Der Glücksstern

tethys startet das Jahr 2012 mit dem halbstündigen, vom bbc-persian produzierten, sehenswerten Portrait Muhammaddschoni Schakuris.

Muhammaddschoni Schakuri ist einer der bekanntesten und hochgeschätztesten Intellektuellen Tadschikistans. Das Werk des heute 86-jährigen umfasst 47 Monografien: Vor allem sprach-, literatur-, und geschichtswissenschaftliche Arbeiten.

Bereits im Jahr 2001 veröffentlichte der zu Bürgerkriegszeiten aus Tadschikistan geflohene Journalist Mirbobo Mirrahim unter dem Titel Sa’daxtar (Der Glücksstern) ein umfangreiches Gespräch, das er ein Jahr zuvor in mehreren Sitzungen mit Muhammaddschoni Schakuri in Teheran führte. Es folgt ein übersetzter Auszug aus diesem Band.

Muhammaddschoni Schakuri: Ich bin im Jahr 1924 in Buchara, im Haushalt von Sadri Zijo zur Welt gekommen. Der Tag und der Monat meiner Geburt sind nicht bekannt. Mein Geburtsjahr ist 1924, denn angesichts des Tierkreiszeichen-Kalenders, bin ich im Jahre der Maus geboren. Anlässlich meiner Geburt hat mein Vater einen sogenannten Datum-Vierzeiler (rubo’ii ta’rix) verfasst, der so ging:

Dieser Setzling blühe auf und trage Frucht
Im Garten des Lebens sei er kräftig und frisch
Zu seiner Geburt, im Zeichen des Glückssterns
Gaben wir ihm die Zahl, damit er glücklich werde.

In tozanihol sabzu purbar bodo,
Dar bogh-i hayot tozavu tar bodo,
Dar vaqt-i tavalludash, ki bud axtarsa’d
Kardem raqam, ki sa’daxtar bodo
(Dieses Gedicht wird auch in dem bbc-Beitrag gezeigt – als Kalligrafie im Bücherschrank – und von Schakuri vorgetragen)

Die Wendung “sa’daxtar bodo” heisst also “möge er glücklich sein” und das dazugehörige Jahr 1343 des Hidschra-Kalenders entspricht den Jahren 1924-1925 im christlichen Kalender. Was mich betrifft, so ist der Wunsch meines Vaters in Erfüllung gegangen. Ich kann mich aus vielerlei Hinsicht als glücklich bezeichnen. In der offiziellen Geburtsurkunde ist allerdings das Jahr 1926 als Geburtsjahr eingetragen. Wie es dazu kam ist auch eine interessante Geschichte.

Wenn Sie wollen, dann erzähle ich davon, denn diese Geschichte ist auch ein Teil der Geschichte unserer Nation (millat). Man kann es abzählen: als ich in die erste Klasse kam, wurde 1925 als mein Geburtsjahr gerechnet und man gab mich in die Schule. Warum das so kam, weiß ich nicht. Wahrscheinlich war der Grund, dass nach dem Tierkreiszeichen-Kalender das Jahr der Maus auf das Jahr 1924 und 1925 fällt. Damals war mein Familienname “Scharifov”. Dieser Name kommt vom Namen meines Vaters. Ich weiß nicht mehr, in welcher Klasse ich war, als in der Sowjetunion das Passwesen eingeführt wurde. Den Bürgern wurden Pässe ausgegeben und jeder war verpflichtet, einen Pass zu besitzen.

Aber wir Kinder waren noch nicht alt genug, um einen Pass zu bekommen. Es stellte sich heraus, dass wir nicht einmal Geburtsurkunden hatten. Damals war ein solches Dokument im Emirat Buchara nicht üblich. Daher war weder der Geburtstag bekannt, noch das Jahr noch der Monat.
Um Geburtsjahr und -monat zu bestimmen, durchliefen alle Schüler der Schulen von Buchara eine Ärztekommission. Dadurch wollte man in Erfahrung bringen, ob das Alter der Kinder richtig war oder nicht. Der Tag, als meine Schule und meine Klasse an der Reihe waren, war der dreißigste Oktober.

MMirrahim: In welchem Jahr?

MSchakuri: Das Jahr weiß ich nicht mehr. Aber das Dokument, das wir damals erhalten haben, das besitze ich noch. Das muss zwischen 1935 und 1937 gewesen sein. Wir wurden in ein Untersuchungszimmer gebracht. Als ich das Zimmer betrat, in dem die Ärztekommission tagte, schaute diese meine Zähne an, den Flaum unter meinen Achseln und so weiter, um daraufhin mein Alter zu bestimmen. Sie haben untersucht, gefragt und dann gesagt: dein Geburtsjahr ist 1926. Ich habe gesagt, ich bin im Jahr 1925 auf die Welt gekommen. In allen Dokumenten steht als mein Geburtsjahr 1925 geschrieben.
Sie sagten, nein, alle früheren Dokumente gelten nicht mehr. Von jetzt an ist dein Geburtsjahr 1926. Der Tag, an dem die Ärztekommission tagte, war der dreißigste Oktober und mir wurde gesagt, der dreißigste Oktober ist dein Geburtstag.

MMirrahim: Also, von diesem Tag an war ihr Geburtsdatum der dreißigste Oktober 1926.

MSchakuri: Dann haben sie mich noch gefragt, von wessen Namen mein Familienname “Scharifov” abgeleitet sei. Und ich sagte, von meinem Vater, Scharifdschoni Mahdum. Damals nannte man meinen Vater Qozi Scharifdschon. Dann fragten sie: wie ist der Name deines Großvaters?
Mein Grossvater heißt Qozi Abduschukur.
Von jetzt an ist dein Familienname Shukurov. Denn der Familienname muss vom Namen des Großvaters gebildet werden. Und Scharifovitsch wird der Vatersname Ochestvo. Dein Vorname soll aber so bleiben wie er ist Muhammad. Auf diese Weise wurde ich zu Muhammad Sharifovitsch Shakuri in nur fünf Minuten. Als die Untersuchung durch die Ärztekommission vorbei war, war ich in einen neuen Menschen verwandelt worden. Nur mein Vorname ist so geblieben wie früher. Alles andere, Geburtstag, Geburtsjahr, Geburtsmonat und der Familienname änderten sich und ich wurde ein Neuer Mensch.

Das ist auch ein interessanter Punkt, wie es in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zugegangen ist. Das Schicksal der Menschen, Name und Abstammung und alles andere wurde auf diese Weise festgelegt. Viele Kinder, die mit mir zusammen in der Schule waren, haben ihre Namen und Geburtsjahre verändert bekommen. Deswegen habe ich jetzt drei Geburtsjahre: erstens 1924, zweitens 1925 und drittens 1926. In allen offiziellen Dokumenten steht das Jahr 1926.

Damals waren meine Eltern allein. Alle Verwandten, Bekannten und Freunde, die einst sehr zahlreich waren, wurden nach der Revolution immer weniger. Einige wurden sofort, und wenn nicht sofort, dann nach und nach in alle Himmelsrichtungen zerstreut, kamen ums Leben oder sind von hier weggegangen. Ich erinnere mich daran, dass meine Eltern alleine lebten. Sie hatten keinen Kontakt zu anderen. Vater war schon alt geworden und hat sehr darunter gelitten, keine Unterstützung zu haben. Ich war noch klein und keine große Hilfe.

[…]

Da ich mich nur an die letzten zwei-drei Jahre im Leben meines Vaters erinnere, habe ich ihn immer nur sitzend und schreibend vor Augen. Alle seine Schriften sind nur zur Hälfte fertig geworden, denn 1932 wurde mein Vater verhaftet.

Das war bereits das dritte Mal, dass mein Vater ins Gefängnis kam. […] Am Ende ist er eben dort gestorben. Meine Mutter wurde ebenfalls dort festgehalten, wurde aber später freigelassen. Sie hat sich jedoch im Gefängnis mit Tuberkulose angesteckt […] und ist dann im Laufe eines Jahres gestorben. In einem Jahr hatte ich sowohl Vater als auch Mutter verloren.

[…]

Diese Übersetzung entstand im Rahmen eines Tadschikischkurses, der im Sommersemester 2011 am Zentralasien-Seminar der Humboldt Universität zu Berlin durchgeführt wurde. Herzlichen Dank gilt den TeilnehmerInnen: Wladimir Sgibniev, Bota Kassymbekova, Herr Massud Hosseinipour, Caro Bunge, u.a.

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