Kerstin Grothmann über Olympia und eine kleine Tibetisch sprachige Volksgruppe im Norden Indiens.
Tibet ist in diesen Tagen mehr als je zuvor in den Nachrichten. Der Aufstand Tausender Tibeter in Tibet, das brutale Eingreifen der Chinesischen Regierung und Protestaktionen des International Tibet Support Network fordern Regierungen und NGOs heraus, Statements zu den Menschenrechtsverletzungen in Tibet abzugeben. Es ist nicht so, als würden Tibeter zum ersten Mal ihrem Kampf um Unabhängigkeit, bzw. echter Autonomie, wie vom Dalai Lama gewünscht, Ausdruck verleihen.
Am 17. April war Indiens Hauptstadt Delhi lahm gelegt. 17.000 Polizisten, die Nationale Sicherheitsgarde und Chinesische Sicherheitsbeamte waren im Einsatz, um die Olympische Fackel auf ihrer Station durch Delhi von tibetischen Protesten abzuschirmen. Delhi hat wohl selten so einen Sicherheitsaufwand betrieben. Und das alles auf Wunsch Pekings, um den Olympischen Geist aufrechtzuerhalten. Dieser Aufwand, der wie ein Spagat anmutete, ist der Versuch, China nicht zu verärgern und gleichzeitig die Beziehungen zu Tibetern und dem Dalai Lama aufrecht zu erhalten. Für die Öffentlichkeit war dieser Kniefall wie eine Show des geringen Selbstwertgefühls Indiens gegenüber China und es hatte den Anschein, als ob Peking wieder einmal mehr Indiens Politik bestimmt hat.
Wie ein Puffer zwischen diesen beiden Großmächten Asiens liegt der Nordosten Indiens, der von der Weltöffentlichkeit und selbst Indern kaum als Teil Indiens wahrgenommen wird, jedoch einer der brisantesten Punkte in der Außenpolitik beider Länder ist.
1913/14 unterzeichneten Vertreter der Britischen Kolonialadministration und der Tibetischen Administration einen Vertrag, der den eindeutigen Grenzverlauf zwischen beiden Ländern festlegen sollte. Die Grenze (McMahon Line) wurde mehr oder weniger auf die Gipfellinie des Himalaya gelegt und damit fielen Gebiete auf der Südseite des Gebirges, die kulturell und politisch zu Tibet gehörten und auch von dort regiert wurden, unter Britisch-Indische Hoheit. Obwohl eingeladen, lehnte China die Unterzeichnung des Vertrags ab und erkennt die Grenze bis heute nicht an. Mit der Besetzung Tibets stellte China Ansprüche auf diese Gebiete.
1962 fiel die Chinesische Armee in Arunachal Pradesh ein. Indien wurde von dieser Blitzaktion völlig überrascht und war darauf nicht vorbereitet. Der Grenzkrieg dauerte knapp zwei Monate. Der Indische Staat und auch die Bevölkerung haben diesen Vorfall kaum verarbeitet.
Chinas beharrlicher Anspruch auf Arunachal ist bis heute einer der konflikreichsten Punkte in der Außenpolitik beider Staaten. So verweigerte China unter anderem die Ausstellung von Visa für Inder, die aus Arunachal Pradesh stammen, da sie ja nach Chinesischer Sicht zu China gehören und daher auch kein Visum brauchen. Anfang des Jahres besuchte der Indische Ministerpräsident Manmohan Singh Arunachal. Die Chinesische Regierung protestierte gegen seinen Besuch im Distrikt Tawang, auf das China besondere Ansprüche erhebt und so wurde der Ort von der Programmliste gestrichen. Es vergeht ebenso kein Monat, indem nicht von Grenzübertritten der Chinesischen Armee in Arunachal berichtet wird. Doch die indische Regierung reagiert mit Zurückhaltung auf diese Zwischenfälle und es sind selten eindeutige oder vehemente Äußerungen aus Delhi zu hören.
Im mittleren Teil Arunachals, im Distrikt West Siang und ca. 20 km südlich der Grenze, liegt Mechukha. Das Tal ist Heimat von rund 3000 Memba, die einen tibetischen Dialekt sprechen und Anhänger der Nyingma Richtung, der ältesten Tradition im tibetischen Buddhismus, sind.
Vor rund 350 Jahren sind die Memba aus verschiedenen südlichen und südöstlichen Regionen Tibets in das Tal migriert. Anlass dafür waren, zumindest für eine Teil der Memba, politisch-religiöse Auseinandersetzungen zwischen der Nyingma und der Gelug Richtung in der Region um das Kloster Tawang, das in der Vergangenheit ein Stützpunkt der großen Gelug Klöster um Lhasa und damit der zentraltibetischen Regierung im südöstlichen Himalaya war. Historisch gesehen gehörte Mechukha bis zur Grenzziehung 1913/14 zu Tibet und wurde auch von dort regiert. Erst 1951, mit der ersten Expedition indischer Regierungsbeamter, wurden die Memba mit der Tatsache konfrontiert, dass sie nun indische Staatsbürger sind. Doch noch bis Mitte der fünfziger Jahre reisten sie mindestens zweimal im Jahr nach Zentraltibet. Diese Reisen waren eine Kombination aus Handelsaktivitäten, Steuerzahlungen und Pilgerfahrten, die 1962, nach dem Einfall der chinesischen Armee, völlig zum Erliegen kamen.
Drei Wochen vor meinem letzten Besuch in Mechukha begannen die Unruhen in Tibet und die weltweiten Proteste der Tibet Unterstützer und Exiltibeter. Mit Neugier bin ich nach Mechukha gefahren, um zu hören, was die Memba zu den Unruhen in Tibet zu sagen haben.
Auf meine Frage, ob er die Nachrichten aus Tibet gehört habe, antwortete Phala, der Vater der Familie, bei der ich wohnte: “Ach ja, da hat es Streiks gegeben.” “Was meinst Du mit Streiks?”, fragte ich. “Im Radio habe ich gehört, das Klöster zerstört, Mönche geschlagen und Autos und Motorräder gestohlen worden sind.” “Von wem gestohlen?”, fragte ich. “Von Chinesen und Tibetern. Die Chinesen sagen, dass alles vom Dalai Lama initiiert worden ist.”
Phalas Informationsquelle ist das Radioprogramm aus Lhasa, dessen Berichterstattung nicht unbedingt neutral ist und daraufhin fragte ich ihn, ob er das denn glauben würde, dass der Dalai Lama dazu aufgerufen hätte, woraufhin er antwortete: “Das glaube ich nicht. Niemals würde der Dalai Lama zu einem Streik aufrufen. Und wenn er das wirklich tun würde, dann hätte er es schon viel früher getan. Mehr kann ich dazu nicht sagen.”
Das war einer der ausführlicheren Dialoge zu diesem Thema. Zurückhaltung findet man in vielen Gesprächen, wenn es um die modernere Geschichte geht. Grund dafür ist einerseits, dass man sich seit jeher nicht wirklich als Teil Tibets betrachtet hat. Auf der südlichen Seite des Gebirges gelegen, war die Reise nach Tibet recht beschwerlich und der Austausch war eher einseitig geprägt. Bis auf einige wenige Spirituelle Meister oder Abgesandte der tibetischen Administration, bestand für Zentraltibeter kein Anlass nach Mechukha zu reisen. Aus ihrer Sicht waren diese südlichen Regionen und deren Bewohner kaum zugänglich, unterentwickelt und von geringer Bedeutung. Abgesehen von den jährlichen Steuerzahlungen, hatte man kaum Interesse an diesen Gebieten.
Andererseits besteht unter den Memba die Befürchtung, würde man sich als Teil Tibets betrachten und dies laut äußern, wie zum Beispiel durch Bekundung von Sympathie mit den Tibetern, die derzeit gegen die Unterdrückung durch China kämpfen, könnte dies zu internationalen Konflikten führen. Es würde China einen weiteren Grund liefern, ihre Gebietsansprüche zu verfestigen und ein offener Konflikt könnte erneut entbrennen, obwohl man, mit zum Teil neidischen Augen, auf die rasante Entwicklung in den angrenzenden Gebieten auf der anderen Seite schaut. Strassen sind bis an die Grenze gebaut und auch Telefonkommunikation reicht bis in die entlegensten Gebiete, und es hat den Anschein als würde die chinesische Regierung alles daran tun, die Grenzregionen an das Hauptland anzuschließen. Was weniger im Blickwinkel liegt, ist die Tatsache, das diese Modernisierungen nicht unbedingt für die Allgemeinheit bestimmt sind, sondern in erster Linie, um Chinas militärische Präsenz in der Region auszubauen. Es ist nicht so, dass der indische Staat seine Grenzregionen völlig außer Acht lässt, aber auch hier scheinen militärische Erwägungen für die Entwicklung Priorität zu haben. Dennoch ist man froh, heute zu Indien zu gehören, denn Indien ist ein demokratischer Staat und es gibt besondere Vergünstigen für die “scheduled tribal population” in den “backward regions”. Nur sollte Indiens Außenpolitik einen klareren Standpunkt beziehen, was diese umstrittenen Gebiete betrifft. Trotz großer militärischer Präsenz fühlt sich ein großer Teil der Bevölkerung im Stich gelassen und ein erneuter Einfall der chinesischen Armee geistert in den Köpfen vieler.
Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für Indien, einen deutlichen Standpunkt zum Tibetkonflikt zu beziehen, was sicher nicht nur die Bevölkerung in Arunachal, sondern auch in anderen Teilen Indiens begrüßen würden. Indien hat eine jahrtausende alte und so reiche und vielseitige Kultur, auf die es stolz sein kann. Mit ein wenig mehr Ausdruck von Selbstwertgefühl gegenüber China, auch wenn es in vieler Hinsicht bedrohlich zu sein scheint, würden sich Leute wie Phala eindeutiger mit dem indischen Staat identifizieren und er hätte vielleicht (öffentlich) mehr dazu zu sagen.
Kerstin Grothmann ist Mitarbeiterin am Zentralasienseminar der Humboldt Universität Berlin. Sie arbeitet zur Zeit in einem ethnographischen Projekt zu den Memba.
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