Das Krankenhaus am Rande der Stadt – Psychiatrie in Usbekistan

(Interview mit einem leitenden Arzt der Abteilung Psychiatrie, Usbekistan. Personen und Umstände sind der Redaktion bekannt und können auf Wunsch nachgefragt werden. )

Das hier vorliegende Interview soll einen Einblick in den Alltag psychiatrischer Kliniken in Usbekistan vermitteln. Das Interview selbst wäre nicht möglich gewesen, wenn diese Absicht direkt offenbart worden wäre. Aus diesem Grunde wurde eine Legende entworfen, die mit Hilfe eines Journalisten glaubhaft gemacht wurde. Diese Legende bestand darin, dass dieses Interview im Auftrag der Zeitschrift ” Shifo-Info (shifo (usbekisch) Heilung, Erholung, medizinische Hilfe; shifokor = Arzt, Doktor, Heiler) durchgeführt wird und die Interviewpartnerin eine Redakteurin dieser Zeitschrift sei. Man stellte eine Veröffentlichung in Aussicht, die im Zusammenhang mit der Beantragung von Unterstützungsgeldern für Kliniken stehe. Trotz dieser erdachten Legende war es sehr schwierig, eine Genehmigung für das Interview zu erhalten und ohne die Unterstützung und Referenz verschiedener Personen und ihrer Ãœberzeugungskraft, wäre das Interview nicht zustande gekommen.

Das Interview

(Die Ãœbersetzung des Interviews in das Deutsche berücksichtigt nur die sinngemäßen Fragen und Antworten und ist keine wortwörtliche Wiedergabe. Dies erleichtert das Verständnis der Antworten und verkürzt das Interview. Durch den Verzicht auf die wortgetreue Ausführung des Interviews können Missverständnisse zwischen den Interviewpartnern nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Das Interview wurde in usbekischer Sprache gehalten, wobei der Interviewpartner einen speziellen Stammes-Dialekt sprach. Dieser Dialekt spielte eine nicht unwesentliche Rolle bei der Genehmigung für dieses Interview, da einer der Referenzen, die wir vorzuweisen hatten, ebenfalls Angehöriger dieses Stammes war. Im Folgenden sind der Großteil der Interviewfragen und ihre Antworten aufgelistet. Kursiv geschriebene Textteile im Interview sind Anmerkungen der Interviewerin.)

N.A: Bitte erzählen Sie uns etwas über die Geschichte und Struktur Ihrer Klinik.

Das jetzige Gebäude der Klinik war früher eine Klinik für Infektionskrankheiten. Dementsprechend ist die Ausstattung des Gebäudes auf den ursprünglichen Zweck ausgerichtet und nicht für die Behandlung Psychokranker optimiert. Der Umzug der Psychoklinik, die sich früher im 8. Sovchoz befand, in das jetzige Gebäude, war notwendig geworden, weil das alte Gebäude starke bauliche Mängel aufwies und die Sicherheit der Patienten nicht mehr gewährleistet war.
Zur Struktur der Klinik ist zu sagen, dass sie organisatorisch in einen staatlichen Prozess eingebunden ist. Es existiert eine Zentrale Meldestelle, der so genannte Dispanser, wo psychisch Kranke zunächst registriert werden. Anschließend erfolgt eine ambulante Untersuchung und, falls erforderlich, eine stationäre Einweisung in eine lokale psychiatrische Klinik. Der zuständige Dispanser für unsere Klinik ist in Gulistan. Nachdem wir also Patienten durch eine Einweisung des Dispansers erhalten haben, zusammen mit einer ersten Diagnose, beginnen wir eine Behandlung oder Therapie. Die Klinik macht eine Meldung an den Dispanser über den Verlauf der Krankheit. In der Regel bleibt die Registrierung des Patienten im Dispanser fünf Jahre bestehen. Die Patienten unterliegen der staatlichen Kontrolle mindestens für diese Zeit, auch wenn sie entlassen wurden.

N.A: Wie ist die personelle Ausstattung der Klinik und wie viele Patienten werden zur Zeit behandelt?

Zur Zeit sind 150 Patienten in der Klinik registriert und damit hat die Klinik ihre maximale Auslastung erreicht.

Die Klinik hat 3 Abteilungen: Männer und Frauen (je 55 Plätze) und die Nervenkranken (40 Plätze). Insgesamt arbeiten in der Klinik 6 Ärzte für Psychiatrie und etwa 40 Betreuer, worin Krankenschwestern, Sozialarbeiter und Wachpersonal enthalten sind. Ich selbst arbeite seit 1980 in der Klinik.

N.A: Bitte definieren Sie uns den Begriff “psychokrank”.

Ein Psychokranker ist ein Mensch, der nicht verantwortlich ist für seine Worte und Taten.

N.A.: Kann ein psychisch Kranker direkt zu Ihrer Klinik kommen?

Das ist nicht die Regel. Alle Patienten müssen über den Dispanser zugewiesen werden oder haben eine Einweisung durch die örtliche Polyklinik. Im letzteren Fall wird von uns eine Meldung an den Dispanser gemacht, wenn die ambulante Untersuchung eine stationäre Behandlung erforderlich macht. Dieses Verfahren wird meistens angewandt, wenn die Erstuntersuchung durch den Dispanser nicht möglich ist, z. B. wenn die räumliche Entfernung zu groß ist.
In seltenen Fällen kann eine Einweisung durch die Polizei erfolgen oder der Patient wird von seiner Familie zu uns gebracht. In diesen Fällen müssen wir eine örtliche Kommission bilden, die aus drei Fachärzten besteht und die über eine stationäre Behandlung entscheiden. Eine Meldung an den Dispanser erfolgt ebenfalls.

N.A: Wie wird Ihre Klinik finanziert und wer übernimmt die Kosten für eine Behandlung?

Das System der Finanzierung ist aus der Sowjetzeit übernommen. Die Klinik erhält von der Re-gierung ein monatliches Budget mit dem sie auskommen muß. Die Zahlung der Gehälter erfolgt ebenfalls zentral von der Regierung.

N.A: Welche Medikamente verwenden Sie und woher beziehen Sie diese? Welche Medikamente können Sie nicht erhalten? Trägt die Regierung die Kosten für die Medikamente und welche?

Wandzeitung zum sterilen Umgang mit Spritzen Die primäre Bereitstellung von Medikamenten und Nahrungsmittel erfolgt durch Regierungsstellen. Die Versorgung ist gut und ausreichend. Die Mehrzahl der Medikamente stammt aus dem Ausland, hauptsächlich aus Deutschland, Russland und Indien.
Darüber hinaus gibt es eine weitere Versorgung von Medikamenten durch Spenden wohltätiger Organisationen wie das “Rote Kreuz” und der “Rote Halbmond”. Hierzu existiert eine Aktienanteilsgesellschaft, die diese Spenden sammelt und verteilt.
Die am meisten nachgefragten und notwendigen Medikamente sind psychotrope Substanzen (psychtropen sind Amphetamine, Barbiturate und LSD, Sedativa und Antidepressiva. Die Frage nach fehlenden Medikamenten bleibt unbeantwortet.)

N.A: Welche hygienischen Maßnahmen werden in der Klinik umgesetzt?

behandlunsgzimmer.jpg Es erfolgt einmal in der Woche eine gründliche Reinigung (usbekisch hammom) aller Patienten. Ebenfalls erfolgt ein wöchentlicher Wechsel der Bettwäsche. (Eine ergänzende Anmerkung wird durch die anwesende Schwester gemacht, dass die Reinigung und der Wechsel der Bettwäsche für Frauen zweimal wöchentlich erfolgt.)

 

N.A: Welche rein medizinischen Dienstleistungen sind in Ihrer Klinik verfügbar?

Wir haben eine direkte Nachbarschaft zu einer rein medizinischen Klinik. Der Zugang erfolgt über ein Tor, das auf unserem Gelände liegt. Bei Bedarf können wir Gynäkologen, Therapeuten, Kardiologen oder sonstige Ärzte rufen. Hierzu wird ein besonderes Antragsformular über gegen-seitige Unterstützung (zayavka) verwendet. Im Notfall können Patienten durch das Tor in die medizinische Klinik überwiesen werden.

N.A: Wie oft werden epidemiologische Untersuchungen in ihrer Klinik vorgenommen?

Epidemiologische Untersuchungen werden entsprechend den gesetzlichen Vorschriften alle drei bis fünf Jahre vorgenommen.

N.A: Welche chronisch kranken Patienten behandeln Sie und was sind die Ursachen?

Die am häufigsten vorkommenden chronischen Krankheiten sind “surh” und “genofon(Leider sind diese Begriffe aus der Tonaufzeichnung nicht mehr wiederherzustellen; die Worte” surh” und “genofon” sind phonetisch wiedergegeben, ohne daß ihre Bedeutung für die Autorin klar ist). Dann gibt es Krankheiten, die in der Pubertät (besonders zwischen dem 16. und 20. Lebensjahr) auftreten und die das Schamverhalten betreffen. Die starke soziale Kontrolle der Gesellschaft kann hierbei schizophrenes Verhalten auslösen bis hin zur Schizophrenie selbst. Weiter treten sehr häufig genetisch bedingte Krankheiten auf. Zu diesen gehören Epilepsie, aber auch Schizophrenie. Die genetisch bedingten Krankheiten treten meistens in Familien auf, deren Mitglieder untereinander verheiratet werden (Endogamie). Schon von Geburt an werden Heiratsentscheidungen für Mitglieder von den Ältesten getroffen, die auf nahe verwandtschaftlichen Beziehungen beruhen. Dies entspricht einer typischen Clanstruktur. Zum Glück sind diese Fälle in unserer Regionen nicht häufig anzutreffen, da diese eine zivilisierte Gegend unserer Republik ist. Fälle dieser Art treten aber z. B. häufig in Dörfern der “Surkhandarya” Region auf. In jedem Fall werden die Kranken aber behandelt, bis zu 5 Jahre registriert und danach, falls erforderlich, weiter versorgt.

N.A: Wie ist die technische Ausstattung Ihrer Klinik? Gibt es noch technische Ausstattungen aus der Sowjetzeit? Welche technische Ausstattung würden Sie sich noch wünschen?

Leider verfügen wir kaum über technische Ausstattungen. Auch aus der Sowjetzeit ist hier nichts vorhanden. Was wir dringend benötigen sind vor allem so wichtige Geräte wie: EEG (Elektro-Enzephalograph), Röntgenapparaturen, UZI (Ultraschallgerät).

N.A: Wie steht es um die Integration (ehemals) psychisch Kranker in die Gesellschaft?

Das ist vor allem vom Krankheitstyp abhängig. Etwa 5 % der Kranken sind nach der Behandlung in der Lage, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren und können ihren ehemaligen sozialen Status wieder aufnehmen.
Große Heilungschancen gibt es bei den Nervenkranken, die häufig aus Lehrern bestehen. Auch Patienten, die wegen des Verlustes naher stehender Menschen depressiv geworden sind, können größtenteils geheilt werden.

N.A: Gab es Auswirkungen im psychiatrischen Alltag nach der Unabhängigkeit? Gibt es signifikante Veränderungen im psychiatrischen Alltag im Laufe der Transformation? Wie ist die Lage heute?

Selbstverständlich gab es Auswirkungen. Zu Zeit der Unabhängigkeit hatte die Zahl der Kranken erheblich zugenommen. Während der Transformation kam es zu großen Problemen im alltäglichen Leben hinsichtlich der Moral und der materiellen Ausstattung. Doch heute, Dank unserem Vater, dem Präsidenten, ist alles besser geworden. Heutzutage hat die Zahl der Kranken wieder abgenommen.

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N.A: Welche sind die Hauptursachen für psychische Erkrankungen? Wie können diese am besten verringert werden?

Die häufigsten Ursachen sind die genetisch bedingten Krankheiten, die von Generation zu Generation übertragen werden. Aber auch Ursachen, die aus dem häuslichen Umfeld stammen und die meistens Frauen betreffen, die unter starkem Streß stehen, sind nicht selten. Auch seelische Unruhen aus den unterschiedlichsten Gründen sind zu nennen. Auch die Arbeit mit gesundheitlich schädigenden Chemikalien in Fabriken kann Ursache für eine Erkrankung sein.
Besonders erwähnenswert sind Erkrankungen von Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 20 Jahren, während ihrer entwicklungsbedingten Veränderungen im Körper, wobei die falsche Behandlung dieser Jugendlich durch ihre Eltern entscheidend ist. Diese falsche Behandlung geschieht aus Unkenntnis oder durch gesellschaftliche Normen oder religiöse Ansichten oder ein-fach durch Vernachlässigung.
Um diese Krankheiten zu verringern, sollte die Psycho-Prophylaxe verbessert werden. In den Familien muß eine Aufklärung über die Gefahren von Verheiratungen zwischen eng Verwandten (Endogamie) erfolgen.
Eine intensive psychologische Betreuung an Schulen und Kindergärten wäre wünschenswert. Auch eine Aufklärung der Bevölkerung durch Massenmedien hinsichtlich der Gefahren für psychische Erkrankungen wäre hilfreich.

N.A: Ich habe sehr viele Patienten draußen arbeiten gesehen. Ist die Arbeit eine therapeuti-sche Maßnahme in Ihrer Klinik?

Ja, in der Tat. Wir benutzen die Arbeit als prophylaktische Therapie. Es lenkt die Kranken ab und hilft ihnen, sich zurecht zu finden.

N.A: Gibt es Fälle von Fehldiagnosen in Ihrer Klinik? Oder anders gefragt: Wurde jemals ein Patient in Ihrer Klinik zu unrecht eingeschlossen?

Nein. Niemals.

N.A: Pflegen Sie Kontakte zu Experten in anderen Ländern oder gibt es sogar Kooperationen? Was wünschen Sie sich als Arzt?

Im Ausland, z. B. in Deutschland und in Ungarn gibt es spezielle Diagnosezentren in denen auch entsprechende Analysen gemacht werden. So etwas halte ich für unsere Arbeit für äußerst sinnvoll. Dies würde ich mir für unser Krankenhaus wünschen.


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