näher kennen. Gusal Murtasajewa, Abteilungsleiterin im Maschinenkombinat von Taschkent; die Mutter der Dolmetscherin Rima, Etagenfrau im Hotel; und Rima.

Gusal Murtasajewa kommt mit ihrem Mann abends an meinen Tisch im Hotelrestaurant, diskutiert laut und lange mit der Deshurnaja- der Diensthabenden – wegen des Platzes und setzt sich dann triumphierend. Besser: Sie läßt sich auf den Stuhl fallen. Bevor die diversen Gänge gebracht werden, bestellt sie eine Karaffe Wodka und trinkt ihn mit ihrem Mann. Das tut sonst kaum eine sowjetische Frau im Lokal, gleich, ob in Sibirien oder im Orient. Gusais Mann hat Hände wie ein Bär. Sein braunes Gesicht glänzt, und aus dem offenen Hemd wachsen dichte schwarze Brusthaare. Er beginnt, sobald die Schüssel mit Stolitschnaja, eine Art Kartoffelsalat, gebracht wird, zu essen, als hätte er drei Tage lang gehungert. Nach einer halben Stunde sind die ersten 300 Gramm Wodka ausgetrunken, und seine Frau – sich riesig über den Appetit und den Durst des Mannes freuend – bestellt eine neue Karaffe. Er spricht kaum beim Essen. Zwischen Suppe und gebratenem Fisch hat er Zeit, ihr die Wangen zu tätscheln und sie in die Oberarme zu kneifen, bis sie kichert. Ihr ist heiß. Sie füllt ein Glas mit Eisbrocken, schüttet Limonade hinein und schlürft das kalte Wasser, wie der russische Riese Nordwind, wenn er einen Bergsee mit schwimmenden Eisgletschern aussäuft.

Sie hat dickes schwarzes, zu einem Knoten gestecktes Haar. Ein dünnes Kleid umspannt ihren massigen Körper. Der Hals ist mit rot-blauen Knutschflecken bedeckt. Doch sie schämt sich dieser Lustbeweise kein bißchen. Im Gegenteil, als ich hinschaue, reckt und dreht sie stolz den Kopf, als wolle sie sagen: “Na, guck nur, Kleiner. ..” Sie mag ungefähr vierzig sein, ihr Mann kaum älter.

Später, so gegen zehn, wird er müde. Sie legt ihre Hand auf den Tisch, darauf bettet er für kurze Zeit sein schweres Haupt. Währenddessen, das heißt, sobald die furchtbar laut spielende Kapelle pausiert, machen sich Gusal und ich miteinander bekannt.

Sie sagt, sie sei ein Sandkörnchen. Ich betrachte mir ihre wohl zwei Zentner, die sie auf die Waage bringt, und muß grinsen. Sie lacht mit. Nein, nicht wegen des Gewichtes riefen sie die Freunde Sandkörnchen, sondern weil sie aus einem kleinen Wüstendorf stamme. Ihre Mutter hatte dem Mädchen immer wieder eingeschärft: “Bleibe nicht auf dem Dorf, wo ein Mann dich für einen Kalym kauft. Selbst wenn er dich liebt, wird er dir immer vorwerfen, daß er für dich viel Geld ausgeben mußte und du sein Eigentum bist. Geh in die Stadt, meine Tochter, und heirate dort!” Als Gusal vierzehn war, brachte sie der Großvater mit dem Kamel zur Bahnstation. Damals weinte sie zum erstenmal im Leben schmerzende Tränen.

In Taschkent lernte sie Dreherin. Das war die Zeit, als die anderen sie Sandkörnchen nannten. Geschickte Hände hatte sie. Fast jedes Werkstück gelang ihr auf Anhieb. Aber mit dem Rechnen und der Physik lebte das “Wüstenkind” ständig auf Kriegsfuß. Die theoretische Prüfung bestand Gusal erst beim zweiten Anlauf. Doch im Betrieb war sie nach zehn Monaten schon Bestarbeiterin, erfüllte die Norm mit 130 Prozent. Da kam ein Leiter nach dem anderen zu ihr und versuchte, sie zu überreden, ein Hochschulstudium zu beginnen. Alle hatten die gleichen Argumente: Pflicht als Komsomolzin… Die usbekische Frau ist gleichberechtigt… Ohne Wissen keine Macht… Lernen, lernen, nochmals lernen… “Aber”, lächelt Gusal, “daß unser Betrieb vierzig Prozent Frauen zum Studium delegieren mußte, er aber erst fünfundzwanzig Prozent in seinem statistischen Bericht stehen hatte und die Prämie für die Betriebsleitung in Gefahr war, das sagte mir keiner.”

Heulend verließ Gusal im Herbst den Betrieb. Zum zweitenmal in ihrem Leben weinte sie schmerzende Tränen. Von den ersten Monaten an der Hochschule erzählt sie mir nichts. Erst im dritten und vierten Studienjahr fiel ihr das Lernen ein wenig leichter. Sie saß nicht mehr bis nachts um ein oder zwei Uhr über den Büchern. , ,Damals verliebte ich mich in einen Studenten. Ich hatte viele Verehrer. Ich glaube, auch unser Komsomolsekretär, ein in Liebesdingen sehr schüchterner Junge mit vielen Minderwertigkeitskomplexen, gehörte dazu. Er überraschte meinen Freund und mich einmal, als wir mutterseelenallein am Wasser lagen und uns küßten. Am nächsten Tag teilte er mir mit, daß er davon absehe, die Komsomolgruppe über meine Moral zu verständigen. Aber ich müßte mich jetzt entscheiden: Entweder – er stotterte dabei – am See herumliegen, Kinder machen und heiraten oder meinen Komsomolauftrag – das Studium mit besten Ergebnissen abzuschließen – in Ehren erfüllen. Ich hätte als usbekisches Mädchen alle Möglichkeiten erhalten, mich zu bilden, und es sei meine Pflicht, sie so gut wie nur möglich zu nutzen. Kurz, ich machte Schluß mit meinem Freund.” Damals weinte Gusal zum drittenmal in ihrem Leben schmerzende Tränen.

Um alles zu vergessen, meldete sie sich nach dem Studium zu einem Sondertrupp von Komsomolaktivisten. Sie fuhren nach dem Norden, um in der Nähe von Nowosibirsk ein Maschinenreparaturwerk einzurichten. Gusal wurde oft ausgezeichnet, mehr als die Männer. Sie hatte einen siebten Sinn für alles Praktische.

Wieder in Taschkent, begann sie im Maschinenkombinat zu arbeiten. Mit dreißig war sie Abteilungsleiterin, mit fünfunddreißig Schöffe am Gericht, Mitglied der Kommission für soziale Fragen der Gewerkschaftsleitung und der Frauenorganisation.

“Stellen Sie sich vor”, sagt sie, “ich saß im Saal und sollte über Eheleute urteilen, ohne selbst eine Familie zu haben.”

Bald war Gusals Abteilung die beste des Betriebes. “Zeitungsleute schrieben Artikel über mich, und die Rundfunkreporter nannten mich ein leuchtendes Beispiel für die neue usbekische, für die sozialistische usbekische Frau. Nach weiteren vier Jahren – es gab kaum eine Organisation, in der ich keine Funktion hatte – wurde ich schwer krank. Die Ärzte sagten, es sei seelisch, denn mein Körper wäre kerngesund. Sie wollten mich in ein Sanatorium nach Sotschi schicken, aber ich schlug vor, in mein Dorf zu fahren, um mich dort zu erholen.”

Sieben Jahre war sie nicht mehr zu Hause gewesen. “Alle freuten sich, als ich ankam. Großvater holte mich mit einem Auto von der Bahnstation ab, und Vater lud das Dorf zu einem großen Wiedersehensfest ein. Während im Haus die Gäste auf dem Teppich saßen und Tee tranken, nahm mich meine Mutter an die Hand und ging mit mir in den Garten. Es war noch Frost, aber der Schnee war schon geschmolzen. Wir standen unter einem Akazienbaum, und plötzlich fielen trotz des wolkenlosen Himmels dicke Tropfen vom Baum. Die Sonne trieb das Eis nachträglich aus den Knospen und Ästen. Damals sagte Mutter zu mir: ,Meine Tochter, ich sorge mich sehr um dich, denn du lachst nicht mehr wie früher zu Hause. Du hast verlernt, lustig zu sein, wenn du lustig bist, und traurig zu sein, wenn du traurig bist. Dein Gesicht ist nicht mehr der Spiegel deiner Seele. Er ist stumpf geworden, und nur das Lachen von Kindern und das Glück einer Eiebe können ihn blankputzen’.”

An diesem Tage weinte Gusal zum viertenmal in ihrem Leben schmerzende Tränen.

Morgens reiste sie nach Taschkent zurück und gab alle ihre Ämter ab; wegen der Gesundheit, sagte sie. Im Sommer fuhr sie mit anderen Frauen des Betriebes in ein Dorf, um den Bauern bei der Baumwollernte zu helfen.
“Dort lernte ich meinen Löwen kennen, diesen prächtigen Burschen hier.” Sie schlägt ihm so kräftig auf den Rücken, daß er brummend aufwacht. “Er ist zwar kein Facharbeiter, sondern nur ein angelernter Traktorist, aber ein Prachtexemplar von einem Mann, nicht wahr?” Im Betrieb habe sie gekündigt, jetzt feierten sie erst einmal ihre Flitterwochen, und dann wünsche sie sich sieben Kinder. Sie hätte viel nachzuholen.

Als er wieder völlig munter ist, schleppt Gusal ihren Löwen zur Saalmitte. Er tanzt nicht sehr elegant, macht einen Katzenbuckel und tappt bärenhaft von einem Bein aufs andere.

Aber er tut während des Tanzes etwas, das ich bei keinem anderen sehe: Er beißt seinem Sandkörnchen ins Ohr und tätschelt ihr nicht nur die glühend roten Wangen.

In Buchara lernte ich auch die Mutter meiner Dolmetscherin Rima Abduraschidowa kennen. Eigentlich hätte ich ihre Geschichte vor der von Gusal Murtasajewa erzählen müssen. Aber weil ich anschließend über ihre Tochter Rima schreiben will, steht sie hier.

Frau Abduraschidowa ist über fünfzig Jahre alt, gütig und klug. Sie arbeitet als Etagenfrau im Hotel. Ziemlich weit oben, fünfter Stock. Sie spricht wenig. Von ihr gäbe es nichts zu erzählen, sagt sie. Was ich über sie erfahre, ist ein knapper Lebenslauf:

,Ich wurde 1921 in einem sehr kleinen Uraldorf geboren. Mein älterer Bruder fand wie viele andere keine Arbeit zu Hause. Er wollte Kraftfahrer werden. Als er geheiratet hatte, beschloß er, nach Mittelasien zu gehen. Das war 1929, und weil wir im Dorf wenig zu essen hatten, nahm mein Bruder mich als Achtjährige mit hierher. Er wurde Fahrer, alle seine Söhne sind inzwischen auch Chauffeure. Ich ging gern zur Schule. Damals gab es noch usbekische Frauen, die nicht schreiben und nicht lesen konnten. Ohne je Lehrer gewesen zu sein, begann ich- kaum den Kinderschuhen entwachsen -, abends Unterricht zu geben und besuchte selbst einen Lehrgang, denn ich wollte Bibliothekarin werden. Das einzige Unglück in dieser Zeit war, daß ich mit sechzehn Jahren heiraten wollte, aber mein Bruder verbot es, weil der Freier ein zu armer Teufel war. Doch ich kam schnell darüber hinweg, denn damals träumte ich davon, eine große Bibliothek zu leiten. Und die orientalischen Frauen, denen ich das Lesen beibrachte, würden kommen und sich Bücher von Lermontow und Gorki, Shakespeare und Goethe ausleihen…”

Wie vielen usbekischen Frauen das junge Mädchen aus dem Uraldorf das Schreiben und Lesen beibrachte, weiß
sie nicht mehr. Sie heiratete später einen Funktionär aus der Landwirtschaft. Er wurde von der Partei überall hingeschickt, wo es mit der Aussaat und der Ernte in den Hungerjahren des Krieges und der Nachkriegszeit Schwierigkeiten gab.

Als Frau Abduraschidowa auf die Fachschule für Bibliothekare gehen wollte, bekam sie einen Sohn. Und der Mann mußte von einem Dorf zum anderen. Sie zog mit – ohne Diskussion. 1948 schickte man ihn nach Buchara, und 1949 wurde ihre Tochter Rima geboren. Zwei Jahre später starb ihr Mann. Mutter Abduraschidowa schlug sich als Näherin mit Heimarbeit durch. Sie hatte nur noch einen Wunsch: Wenigstens die Kinder sollten studieren. Der Junge hielt es zwei Jahre an der Uni aus, dann brannteer durch. Als Rima am pädagogischen Institut lernte, war für ihre Mutter alles zu spät. Manchmal erzählt sie zwar von der Zeit, als sie – fast noch ein Kind – die usbekischen Frauen Schreiben und Lesen lehrte, studieren wollte, um Bibliothekarin zu werden, aber sie spricht dann sehr leise, so, als wolle sie längst Eingeschlafenes nicht wecken.

Nachdem die Kinder groß waren, konnte sie mit der Heimarbeit an der Nähmaschine aufhören. Sie wurde Etagenfrau. Im Hotel “Buchara”.

Die dritte Frau oder das dritte Mädchen (in Mittelasien werden die Frauen, gleich, ob sie verheiratet sind oder nicht, mit dewotschka – Mädchen -, in anderen Teilen der UdSSR aber auch mit shenstschina – Frau – angesprochen), dieses dritte Mädchen also, von dem ich in Buchara Details aus ihrem Leben erfahre, ist Rima, die Dolmetscherin.

Schon in der Schule liebte sie die deutsche Sprache, vor allem auch deshalb, weil sie einen ziemlich hohen Tauschwert hatte. Gegen eine Seite Übersetzung vom Russischen ins Deutsche erhielt Rima mindestens drei bis vier gelöste schwierige Mathe-Hausaufgaben. Nach dem Abitur kam sie auf die Idee, Medizin zu studieren. Als die Aufnahmeprüfungen vorbei waren, wartete Rima mit genauso nervösen jungen Leuten im medizinischen Institut auf den Bescheid, ob sie angenommen oder abgelehnt worden war. Um sich die Zeit zu vertreiben, untersuchten die Kandidaten der Medizin die Kellerräume des Instituts und kamen auch in den Präparateraum. Menschliche Embryos, kranke Nieren, Geschwüre und operierte Herzen schwammen in Formalinlösungen. Rima wurde bei diesem Anblick schlecht, und sie stöhnte: Hoffentlich habe ich die Vorprüfung nicht geschafft! Ihr Wunsch ging in Erfüllung. Rima begann, am pädagogischen Institut zu studieren. Ihre Entwicklung – 25 Jahre nach Mutter Abduraschidowas vergeblichem Traum, eine große Bibliothek leiten zu können – verlief gradlinig, wie bei den meisten usbekischen Frauen. Heute ist Rima Chefdolmetscherin für Deutsch.

Ich frage sie, ob sie Direktor des Bucharaer Intouristbüros werden möchte.

Nein, niemals!

Weshalb nicht?

Das ist zu viel Verantwortung für eine Frau.

Wieso für eine Frau? Habt Ihr die Gleichberechtigung nicht auch im sowjetischen Orient erkämpft?

Haben wir!

Aber?

Aber die Frauen müssen bei uns noch zu viel herumwirtschaften, weil sich kaum ein Mann um das Einkaufen, den Haushalt oder die Kinder kümmert.

Gibt es bei Intourist trotzdem Frauen als Leiter?

Wir haben eine. Täglich kontrolliert sie per Telefon die Schularbeiten ihrer Kinder. Einmal hat sie schon ein Gute-Nacht-Lied durchs Telefon gesungen.

Also sollten keine Frauen als Leiter eingesetzt werden?

Doch!

Und wie das?

Ich würde dem Minister einen Vorschlag machen: Laßt alle Frauen nur noch halbe Tage arbeiten.

Und haben Sie es dem Minister schon geschrieben?

Ach wo. Bestimmt bekäme ich auf solch einen Brief die Antwort: Verehrte Bürgerin Rima Abduraschidowa, Sie haben noch nicht einmal eine Familie, aber rufen bereits um Hilfe…

Das sind die Geschichten von Gusal Murtasajewa, der vierzigjährigen, Flitterwochen feiernden Abteilungsleiterin, von Frau Abduraschidowa, die 1935 usbekischen Analphabetinnen Schreiben und Lesen beibrachte und heute Etagenfrau ist, und von ihrer Tochter, der Chefdolmetscherin Rima; alle drei handeln in der gleichen Stadt. Jahrhundertelang wurde die Rechtlosigkeit der usbekischen Frau, genau wie die hier seit Menschengedenken tobenden Sandstürme, zu den Naturgesetzen gezählt, gegen die der Mensch machtlos ist. Rings um Buchara haben die Kolchosbauern einen 600 Kilometer langen Baumgürtel gepflanzt. Er schützt die neuen Felder vor dem Sand. Geschwächt wird der Sturm, aber die Stadt erreicht er noch. “Die Stadt erreicht er heute oder morgen”, sagen mir die alten Usbeken und deuten auf den Himmel. Er sieht aus, als sei ein flimmernder Gelbfilter vor sein Blau geschoben worden.

Ich möchte noch einmal das von Rima als beinahe unmöglich Prophezeite versuchen: ein orientalisches Lehmhaus betreten. Gescheitert sind Versuche mit Handwerkern und einem jungen Mädchen. Als nächstes will ich es dort probieren, wo bestimmt nur Leute aus der alten Stadt zu finden sind – in einer Tschaichana, Teestube. Denn auch hier in Buchara hocken Männer jeden Alters von früh bis abends auf den Teestubensofas.

Die Tschaichanas des sowjetischen Orients ähneln sich zum Verwechseln. Nichts unterscheidet die in Buchara von denen, die ich in Samarkand sah. Auch hier viereckige, kniehohe, fast boxringgroße, mit Teppichen ausgelegte und von Geländern begrenzte Holzsofas. Auch hier schattiges Blätterdach darüber. Und auch hier nur Männer, die sitzen, schweigen und Tee trinken. Weiter nichts. Sitzen. Schweigen, Tee trinken… Worüber denken sie nach?

Ich ziehe meine Schuhe aus und klettere auf eines der Teestubensofas. Falls du, lieber Leser, in Gedanken das gleiche tun möchtest, laß dich davor warnen. Denn solltest du zu den immer hastenden, wie aufgezogen umherlaufenden Menschen gehören, wird dir die erste Stunde auf dem Teestubensofa zur Höllenqual… Du hockst im Schneidersitz. Wenn dir dann alle Gliedmaßen wehtun, streckst du dich, versuchst es auf einer Seite liegend. Dabei schläft dir bestimmt der stützende Arm ein. Bis du die einigermaßen erträgliche Stellung gefunden hast, vergeht bestimmt eine Stunde. Und nichts ist passiert in diesen sechzig Minuten. Nur die Ungeduld spielte mit deinem Willen Katze und Maus: Sitz hier nicht unnötig herum, erhebe dich, komm lieber mit in die Stadt… Vielleicht gibst du der inneren Stimme nach, stehst auf und wirst dadurch nie das entspannende Gefühl der orientalischen Teetrinkprozedur spüren. Denn erst, wenn die Quälgeister der Hetzjagd durch unseren Alltag Ruhe geben, wenn du die Augen schließen kannst und dir blühende Apfelbäume vorstellst oder das seidenweiche Haar einer Frau, wenn du über dein Leben zu meditieren beginnst und über das, was man Glück nennt, wenn du nicht überlegst, was du jetzt überlegen müßtest, sondern daran denkst, woran du gerade denken möchtest, erst dann öffnen sich dir die Pforten zum Geheimnis der Teestuben.

Ich lehne am kunstvoll gedrechselten Geländer des Sofas, die Oberschenkel bis zur Brust angezogen, die Augen nur zu einem Spalt geöffnet. Sehe Farben, die ihre Konturen verloren haben, höre Töne, die haltlos im Raum schweben, verfolge Fragen, die sich im Unendlichen verlieren.

Einer der Usbeken, er ist nicht viel älter als ich, hat sich am Samowar vor der Teestube für zehn Kopeken eine neue Kanne mit Tee geholt. Nun schüttet er ein wenig von dem Sud in die Teeschale, kippt ihn zurück in das dickbauchige Gefäß. Das tut er dreimal. Erst dann schenkt er ein, reicht auch mir eine Schale. Ich halte die henkellose Piala mit beiden Händen. Der dampfende Tee duftet nach Jasmin. Nur drei oder vier Schluck hat mir der Usbeke eingegossen. Auch das gehört zum Ritual. Es bedeutet: Trinke in Ruhe, mein Freund, im Samowar sind noch viele Schalen Tee, und der Tag hat noch viele Stunden. Füllt man dagegen die Piala bis zum Rand und gibt sie dem Gast, so will man sagen: Trinke schnell aus und dann geh, wir haben keine Zeit für dich! Wortlose orientalische Ehrlichkeit.

Mittlerweile – etwa zwei Stunden sitze ich schon in der Tschaichana – beginnt der Usbeke, der mir den Tee spendierte, ein Gespräch. Wir unterhalten uns langsam und leise, um die Stille nicht zu stören. Die Tee-Einladung hat mich mutig gemacht. Ich frage den freundlichen Bucharaer ohne diplomatische Einleitung gleich nach seinem orientalischen Lehmhäuschen und hoffe, daß er mich am Abend mitnehmen wird. ,,Oh”, lächelter, “ich wohne in einem modernen Neubaublock, im fünften Stock.” Als ich ihn frage, wie er ohne geregelte Arbeit eine Neubauwohnung erhalten habe, muß ich meine Vorstellungen von den in Teestuben herumliegenden Männern weiter revidieren.

Ohne geregelte Arbeit! Er wird laut.

Nun, entgegne ich unsicher, ich nehme an, Männer, die fast vom ersten Hahnenschrei bis zum letzten Glockenschlag in der Tschaichana sitzen, können doch nicht regelmäßig arbeiten.

Er lacht so herzlich, daß einige Alte ihre Tassen auf den Teppich stellen. Dann zeigt er mir mindestens zehn Männer in der Runde. “Das sind alles Kollegen von mir, beschäftigt wie ich draußen in Gasli, dem Erdgaskombinat. Wir hatten Nachtschicht und erholen uns jetzt.”

Funktionswechsel der orientalischen Teestuben.

Die alten Grauhaarigen, Spitzbärtigen, die hier liegen, sind schon Rentner. Andere kamen morgens in die Stadt, um Früchte zu verkaufen und warten nun auf den nächsten Bus. Manche Männer haben einen freien Tag. Und viele aus den Großstädten arbeiten in Schichten. Wie mein Gesprächspartner und seine Freunde aus Gasli, dem größten mittelasiatischen Erdgaslieferanten in der Nähe von Buchara.

Früher heizten die Usbeken ihre Wohnstube folgendermaßen: Sie schütteten glühende Kohle in eine Vertiefung des Fußbodens, stellten ein viereckiges Tischchen darüber, umhüllten es mit einer Decke und streckten die Beine darunter aus. So verbrachten sie die kalten Nächte. 1953 entdeckten Geologen in der Wüste Kysyl-Kum bei Buchara die bis dahin größten Erdgasvorkommen der Sowjetunion. Sie reichen aus, alle Wohnungen in Usbekistan mit Gas zu beheizen. Außerdem konnte der Restund das war nicht wenig – durch mächtige Rohrleitungen in die sozialistischen Länder exportiert werden. Als man begann, die Vorkommen auszubeuten, wohnten in Gasli, der künftigen Verteilerstation, 54 Menschen, zehn Jahre später waren es schon 15 000.
Zum Bau der geplanten Erdgasleitungen benötigten die sowjetischen Monteure 1020 Millimeter dicke Spezialrohre, die sie unter anderem aus den USA und der BRD einführten.

Um die Sowjetunion ökonomisch zu erpressen, ließen die amerikanische und die BRD-Regierung 1962 – mitten in der Bauphase – die Lieferungen der 1020-Millimeter-Rohre stoppen. Unter “Frontbedingungen” stampften die sowjetischen Arbeiter daraufhin in Tscheljabinsk in kürzester Zeit ein Werk aus dem Boden, das 1020-Millimeter-Rohre produzieren konnte.

Heute strömt Erdgas aus Buchara durch 1040 Millimeter dicke Rohre – die in der UdSSR hergestellt wurden – nicht nur in die sozialistischen Länder, sondern auch in die… BRD.

Als die westdeutsche Schriftstellerin Genova Hartlaub 1965 über Buchara berichtete, schrieb sie kein Wort von Gas und Röhrenembargo, dafür vermeldete sie: “Was wir hier sehen, gibt es morgen vielleicht nur noch in der Phantasie, wenn die Sowjets nicht ihr Verhältnis zu ihrer Vergangenheit und zu der islamischen Überlieferung ihrer orientalischen Republiken ändern. Buchara versinkt im Wüstenstaub…”

Was ich in Buchara sah, waren asphaltierte Straßen – sogar in der Altstadt – und aufwendig restaurierte Zeugen der islamischen Vergangenheit, die zu Emirs Zeiten, vor der “Herrschaft der Sowjets”, als Karawanenherbergen gedient hatten.

Eine alte orientalische Lebensweisheit besagt: Hunde bellen, doch die Karawane zieht weiter. Und eine andere rät: Wenn du Tee trinkst, dann trinke Tee! Der Monteur aus Gasli und ich sind inzwischen bei der vierten Kanne. Er kennt eine Menge alter usbekischer Geschichten. Eine, die er mir erzählt, geht so:

In den Bergen des Landes lebte einst ein ungewöhnlich starker junger Held mit Namen Dawljat. Er trug, wenn das Land nach Wasser dürstete, die Berge mit den bloßen Händen ab und legte die Quellen frei. Zur gleichen Zeit wohnte in der sandigen Ebene ein Mädchen, Gulandom genannt. Es war so schön wie die sich im Bach spiegelnde Sonne und so zart wie eine nur alle hundert Jahre blühende Blume. Durch einen Schafhirten, der sowohl die Berge als auch die Wüste kannte, erfuhren Dawljat und Gulandom voneinander und beschlossen zu heiraten, damit ihre Tugenden – Kraft und Schönheit – in ihren Kindern weiterleben würden. Also schickte Dawljat seine Brautwerber hinunter in das Dorf zu Gulandom. Als sie zurückkamen, vermochten sie nur noch in Liedern zu sprechen, so sehr lobpreisten sie die Schönheit des Mädchens. Auch Gulandom schickte nun ihre Vertrauten hinauf in die Berge zu Dawljat. Als sie zurückkamen, vermochten sie nur noch in Gedichten zu sprechen, so sehr lobpreisten sie den jungen Recken. Die beiden heirateten und leerten wochenlang den Becher des Glückes bis zur Neige.

Dann aber hörte Gulandom, daß ihr Liebster im Traum laut redete. Das störte ihren elfengleichen Schlaf, sie war tags müde und nicht mehr so lustig. Dawljat dagegen mißfiel, daß seine Geliebte immer nur Kuchen buk, aber kein Schaffleisch braten konnte. Da ließ er sich oft von seinen Freunden zum Mahl einladen. Eines Tages erfuhr Gulandom, daß ihr Mann Bären mit bloßen Händen erwürgte. Da ließ sie sich nicht mehr von ihm streicheln. Und Dawljat schimpfte, weil seine Frau, wenn sie ein paar Schritte in den Bergen gelaufen war, schon blutige Blasen an den Füßen hatte.

Nachdem der Mond zum viertenmal sein Gesicht gewechselt hatte, wollten sich Dawljat und Gulandom wieder trennen. Eines Nachts aber betrat ein weiser alter Usbeke ihre Jurte. Er schenkte dem kräftigen Recken Dawljat und der sonnengleichen Gulandom einen Wunsch. Sie baten, daß sie noch einmal vor ihrer Vermählung leben könnten. So geschah es. Und Dawljat schickte seine Werber hinunter in das Dorf, schärfte ihnen jedoch vorher ein, sie sollten gut beobachten und alles über die künftige Braut berichten. Als die Männer zurückkamen, besangen sie Gulandoms Schönheit in Liedern und sagten dann: Aber sie kann kein Fleisch braten, und ihre Füße sind so zierlich, daß sie sich in unseren Bergen blutige Blasen läuft.

Dawljat bedankte sich und sagte: Ich werde meine Mutter bitten, ihr die Kunst des Kochens zu zeigen, und in den Bergen trage ich sie, bis sich ihre Füße an die rauhen Steine gewöhnt haben.

Auch Gulandom schickte ihre Vertrauten hinauf ins Bergdorf. Als die Frauen zurückkamen, beschrieben sie Dawljats Stärke in Gedichten und sagten dann: Aber im Schlaf redet er laut, und Bären tötet er aus Spaß mit bloßen Händen. Gulandom bedankte sich und sagte: Ich werde ihm eine Decke weben, die ihm ruhige Träume schenkt, und wenn er zur Jagd geht, bitte ich ihn, Pfeil und Bogen mitzunehmen.

Sie heirateten. Die Mutter Dawljats lehrte Gulandom, das Fleisch zuzubereiten, und er trug seine Frau in den Bergen über die rauhen Steine. Sie aber schenkte ihrem Mann eine schlaf spendende Traumdecke, und als sie ihn bat, die Bären nicht mit nackten Händen zu töten, nahm er wie die anderen Pfeil und Bogen. Sie leerten den Becher des Glücks ein Leben lang bis zur Neige, füllten ihn wieder und leerten ihn erneut. Und Allah schenkte ihnen Kinder, schlank wie Zypressen und stark wie Platanenbäume …

Etwa drei Stunden, nachdem der Usbeke mir die Geschichte von Gulandom und Dawljat erzählt hat, treffe ich im Foyer des Hotels “Buchara” eine Gruppe DDR-Touristen. Begrüßung. Woher. Wohin. Eine Frau stammt aus Pirna und kennt mein Heimatdorf Lohmen. In der Gegend würde sie oft Pilze suchen, sagt sie und freut sich über unsere Begegnung. “Allerdings”, schränkt sie wenig später ein, “in den letzten Jahren gibt es selbst in der Lohmener Ecke immer weniger Pilze.” Sie erklärt auch gleich weshalb: “Der Wald ist eben auch nicht mehr das, was er mal war.”

Die Achtundsechzigjährige erzählt mir von ihrer Reise. Sie war in Moskau, Frunse, Chiwa, Taschkent, Samarkand und fliegt jetzt noch nach Baku. “Aber”, so barmt sie, “dort wird es wohl auch nur Reis, Weißbrot, Fleisch und Obst zu essen geben.” Später rückt sie näher und berichtet fast flüsternd, daß sie in Buchara armselige Häuser gesehen habe, “sogar welche aus Lehm”, und daß viele Männer nicht arbeiten, sondern in Teestuben hocken, daß die Geschäfte der Uhrmacher und Schuster keine Türen haben, geschweige denn verschließbar sind, daß die Einheimischen auf der Straße knien und zu Allah beten, daß manche Leute keine Schränke und keine Sessel in ihren Wohnungen hätten, daß die Menschen hier noch wie im Mittelalter leben…

Nach diesem Gespräch möchte ich wieder m der Tschaichana sitzen und ungestört nachdenken. Ich versuche es ersatzhalber mit einem Tee im Hotelrestaurant, aber dabei fällt mir nur etwas ein, was ungefähr drei Jahre zurückliegt. Damals schrieb ich über ein kleines Dorf im Gebiet von Kaluga. Es sollte abgerissen werden, weil m der Nähe eine große Zentralsiedlung entstand. In der Reportage erwähnte ich, daß im alten Dorf die Abwässer noch auf der Straße entlangliefen. Ein Kollege riet mir: “Schreib über das neue Dorf; die Abwässer im alten streichen wir. Oder willst du ein falsches, nicht typisches Bild von unseren Freunden verbreiten?” Ich strich die Abwässer.

Ende meines Nachdenkens. Eigentlich müßte hier das Nachdenken erst richtig beginnen.

Doch im Hotelrestaurant, wo mein Tee inzwischen kaltgeworden ist, winken mich vier schon angeheiterte Gäste in Arbeitskleidung – also welche aus Buchara, denke ich – an ihren Tisch. In der Hoffnung, mehr über die Stadt zu erfahren und eventuell doch noch ein orientalisches Eehmhaus von innen zu sehen, setze ich mich zu ihnen.

Sto gramm – ein Wasserglas voll Wodka. Sa drushbu – auf die Freundschaft! Dann schieben sie die Teller mit Tomaten, Zwiebeln, gekochter Zunge und Brot zu mir herüber. Nach dem Essen hole ich meine letzte Flasche Nordhäuser Korn und Ansichtskarten von Thüringen. Noch einmal:,,Sa drushbu!” Alle wollen zur Erinnerung an unser Treffen ein Verschen auf ihre Karte. Dabei merken wir, daß unsere Runde recht bunt gemischt ist: ein Russe, ein Koreaner, ein Usbeke, ein Turkmene und ein DDR-Bürger. Der Russe zeigt mir lobpreisend seine Uhr und deutet dann auf meine. Wir sollten sie tauschen; wegen der ewigen Freundschaft und zur Erinnerung. Ich lehne höflich ab. Er bleibt hartnäckig: Ob mir unsere Freundschaft nicht wertvoller sei als die Uhr, fragt er. Mir fällt nichts anderes ein, als vorzuschlagen, anstelle der Uhren könnten wir doch unsere Herzen tauschen, die seien wichtiger für die Freundschaft. Er guckt nicht sonderlich begeistert.

Sie bezahlen und laden mich ein, mit ihnen daheim weiterzufeiern. (Eventuell sogar in einem usbekischen Häuschen?) Der Koreaner, er scheint der Chef zu sein, lotst unsere schwankende Expedition durch das dicht besetzte Restaurant bis zum Ausgang. An der frischen Luft jedoch stolpert er, und aus seiner Aktentasche purzeln ungefähr 30 Schachteln der begehrtesten, oft nur unterm Ladentisch gehandelten sowjetischen Zigarettensorte “Sojus-Apollo”. Ich helfe ihm hoch, die anderen sammeln eilig und verlegen die Schachteln auf. Dann öffnet der Koreaner die Türen eines alten Wolga und setzt sich ans Steuer. Der Turkmene und der Usbeke steigen leider schon bald wieder aus. Der Koreaner nimmt die Kurven gefährlich eckig und die Geraden ziemlich kurvig. Welche Enttäuschung! Er fährt in Richtung Neustadt. Dort hält er, bittet den Russen und mich in seine Wohnung. Die Zigaretten liefert er in der Küche ab und stellt dann seine Frau, eine zierliche kleine Koreanerin, vor. (Die Koreaner kamen 1924 nach Mittelasien, um zu helfen, den sowjetischen Reisanbau zu verbessern.) Sie serviert uns in Schüsselchen fernöstliche Nationalgerichte, unter anderem einen sehr scharfen Krautsalat. Als wir sitzen, nimmt der Hausherr das Tuch vom Televisor. Enthüllung des zu Bewundernden. Die Ballettaufführung bleibt Nebensache. Wir trinken wieder Wodka. “Sa drushbu!” Der Koreaner geht zum Schrank und kramt vier oder fünf Uhren heraus., ,Solotyj e – goldene!” Ob ich nicht doch tauschen möchte? Nein, sage ich. ,,Nu choroscho poechali – trinken wir!” Später holt der Koreaner eine braune Aktentasche von der Flurgarderobe, zeigt sie mir, fragt, wie ich sie finde. Gut, sage ich. Er freut sich und beginnt, meine Umhängetasche auszuräumen: Fotoapparat, Kaugummi, Weitwinkel, Prospekte, Teleobjektiv, Kugelschreiber, Filme, Notizbücher. Dann packt er alles in die Aktentasche, umarmt mich – “Sa drushbu -auf die Freundschaft!” und stellt meine Umhängetasche in den Schrank. Ich weiß im ersten Moment nicht, was ich sagen soll; vor allem denke ich noch nicht daran, wie ich es im weiteren Verlauf meiner Reise fertigbringen soll, in der einen Hand die Aktentasche mit Fotoutensilien und Notizbüchern zu tragen und mit der anderen zu fotografieren oder zu schreiben. Der Koreaner lobt noch einmal: “Eine gute Tasche.” Welche meint er damit? überlege ich. Offensichtlich die mir überlassene, denn er ist mit meinem Äquivalent nicht so recht zufrieden, und als Zugabe, sagt er, solle ich ihm noch den Hosengürtel schenken. Er hilft, ihn mir abzubinden. Wieder sto gramm Wodka und Freundschaftsworte. Im Fernsehen stirbt der Schwan…

Dann stellt mir der Koreaner seinen Sohn vor und bringt ein weißes Dederonhemd des großen athletischen Burschen als Andenken für mich. Zu tauschen gegen mein ärmelloses rot-weiß gestreiftes Baumwollnicki. Um schnell wieder aus dem gastlichen Haus zu kommen, ohne noch meine Jeans zu verlieren, sage ich, es wäre besser, die Hemden im Hotel zu wechseln. Schneller Abschied. Der Koreaner fährt mich zum Hotel, kommt mit ins Zimmer, überreicht mir das fast neue weiße Anzughemd seines Sohnes, und ich packe ihm das begehrte Nicki ein. Er wickelt es noch einmal aus und versucht, das Firmenzeichen zu lesen. Große Worte beim Abgang: bester Freund…, morgen Wiedersehen…, dann könnten wir ein altes orientalisches Haus besichtigen… Und: Verwandte von ihm würden auch bei mir in der Bundesrepublik Deutschland wohnen. Wenn ich wolle, bringe er mir morgen einige Farbfotos von ihnen mit… Ich kläre ihn nicht auf.

Allein in meinem Zimmer sitzend, habe ich großen Durst auf ein Mineralwasser. Ich ziehe mir das blau-weiße Gegenstück zum soeben weggegebenen Nicki an und gehe ins Restaurant. Aber schon im Foyer hält mich ein Milizionär an und fragt, ob ich kein ordentliches Hemd besäße? In diesem hier, ohne Ärmel, könne er mich nicht hineinlassen, das verstoße gegen die Moral.

Also laufe ich wieder hinauf, ziehe das weiße Dederonhemd des Koreaners an. Der Milizionär lächelt zwar nicht, aber nickt mit dem Kopf.

Zwei Tage danach, in Taschkent, erfahre ich von einem Juristen, daß solche “Andenkenhändler”,.die sich in den Städten mit internationalen Hotels etabliert hätten, streng bestraft würden. Es wäre ein Delikt, das mit den Touristen in das Land gekommen sei und durch das Fehlen mancher Konsumgüter begünstigt würde.
Am Morgen, noch wodkaverkatert, klage ich Rima mein Leid über die gräßlichen Kopfschmerzen. Sie tröstet mich, auch sie habe schlecht geschlafen, das liege am Wetter, am näher kommenden Sandsturm. Wenn sie wüßte, denke ich, was für ein Sandsturm mir Schwierigkeiten bereitet.

Anschließend machen wir einen gemeinsamen Spaziergang gegen die Kopfschmerzen. Staunend sehe ich, daß die individuellen Häuserbauer ihren Wettlauf mit dem Sandsturm fast gewonnen haben. Die Mauern stehen und verraten durch ihre Anordnung, wie zweckmäßig die Usbeken ihre Häuser bauen. In der Mitte befindet sich ein großes Zimmer, in dem auch die zahlreichste Familie mit ihren Gästen Platz zum Essen und Plaudern haben wird. Um dieses Quadrat ordnen sich kleine Räume. Manche von ihnen haben nur halbhohe Trennwände, damit sich die Bewohner auch von Zimmer zu Zimmer unterhalten können. An zwei Seiten des Gevierts sind im rechten Winkel schmale, lange Zimmer angesetzt. Sie begrenzen den in der Mitte liegenden Hof, der durch diese Anordnung ein Maxim um an Schatten und Kühle erhalten wird. Die alte orientalische Bauweise ist noch heute zweckmäßig, nicht was die Ökonomie, aber was die Wohnbequemlichkeit betrifft.

Bei unserem Erholungsbummel zeigt mir Rima jedoch ein altes usbekisches Bauwerk, das nicht einmal ein Minimum an Wohnkomfort bietet: die Medresse Mir-i-Arab. Dort arbeitet der alte Hausmeister, der Rima einen Bräutigam suchen will. Aber nicht deshalb wäre die Medresse interessant, lächelt Rima, sondern weil sie heute die einzige Schule für islamische Geistliche im sowjetischen Orient ist.

Rima erzählt, daß noch im 19. Jahrhundert Ungläubigen, die nach Buchara kamen, von den islamischen Henkern der Kopf abgeschlagen wurde. Selbst der russische Botschafter wohnte vorsichtshalber nicht in der Emirmetropole, sondern residierte und intrigierte vor der Stadt, m Kagan. Was allerdings passiert wäre, wenn es ein Ungläubiger gewagt hätte, eine Moschee oder Medresse in Buchara zu betreten, darüber schweigen selbst die phantasiereichsten Märchenerzähler aus “Tausendundeiner Nacht”. Heute studieren in der Koranschule Mir-i-Arab (von 1921 bis 1941 war sie von den sowjetischen Behörden als Antwort auf die konterrevolutionären Aktionen islamischer Fanatiker geschlossen worden) fünfzig Absolventen sowjetischer Mittelschulen und 350 Fernstudenten. In sieben Jahren lernen sie hier die Suren des Korans auswendig, üben sich m islamischer Rechtsprechung, interpretieren die verschiedenen Koranauslegungen, sprechen türkisch, arabisch, persisch…

Als wir das Gebäude betreten, schaue ich überrascht auf die an den Wänden hängenden Fotos: Alte Usbeken schöpfen das erste Wasser des neuen Kanals mit der hohlen Hand, kosten, als sei es ein Geschenk Allahs. Rima bestätigt mir, daß es nach den arabischen Überlieferungen des Islams bei Todesstrafe verboten war, Lebewesen, einschließlich der Menschen, abzubilden, denn dadurch würde die Seele des Porträtierten aus seinem Körper entfliehen.

Andere Details, die den Unterschied zu den Koranschulen früherer Zeiten deutlich machen, entdecke ich nicht. Der viereckige, von allen Seiten umschlossene Hof ist ungepflastert und baumlos. Niedrige dicke Holztüren vor den Unterkünften der Studenten. Ich bücke mich, um in einen der kerkerzellengleichen Räume zu gelangen. Kein steinerner Fußboden, nur gestampfter Lehm, fensterlose Dunkelheit. In die Mauern sind Nischen eingehauen, dort stehen Bücher, Tassen und Teller. Ganz hinten an der Wand erkenne ich drei übereinanderstehende Betten. Absolute Einfachheit, wie sie der Koran seinen Verkündern abverlangt.

Rima nickt: “Ja, hier wohnen die Studenten sieben Jahre lang.” Leider treffen wir keinen.

Der Hausmeister, der Rima mit “mein Töchterchen” begrüßte und uns durch die Medresse begleitet, erklärt mir, daß die Studenten zur Zeit in einer Kolchose bei der Baumwollernte helfen.
Und wo sind die Lehrer? frage ich.

“Die verhandeln heute im Stadtsowjet, damit die Koranschule einen kommunistischen Lehrer erhält.”
Ich muß sehr dumm dreinschauen, denn Rima ergänzt sofort: “Die Koranschüler studieren auch den Marxismus-Leninismus. Diese Philosophie kann ihnen jedoch kein mohammedanischer Mulla, sondern nur ein Marxist beibringen. Deshalb bittet die geistliche Verwaltung den Sowjet um einen erfahrenen Lehrer. Manchmal ist es sogar ein Mitglied der KPdSU, das die künftigen mohammedanischen Prediger unterrichtet.”
Rima bleibt noch auf einen Schwatz beim Hausmeister, und ich versuche inzwischen, doch noch ein orientalisches Lehmhäuschen zu besichtigen.

Ich lege mir keinen Schlachtplan zurecht, gehe einfach in die Richtung der alten Stadt und warte, daß so etwas wie ein Wunder geschieht. Doch für Wunder waren die Geister der Samanidenherrscher zuständig, ihr Zettelorakel funktioniert heute nicht mehr. Vielleicht klappt es mit dem Uberraschungseffekt? Ich bücke mich und klinke an einer Tür in der weißen Duwalmauer. Verschlossen. Die nächste ist offen, aber kaum stehe ich am Eingang zum laubüberdachten Hof, kommen zwei Usbeken aus dem Innern und fragen, was ich wolle. Ich sage, daß ich ein Tourist aus der DDR bin und ihr Haus anschauen möchte. Sie schicken mich sanft, aber bestimmt wieder hinaus. Einer der zwei sagt: Hier ist doch kein Museum. Dann dreht sich hinter mir der Schlüssel im Schloß.
Resignierend gehe ich weiter, lese die Namen der Gassen: Gogol. Lermontow. An einer Eckmauer – wie halten die Schilder bloß an den Lehmwänden? – entziffere ich mit Mühe Uhza Nekrassowa. Ein paar Schritte weiter finde ich über einer Tür auch so etwas wie eine Nummer des Hauses, das hinter der unüberschaubaren Mauer steht. Nummer 10. Plötzlich habe ich eine Idee, reiße einen Zettel aus meinem Notizblock heraus und schreibe auf russisch:

U.SSR
gorod Buchara
uliza Nekrassowa 10. Und dazu erfinde ich irgendeinen russischen Mädchennamen:
Belowa Natascha.

Mit dem Zettel in der Hand öffne ich die Tür zum Hof des Hauses. Die erste Reaktion gleicht der, die ich schon erlebt habe: ablehnende Mienen. Ich zeige den Zettel mit Namen, Straße und Hausnummer und erkläre: Das Mädchen Natascha, das mir seine Adresse gab, hätte ich in Berlin beim Jugendfestival getroffen.
“Sie sagte, wenn ich je nach Buchara käme, solle ich sie unbedingt besuchen.” Nun, hier sei ich, hätte zwar zwei Stunden gesucht, aber jetzt wäre ich doch richtig in der Uliza Nekrassowa 10?

Bejahendes Nicken. Aber- sie lassen sich die Adresse geben – eine Belowa Natascha gäbe es hier nicht. Mit meinem Einwand, vielleicht sei es eine Studentin, die nur zur Untermiete im Hause wohnte, inzwischen fertiggeworden und wieder weggezogen sei, versuche ich, ihr Interesse zu vergrößern.

Nein, eine Studentin hätten sie nie gehabt.

Unsere Runde wird größer. Nachbarn werden herbeigerufen, Kinder umstehen den Kreis. Ein alter Mann stellt fest, daß der Name auf meinem Zettel kein usbekischer, sondern ein russischer sei.

“Nebenan wohnt eine junge russische Frau”, erinnert eine Großmutter. Und nun funktioniert die alte usbekische Gastfreundschaft, wie sie in unseren kälteren Breiten nicht vorstellbar ist. Dutzendweise werden mir die Türen m den vordem uneinnehmbar scheinenden Duwalmauern geöffnet. Ich betrete einen alten orientalischen Hof nach dem anderen. Und überall erhalte ich gute Ratschläge. Nackte Kinder werden als Kundschafter vorausgeschickt, alte Frauen in Unterröcken erheben sich von ihren schattigen Liegen und reden sich die Köpfe heiß. Erst im sechsten oder siebenten Haus, inzwischen die Uliza Nekrassowali, gestehen die zu Tode betrübten Usbeken: “Wir können Ihnen nicht helfen, es muß eine falsche Adresse sein, bestimmt hat sich das Mädchen beim Straßennamen verschrieben.” Und dann bitten sie mich, mit in ein Haus zu kommen. Es wäre eine Ehre für sie, wenn ich ihr Gast sei. Ich bedanke mich, die Hände auf meinem Herz zusammengelegt, mit tiefen Verbeugungen. Wir gehen durch den Hof. Die Augen registrieren zuerst hocherfreut das wohltuende Grün. Auf gedrechselten Säulen ruht ein Vordach, und Kletterpflanzen verwandeln das Gerüst in ein grünes schattiges Zelt vor dem eigentlichen Haus. Blumen. Bäume. Wasserbecken. Anscheinend wohnen die Menschen hier mehr im Hof als drinnen in den Räumen, denn zwei Stahlbetten ohne Matratzen stehen unter den Bäumen. Auf einem hegt eine weißhaarige alte Frau, sie erhebt sich, begrüßt mich, legt sich dann wieder hin. Auch Bänke, Töpfe, Schüsseln, Kinderspielzeug – alles befindet sich unter dem freien Himmel. Der Hausherr bittet mich, im Schatten Platz zu nehmen, die Frau bringt in Scheiben geschnittene Melonen, die Kinder Weintrauben. Und während ich esse, begreife ich die Funktion des schattigen Hofes: Hier waschen, hier essen, schlafen und spielen die Leute. Die Duwalmauer aus Lehm schützt das Familienleben vor den Blicken der Nachbarn und der Passanten. Dann werde ich ins Haus geführt. Innen ist es erfrischend kühl. “Lehm eignet sich hier besser zum Häuserbauen als Beton”, sagt der Mann. Er erläutert mir auch gleich das physikalische Prinzip: “Der poröse Lehm saugt die Luftfeuchtigkeit der Nacht ein. Am Tag verdunstet das gespeicherte Naß, und dabei kühlen sich die Mauern ab. Deshalb bewahren wir das Wasser auch in Lehmkrügen auf. Es ist immer bis zu acht Grad kälter als die Außentemperatur. In einem Betongefäß dagegen wäre es bestimmt noch wärmer als die Luft.”

Die Frau, die kleinen Kinder und der Mann begleiten mich dann in ihr großes Wohnzimmer. Und nun, Augen erfreut euch! Rot, Schwarz, Blau und Gelb, zu kunstvollen Ornamenten verwoben, schmücken den Fußboden. Auch an den Wänden hängen bunte orientalische Teppiche. Keine Möbel verdecken die Farben und Ornamente, das Geschirr steht in bogenförmigen Mauernischen. Wir hocken im Schneidersitz auf dem Boden. Die Frau bringt Tee in henkellosen Schalen. Sie sind nur mit drei oder vier Schluck gefüllt. Dann stellt der stolze Vater seine Töchter vor. Sie arbeiten beide als Laborantinnen. Nach einer halben Stunde Schüchternheit probieren sie, ob ihr Augenaufschlag auch wirkt. Er wirkt. Der Vater sieht es und lächelt. Die Mutter sieht es und wird verlegen. Ich frage die Eltern, ob sie lieber in ein komfortables Neubauviertel ziehen möchten. Nein, sagen sie, dort kann man nur wohnen, aber hier kann man auch leben. Und die Töchter? Eine möchte nicht weg. Die andere schon, aber nur, wenn die Eltern und Großeltern mitkämen.

Später erzählt der Vater, daß er von 1945 bis 1950 als Soldat in der DDR gewesen sei. Die Frau hat in der Schule ein paar Worte Deutsch gelernt. Sie ist ausgelassen und stolz, als sie fehlerlos bis zwanzig zählt. Ich fühle mich wohl bei ihnen.

Vorsichtig frage ich den Hausherrn nach den Touristen und den verschlossenen Türen. Er sagt: “Manchmal fühlen wir uns wie seltene Tiere im zoologischen Garten. ..” Weiter reden wir nicht darüber.

Die eine Tochter ist schon verheiratet, ihr Mann arbeitet in Wladiwostok. Sie geht in ihr Zimmer und holt einen Miniaturobelisken der fernöstlichen Hafenstadt, wickelt ihn m Zeitungspapier und drückt mir das Päckchen m die Hand. Als wir uns verabschieden, umarmen und küssen wir uns alle. Dann schreiben sie mir eigenhändig auf einen Zettel: 70
U. SS R
gorod Buchara
uliza Nekrassowa 15
Muminowa Matlah Faisijewna.

Denn wenn ich wieder nach Buchara käme, solle ich sie unbedingt besuchen. Und damit die Adresse auch stimme, hätten sie es selbst aufgeschrieben.

Als ich aus dem schattigen Hof des alten usbekischen Hauses hinaustrete auf die Gasse, schließe ich vor der gleißenden Helle des mittelasiatischen Nachmittags sekundenlang die Augen.

Auf dem Rückweg haste ich nicht im mitteleuropäischen Tempo, sondern bummle im orientalischen beschaulichen Schrittmaß. Nur unter einer alten Handelskuppel, wo sich die Straßen der Altstadt kreuzen, treibt ein Milizionär zur Eile. Feuerwehren heulen wie Ozeandampfer, um ihre Durchfahrt zu erzwingen. Ich erfahre, daß in der Nähe der Dachstuhl einer Schule brennt. Aber neben der Handelskuppel sitzen ein Tischler und ein Töpfer und bieten unberührt vom Geschehen himmelblaue Kinderwiegen und rotbraune Terrakottavasen an.

Ich spaziere bis zum Stadtrand. Die hausgroßen Baumwollhaufen sind immer noch mit Zeltplanen zugedeckt. Ich glaube nicht mehr an den Sandsturm, schließlich ist er schon seit zwei Tagen überfällig. Ein Lagerarbeiter, den ich neben der Baumwolle entdecke und nach dem Sturm frage, sagt: Er kommt bald! Er sei Hirte gewesen und schmecke und rieche jeden Sturm schon tagelang vorher. Das habe er von seinem Vater gelernt, dieser wiederum von seinem Großvater und so weiter. Das ist eine alte Weisheit der usbekischen Hirten, sagt er. Ich muß trotzdem lächeln.

Auch der nächste Morgen begrüßt mich wieder mit himmelblauen Augen und sonnenheißem Atem. Kaum ein Lüftchen weht. Die Blumen m der Stadt scheinen ihre ganze Tageswasserration schon getrunken zu haben, denn sie senken die Köpfe. Ich beginne, den Koffer zu packen. Noch drei Stunden bis zum Start der Maschine. Während ich meine Filme, Notizbücher und durchgeschwitzten Hemden verstaue, habe ich auf einmal den nicht zu unterdrückenden Wunsch, noch irgendjemandem hier eine Blume zu schenken. Menita, Gusal, Rima oder den Töchtern in der Uliza Nekrassowa 15. Ich war nur drei Tage m der Stadt, aber mir fällt der Abschied schwer wie von Freunden, mit denen ich jahrelang zusammengelebt habe.

Den nächsten Blumenladen finde ich bestimmt m der Neustadt. Ich renne am Haus vorbei, das sich die Usbeken seit meiner Ankunft zusammenzimmern. Es steht. Sie beginnen, das Dach abzudichten. Die Kinder pflanzen schon Bäume im Hof. Einer der Männer setzt Fenster ein. Große. Unvergitterte. Und in Richtung Straßenseite.

Im neuen Viertel finde ich keinen Blumenladen. Eine Frau sagt mir, ich müsse zurück in die Altstadt. Aber als ich schon umdrehen will, sehe ich vor einem neuen fünfstöckigen Haus zehn oder zwanzig Leute, die, unterstützt von einem Milizionär, auf einen mit gesenktem Kopf dastehenden Usbeken einreden. Als ich frage, was denn passiert sei, schicken sie mich die Treppen des nagelneuen Hauses hinauf. Im dritten Stock stehen viele Menschen vor einer Wohnungstür und diskutieren. Ich schaue mir die Wohnung an. Der Größe nach ähnelt sie denen in unseren Neubauvierteln. Aber an den Wänden hängen Teppiche, und im größten Zimmer stehen keine Möbel. Dafür liegen Teppiche und Kissen auf dem Fußboden. Nischen wie in den usbekischen Häuschen gibt es keine. Deshalb haben die Bewohner Bretter angenagelt, auf denen ihr Geschirr steht. An der hinteren Wand des Zimmers liegt ein großer Schutthaufen. Und nun verstehe ich auch die Aufregung: Eine Mauer wurde herausgebrochen.

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“Er wollte sich wieder einen großen Raum bauen”, erklären mir die Leute. “Damit alle Mitglieder seiner Familie, die Kinder, Eltern, Großeltern und auch die Gäste in einem Zimmer gemeinsam Platz haben. Und auf dem Boden sitzend ihren Tee trinken, essen und schwatzen können – wie früher in ihrem usbekischen Lehmhäuschen.”

Es ist spät geworden. Ich spurte bis zur Altstadt. Hier sitzen die Blumenverkäufer auf der Straße und streiten sich um die Kunden. Ich kaufe eine taufrische Rose. Aber in der Eile ist weder Menita noch Rima oder ihre Mutter zu finden. Vor dem Flughafen sitzt ein junges Mädchen und verkauft winzige Tonväschen. Sie hat knöchellange Pluderhosen an. (Das ist eine der vielen praktischen orientalischen Traditionen, die von den Usbeken bewahrt werden, denn in Pluderhosen läßt es sich allemal bequemer auf dem Teppich sitzen als im engen Rock.) Ihr schenke ich die Rose.

Eine Stunde später fliege ich nach Taschkent. Der Sandsturm ist trotz Hirtenvoraussage nicht gekommen. Die alten orientalischen Weisheiten stimmen nicht mehr, denke ich, und schaue auf die endlose Wüste unter mir.
Nach der Landung in Taschkent höre ich aus dem Lautsprecher: Buchara wird auf unbestimmte Zeit wegen eines Sandsturms nicht angeflogen.

Notizen zur Geschichte

Nach dem ersten Weltkrieg kündigte der Emir von Buchara, Said Alimchan, den Protektoratsvertrag mit Rußland. Er führte die durch russischen Einspruch verbotene Todesstrafe – Herabstürzen vom Minarett – für alle Gegner und Ungläubigen wieder ein und vergrößerte sein Heer auf 30 000 Mann. Als in Taschkent und anderen usbekischen Städten die Arbeiter nach der Oktoberrevolution die Sowjetmacht errichteten, verwandelte Said Alimchan sein Emirat in ein großes Gefängnis. Die Köpfe der Bauern, Nomaden und Handwerker von Buchara rollten bei dem geringsten Verdacht, mit den Ungläubigen zu sympathisieren oder sich für das Lesen und Schreiben zu interessieren. In der usbekischen Sprache gab es damals noch nicht einmal Worte für Streik, Proletariat, Klassenkampf, geschweige denn in der “heiligsten Stadt” Turkestans erfahrene Revolutionäre. Allein Faisullah Khodscha hatte eine Gruppe von Jungbucharanern um sich geschart. Sie wollten den Emir zu Reformen bewegen – ohne Erfolg. Der Führer der bürgerlich nationalen Vereinigung bat in Taschkent den Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare um militärische Hilfe, denn – so versicherte Faisullah – in Buchara ständen 30000 Revolutionäre bereit, den Emir zu verjagen. Doch als Kolessow mit 2000 Mann von Taschkent aus den , Revolutionären” in Buchara zu Hilfe kommen wollte, rührte sich dort keine Hand. Der Emir rief statt dessen alle Untertanen zum “Heiligen Krieg” auf, und Kolessow mußte sich zurückziehen. Die Soldaten des Emirs zerstörten russische Siedlungen, sprengten die Eisenbahn, und auf Geheiß Said Alimchans wurden alle hingerichtet, die Knöpfe am Hemd hatten, kurze Jacken oder lange Schnurrbärte trugen, sich den Bart rasierten oder durch andere “Beweise” der Rebellion gegen den Islam und den Allmächtigen “überführt werden konnten”.
Kolessow holte sich daraufhin Verstärkung und erschien wieder vor den Toren von Buchara. Dieses Mal vertraute der Emir weder Allah noch seinen Alliierten aus England. Er handelte schleunigst einen Waffenstillstand aus, versprach Reformen, wollte die zerstörte Eisenbahn reparieren lassen und sowjetische Wachposten an dem strategisch wichtigen transkaspischen Schienenstrang dulden. Zur gleichen Zeit aber versuchte er, in aller Eile seine Position zu stärken, druckte massenweise Papiergeld, um die Soldaten zu bezahlen, und holte sich von Afghanistan die ungläubigen Engländer als kleineres Übel ins Emirat, ließ sie von Lustknaben und Haremsdamen verwöhnen, um als Gegenleistungen Waffen und Berater zu erhalten. Vermutlich hätten es die Briten aber auch ohne erotische Sonderbehandlung getan, denn sie hofften nun endlich mit Hilfe des Emirs ganz Mittelasien besetzen zu können.

Anfang 1919 schickten sie 13000 Karabiner und 100 englische Militärinstrukteure nach Buchara, und im April 1919 brachte eine Karawane mit 600 Kamelen noch einmal 20000 Gewehre für des Emirs Soldaten. Die militärischen Aktionen der zum “Heiligen Krieg” angetretenen unheiligen Engländer, der aufgeputschten Mohammedaner und zwangsverpflichteten Rekruten waren jedoch deprimierend. Die erste von einem englischen Offizier geleitete Großoffensive auf die sowjetische Garnison von Kerki wurde zurückgeschlagen. Der Emir nutzte das Debakel, um von den Engländern weitere Waffen zu fordern. Die errichteten dann auch in Buchara zwei kleine Munitonsfabriken, in denen 2000 österreichische Kriegsgefangene Patronen herstellten.

Im April 1920 versuchte der sowjetische Oberst Frunze noch einmal, den Emir zu Kompromissen gegenüber den sowjetischen Nachbarn und dem eigenen geknechteten Volk zu bewegen. Auch er hatte keinen Erfolg, Andere rotgardistische Parlamentäre ließ der allerhöchste Herrscher in die allertiefsten, mit Salzlake gefüllten Verliese werfen, wo ihnen das Wasser langsam das Fleisch von den Knochen fraß.

1920 schloß der Emir ein Kriegsbündnis mit Afghanistan und holte sich zur ideologischen Vorbereitung seiner Untertanen 300 besonders reaktionäre islamische Hohepriester aus dem Ferganatal. Er wollte so schnell wie möglich mit 50000 Soldaten und englischen Offizieren ganz Turkestan vom Kommunismus befreien. Inzwischen aber hatte die 1919 illegal in Buchara gegründete Kommunistische Partei geschafft, was den Jungbucharanern als Fata Morgana vorgeschwebt hatte: die Unzufriedenen im Emirat – und das waren viele – zu mobilisieren. Und als sich gleichzeitig die ärmsten der armen Mohammedaner gegen den Allermächtigsten erhoben und die Rote Armee Said Alimchans Truppen konzentriert angriff, war der Krieg in wenigen Tagen zu Ende. Der Emir kapitulierte im Herbst 1920 und setzte sich ein halbes Jahr später mit Sack und Pack, edelsteinbeladenen Elefanten, Eustknaben und Haremsdamen, den wertvollsten Karakul-Schafherden, Steuereinziehern, Mullas und Henkern nach Afghanistan ab.

1920 wird die unabhängige Volksrepublik Buchara gegründet. Sie erhält eine eigene Verfassung, prägt neues Geld, schafft demokratische Gesetze und entwickelt eine landestypische Schrift.

Der erste sowjetische Botschafter, der sich m Buchara akkreditieren ließ, heißt Walerian Wladimirowitsch Kuibyschew.

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