Ein Beitrag von Viktoria Wagner
Fragt man heute die Bewohner der zentralasiatischen Wüsten, was denn die typischen Raubtierarten ihrer Heimat seien, so wird man auf den Wolf oder den Korsak-Fuchs verwiesen. Wohl kaum jemand würde an einen Tiger denken. Dabei ist es nicht lange her, da streifte dieses Raubtier in den Wüsten Zentralasiens umher. Bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts lebte hier der sogenannte Kaspische Tiger. Diese Großkatze, die auch als Turantiger oder Panthera tigris virgata bekannt ist, war keine eigenständige Art, sondern eine Unterart des Tigers und somit ein naher Verwandter des Sibirischen und Indischen Tigers.
Der Kaspische Tiger bewohnte ehemals einen breiten Wüstengürtel, der sich von Xinjiang und der Mongolei bis nach Persien und die Türkei zieht, und bevorzugte dichte Schilfbestände und Tugaiwälder entlang der großen Flussströme. Als Beute dienten der Großkatze vor allem Wildschweine und Hirsche. Viele historische Kunstgegenstände zeugen davon, dass der Kaspische Tiger fest zum Leben und zur Kultur der heimischen menschlichen Bevölkerung gehörte. Das berühmteste Beispiel ist wohl das Mosaik am Eingangsportal der prächtigen Sher-Dor-Madrasa in Samarkand, das einen Tiger auf der Pirsch zeigt.
Doch das Miteinander zwischen Mensch und Großkatze hielt den politischen Umwälzungen der letzten Jahrhunderte nicht stand. Durch die steigenden Einwohnerzahlen, nicht zuletzt ausgelöst durch den Zuzug von slawischen Bauern ins Gebiet Zentralasiens, musste das Habitat des Tigers den Weiden und Ackerfeldern weichen. Der Tiger musste schon immer als elitäre Jagdtrophäe für die aristokratische Schicht Zentralasiens herhalten. Doch die zunehmende Bejagung wurde dem kaspischen Tiger endgültig zum Verhängnis. Unter dem russischen Zaren gab es sogar eine regelrechte Ausrottungskampagne, um den “Feind” des Bauern ein für alle Mal auszumerzen. Nur noch verblasste Fotos von längst verstorbenen Exemplaren (siehe Abbildung), ausgestopfte Felle und fragwürdige Gerüchte über noch lebende Individuen sind von dem einst größten Raubtier Zentralasiens übriggeblieben. Der Kaspische Tiger gilt nach der International Union for Conservation and Natural Ressources (IUCN) als ausgestorben.
Ging es nach der Regierung Kasachstans, sollte der Tiger jedoch bald wieder die Wüsten Zentralasiens durchstreifen. Hoffnung dafür lieferte eine genetische Untersuchung von Carlos Driscoll und Kollegen, die vor zwei Jahren in der wissenschaftlichen Zeitschrift PLoS One publiziert wurde. Diese Studie hatte DNA aus Fellsammlungen extrahiert und festgestellt, dass sich der Sibirische und Kaspische Tiger genetisch sehr ähnlich sind. In Zusammenarbeit mit dem WWF Zentralasiens und Russlands, sollen Sibirische Tiger bald im Gebiet des Balchasch Sees angesiedelt werden.
Ob dieses Vorhaben gelingt ist jedoch fraglich. Obwohl man gerne die Uhr zurückdrehen würde, den ausgestorbenen Kaspischen Tiger wird man nicht wieder zum Leben erwecken können. Trotz der hohen genetischen Ähnlichkeit könnten sich die beiden Unterarten ökologisch nicht unähnlicher sein. Wie wird sich ein Sibirischer Tiger an die Wüsten Zentralasiens so schnell anpassen? Und eine wichtige Frage, der kaum Beachtung geschenkt wird: Wie werden die menschlichen Bewohner der Wüsten Zentralasiens auf die Einführung des Tigers reagieren?
Derweil stehen im Schatten des ausgestorbenen Kaspischen Tigers andere seltene Katzen, die zwar heute noch in Zentralasien vorkommen, doch vom Aussterben bedroht sind und vielleicht bald das gleiche Schicksal teilen könnten, allen voran der Schneeleopard und der Asiatische Gepard. Wäre es nicht angebracht, aus den vergangenen Fehlern zu lernen und das Geld statt in ein fragwürdiges Projekt lieber in den Schutz dieser bestehenden Arten zu stecken?