Das Leben ist nichts als Narretei

Ein Beitrag von Olim devona

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Es war in den Tagen des Fastenbrechenfestes, die ich mit einem befreundeten Ethnologen und Kollegen in Afghanistan dazu nutzte, in die schöne alte Stadt Balkh zu fahren, um hier einen uns bekannten Dichter und Denker zu besuchen. Als wir im Stadtzentrum angekommen waren und mit unserem Sammeltaxi um den in der Stadtmitte gelegenen Park herum fuhren, bemerkte ich eine Menschenmenge im Park, die auf etwas Sensationelles in ihrer Mitte schließen ließ. Es waren die Tage des heiligsten islamischen Festes und die Bevölkerung zum Flanieren und Müßiggehen aufgelegt. Da kam solch ein kleines Spektakel ganz gelegen. Wir nutzten die Gunst der Stunde und schauten ebenfalls vorbei, was denn nun in mitten der Menschen zu bewundern war.

Als wir uns an den Ring der Menschen anschmiegten, um zwischen ihren Köpfen die Sensation zu erspähen, wurden wir eines Affenführers gewahr, der einen geisteskranken Jungen mit sich führte. Daneben jedoch saß ein Wesen, dass mich verwunderte. Es war eine Frau, kaum schätzbaren Alters sicher nicht über 50. Sie war anders als alle Frauen, die ich bisher in der afghanischen Öffentlichkeit gesehen hatte, nicht verschleiert. Sie hatte ganz und gar nichts auf dem Kopf, ist es doch bei Mädchen und Frauen über 15, selbst wenn sie als aufgeklärt gelten, üblich, ein Kopftuch zu tragen. Wenigstens einen leichten Schal am hinteren Ende des Kopfes. Statt dessen hatte sie ein Stirnband um, nur Lumpen am Körper und machte so den Eindruck eines ungeheuren Wesens, halb verwildert, verarmt und verwirrt. Sie hatte keine Stimme, heiser sagte sie Dinge, die keiner verstand, sie hatte offensichtlich ihren Verstand verloren.

Ich weiß nicht, wer den Stein ins Rollen brachte, aber es war sicher ein Junge, von denen im Alter zwischen 5 und 15 jede Menge in der Menschenmasse standen. Er warf mit etwas, sie warf es zurück. Ein anderer wiederholte das Spiel, der Stein nun war etwas größer, die Wucht etwas bestimmter. Im Nu war die Menge im Rausch eines ungleichen Kampfes zwischen Irrem und verrückten Jungen. Alle, und das machte der Verlauf dieser brutalen Menschenjagd sehr deutlich, hatten ungeheure Angst vor der Nähe dieser Frau. Alle, selbst betagte Männer, die die Jagd zu beenden versuchten, hatten Angst sie zu berühren. Sie benutzten Stöcke oder Tücher, um sich zu schützen. Sie war eine Aussätzige, mit der übler Schabernack gespielt wurde.

Sie jedoch war in diesem Spiel kein demütiges Opfer. Ganz im Gegenteil, wild und rasend tobte sie den Jungen nach, die sie beim Steinewerfen ausmachte, wurde das eine oder andere Mal hart getroffen, traf aber auch hart den einen oder anderen Ungestümen. Im Nu war im Park der Staub aufgewirbelt, die Zunge vom Staub belegt und das Spiel außer Kontrolle. Nun dämpften es die Besonnenen und Alten, sie verscheuchten die Jungen und vertrieben die Alte aus dem Park. Unterdessen hatte ich mich abgewandt, konnte die Wucht nicht ertragen, in der hier die Jugend mit der Entrücktheit zusammenprallte und gesellte mich zum Affenführer, der sein Makaki Äffchen versuchte, zum Aufsteigen auf seinen Wanderstock zu überreden. Der Affe hörte nicht, schlug nach dem Alten aus und dieser ohrfeigte den Affen zurück. Ein weiterer Versuch, ein Baum sollte diesmal die Himmelsleiter sein, war ebenfalls vom Mißerfolg gekrönt. Ich hatte im Norden Zentralasiens schon weitaus besser dressierte Affen in Straßenzirkussen gesehen und dies nährte in mir den Verdacht, das Vorzeigen des Affen genügte rein dem exotischen Gedanken.

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Als wir beim befreundeten Dichter ankamen und sein Haus mit unserem Besuch beehrten, da sprachen wir auch über die von uns erlebte Szene im Stadtpark.
… Ach ja, die devona (Verrückte), die sei immer da, die gehöre zu Balkh seit langem. Einige kennen sie auch noch aus ihrem Leben vor der Verrücktheit. Sie war Lehrerin gewesen und hat über das viele Studium der Bücher den Verstand verloren. Wenn man ihr ein Buch vor die Nase halten würde, sie könnte es vorlesen. Ach und das mit den Kindern, dass passiere immer, wenn viele Menschen im Park seien, sie würden mit Steinen werfen und sie vor sich her jagen. Sie ließe sich aber nicht vertreiben. Exakt das Gleiche hatten wir gerade erst im Park erlebt. Nun war unserem Dichterfreund die Anwesenheit dieses Gesprächsthemas am Tisch sichtlich unangenehm und er versuchte das Thema zu wechseln. Wir ließen es dabei bewenden.

Ein klassisches Konzept, das den Narren und seine Stellung im islamischen Orient zu erklären versuchte, stammt von Helmut Ritter. In seiner Betrachtung zum Wesen des Narren bei Fariduddin `Attar postuliert er: Der Narr habe innerhalb der Gesellschaft grenzenlose Freiheit, sei, was immer er auch tue, nicht schuldfähig, weil er per se Gott näher stehe als jeder andere. Er könne sich sogar herausnehmen, Gott zu kritisieren, etwas, das keinem anderen gestattet würde. Also stecke hinter dem Narren keine Profession, sondern eine Lebenseinstellung. Nach islamischer Vorstellung sei der Narr heilig. Habe man seinen Verstand von Gott abgenommen bekommen, bekäme man im Gegenzug von Gott die Freiheit vom religiösen Gesetz (taklif) geschenkt. Das bedeute, dass Leute, denen das Narrsein zugesprochen wurde, sich jeder Gerichtsbarkeit entziehen könnten, aber auch an den Rand der Gesellschaft gedrängt wären

Für dieses Narrenkonzept findet man zwar viele Entsprechungen, so sagt zum Beispiel Layla zu Madschnun: “Sei du wahnsinnig und lass den Verstand fahren, dann tut Dir keiner was, wenn Du in mein Dorf kommst.” Doch ist das Wesen des Narren um einiges vielgestaltiger, als das auf randständige Spaßmacher und religiöse Mahnerfunktionen beschränkte Konzept Ritters.

Die Narren sind in Mittelasien und dem vorderen Orient nicht nur wahre Helden, sie sind auch gefürchtete Aufrührer oder nicht ernstgenommene Kranke. Ihre Spässe und Sinnsprüche haben zu Lebzeiten und nach ihrem Tode so weite Kreise gezogen, dass es sehr viel mehr Geschichten, Weisheiten und Streiche von ihnen gibt, als sie selbst gemacht haben dürften. Doch so vielgestaltig die Zuschreibungen und das Wesen ihrer Geschichten, angefangen vom derben obszönen Spass bis hin zum unantastbaren und unerbittlichen religiösen Mahner, ist, so vielgestaltig sind auch ihre Funktionen in den verschiedenen Gemeinschaften zwischen dem Iran und Pakistan, zwischen den Kasachischen Steppen und dem Persischen Golf. Dabei traten Narren in verschiedenen Kleidern vor das Volk, als derbe Spaßmacher, religiöse Mahner, spritzige Denker mit Esprit, als Wort-, Ton- und Mimenkünstler und als kranke Landstreicher. Ihr Spiel und ihre Späße fanden auf den Straßen und Plätzen großen Anklang. Die puritanischen Bevölkerungsteile rümpften zwar die Nase, trotzdem gehörte der Spaß und die Narretei in allen Schichten zum Alltag der Region dazu.

Auch in der heutigen Zeit übernimmt der Narr einen wichtigen Part zur Unterhaltung der Gesellschaft. Er tritt in Popkonzerten in Tadschikstan zwischen den Liedern auf und lockert die Laune des Publikums. Er gehört zum Inventar der meisten Filme der Region, in denen er oft neben der Heldenfigur als Spaßmacher steht. Man kann Audiokassetten von Spaßmachern fast überall kaufen. Ihre Späße sind auf jedem Basar für ein paar Taler in Form von Textbüchern zu erhalten.

Die Varianz und Sozialität der verschiedenen Narrenpersönlichkeiten ist groß. Auch ihr Grad der Integration in die Gesellschaft. In Afghanistan lassen die Taxifahrer Narren in ihre Tanks pinkeln, denn der Urin des Narren bringe Glück. Man erzählt sich, dass besonders Verwegene unter ihnen mitten im Berufsverkehr mit einem Esel auf der Straßenkreuzung kopulierten. Ob das nun wahr ist oder Zuschreibung, ist hier ganz gleich. Allein die Existenz solcher Geschichten zeigt, dass man Narren solcherlei zutraut oder es von ihnen erwarten würde.

Im Moment der Menschenjagd dieser Närrin, der komischen rituellen Steinigung am Fastenbrechenfest, war Heiliges, das Faszination und Schaudern zugleich verursacht im Stadtpark von Balkh zu beobachten. Ein Gefühl, das in einem die Ambivalenz zurücklässt, in der man sich dreht, weil Erklärungsversuche immer gleich Position beziehen.

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