Mittelasiatische Schafe und russische Eisenbahnen: Raumgreifende eurasische Lammfell- und Fleischmärkte im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Wolfgang Holzwarth, Orientalisches Institut der Universität Halle

 

Illustrated London News

Illustrated London News

Das Titelblatt der Illustrated London News vom 10. September 1910 zeigt den Innenhof einer Karawanserai in Buchara. Einige Männer in Turbanen und Baumwollmänteln präsentieren einem tatarischen Aufkäufer schwarze Lammfelle der Schafrasse, die man damals in England unter dem Namen „Astrakhan“ – in Deutschland eher als „Persianer“ oder „Karakul“ – kannte. Die Illustrierte berichtete:

From Bukhara some million and a half astrakhan skins are sent each year to Europe and to America, and during the buying season such scenes as this, which shows a buyer engaged by Messrs. Révillon Frères purchasing skins, are common in the market-place. The lambs whose skins are known as astrakhan are specially bred for the purpose and some flocks contain as many as 5000 heads. The skins are roughly dressed before being exported. Experiments have been made in the breeding of lambs for astrakhan in various parts of Asia and Europe, but it is claimed that Bukhara alone provides the best lambs for the purpose.”

Die Geschichte hinter dieser Zeitungsmeldung ist eine der facettenreichen kolonialen Durchdringung der Lebenswelten mittelasiatischer Nomaden, die ein Forschungsprojekt am Orientalischen Institut der Universität Halle untersuchte.

Europa braucht Persianer-Lammfelle und Buchara liefert

Schon seit Langem exportierte Buchara fein gelockte Lammfelle nach Russland und Persien, wo sie vorwiegend zur Herstellung von Mützen und zur Unterfütterung von Mänteln benutzt wurden. Astrakhan hießen diese Lammfelle in Europa, weil sie einst fast ausschließlich über die gleichnamige russische Stadt am Nordufer des Kaspischen Meeres in das Russische Reich gelangten. Von dort machte sich jährlich im Oktober eine Karawane auf den monatelangen beschwerlichen und gefährlichen Weg nach Chiwa und Buchara auf. Auf Informationen der „Reste der letzten Karawane“ stützt sich ein 1730 in Moskau erstellter Bericht. Demnach zählten Lammfelle schon damals zu den in Russland am stärksten nachgefragten Waren aus Buchara. Ein englischer Graf, der 1764 seinem „schwarzen, mit astrakhan unterfütterten Seidenmantel“ erwähnt, liefert uns den frühesten Hinweis auf die Verbreitung dieses Statussymbols in Westeuropa.

das kleinwüchsige Karakul-Schaf, wenig Fleisch, wenig Fettsteiß aber begehrtes Fell

Das kleinwüchsige Karakul-Schaf, wenig Fleisch, wenig Fettsteiß aber begehrtes Fell

Im 19. Jahrhundert ließen dann drei Faktoren die Lammfell-Exporte aus Buchara Richtung sprunghaft ansteigen.

Erstens stieg die westeuropäische Nachfrage im Zusammenhang mit der im 19. Jahrhundert kreierten Persianermode. Ein Meilenstein auf dieser Entwicklung ist die Londoner Pelzmesse von 1851, auf der ein stattliches Persianer-Angebot anzeigt, dass diese Lammfelle dabei waren, Eingang in den weltweiten Pelzhandel zu finden. Ein weiterer Schub erfolgte 1885, als man in Paris eine Persianerjacke vorführte, die der neuen Pelzmode entsprechend mit der Fellseite nach außen getragen wurde. In dem Maße, in dem die Persianermode immer breitere Schichten erfasste, zog die Nachfrage stetig an.

Zweitens erlebte Buchara, das noch um 1860 für Russen fast so unerreichbar wie Lhasa war, eine gewaltsame wirtschaftliche Öffnung als es unter, wenn auch indirekte, russische Kolonialherrschaft kam. Nach militärischen Niederlagen und Gebietsabtretungen wurde Rest-Buchara 1868 ein Protektorat des Zarenreiches und sein Gebiet auf Druck der neuen Vormacht für Händler russischer Staatsangehörigkeit geöffnet, die sich in kolonialen Vorstädten niederließen.

Drittens forcierte das Zarenreich die Anbindung des Protektorats Buchara an das russische Schienen- und Telegrafennetz. Als die transkaspische Eisenbahnlinie 1888 Buchara-Neustadt erreichte, wurde der Personen- und Güterverkehr zwischen Buchara und Russland billiger und bequemer als im herkömmlichen Karawanenverkehr. Zunehmend fanden sich nun westeuropäische Kaufleute in Buchara ein, darunter auch Vertreter von Firmen aus Leipzig, das sich im 19. Jahrhundert zur Pelzhauptstadt Europas entwickelte.

Saisonale Wanderwege von mobilen Viehzüchtern und die Eisenbahn in Zentralasien (die Breite der Routen symbolisiert die Zahl der Herdentiere)

Auswirkungen des Karakul-Booms

Nicht jedes in Buchara gezüchtete Schaf lieferte die auf dem Weltmarkt nachgefragten Persianer-Lammfelle, sondern nur die im Land selbst „arabisch“ (ʿarabī) genannte Rasse, ein kleines Wollschaf, dessen Zucht traditionell eine Domäne der mittelasiatischen Araber war.

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Mobile Behausungen und Transport Tiere der Araber in Buchara

Es handelt sich um eine relativ kleine ethnische Gruppe, die als Nachkommen frühislamischer arabischer Eroberer galt und zum Teil noch Arabisch sprach, und die wir hier – wie in Buchara selbst – ʿArab nennen wollen. Nicht alle ʿArab waren Viehzüchter; einige betrieben Bewässerungs-Landwirtschaft, andere waren Handwerker oder Händler. In der Stadt Buchara ansässige ʿArab beschäftigten sich mit Lammfellhandel und -Verarbeitung oder sie waren Schafhändler und -Makler. 1820 schätzte ein Gesandter des Zaren die bucharischen ʿArab auf insgesamt 50.000 Personen. Ihre Siedlungen und Streifgebiete lagen damals vorwiegend im trockenheißen Westen und Süden Bucharas, dessen Sandwüsten und Sandsteppen ganzjährig Futter, wenn auch bei äußerst spärlicher Pflanzendichte, für genügsame Weidetiere bereithielten. Das „arabische“ Schaf gedeiht gut an diesen heißen, trockenen und salzigen Standorten, und verträgt das aus den Ziehbrunnen geschöpfte, oftmals stark salzhaltige Wasser. Die „arabischen“ Schafherden und Schäfer hielten sich ganzjährig in ein und derselben ökologischen Zone auf und zogen dort in relativ kleinräumigen Bewegungen von Brunnen zu Brunnen. Feste Wanderrouten sind in diesem Typ des nahezu „stationären“ Nomadismus (Wolfgang König), bei dem die Hirten und ihre Familien jährlich kaum mehr als 50–80 km zurücklegen, nicht auszumachen. Das Schreiben eines bucharischen Herrschers belegt immerhin, dass ʿArab um 1800 auf ihren jährlichen Wanderungen die Grenze zwischen den Gebieten der Städte Qarshi und Buchara passierten. Ein Kerngebiet dieser Form der Schafzucht war der südwestlich der Stadt Buchara liegende Bezirk Karakul, dem das „arabische“ Schaf seine heute bekanntere Bezeichnung verdankt.

Von der Nische zur Monokultur

Die monokulturartige Ausrichtung der Schafzucht des russischen Protektorats Buchara auf den Persianer-Markt konnte nicht ohne Auswirkungen auf das Ensemble der weidewirtschaftlichen Nutzungsformen bleiben. Das Anwachsen der Karakul-Schafherden von etwa 400.000 (1833) auf zwei Millionen (1912), das wir grob aus den Jahresexportziffern ableiten können, war nicht möglich, ohne dass die Zucht der „arabischen“ Schafe über ihre angestammte ökologischen Nische ausgegriffen hätte. Sie wurde in Steppenareale verpflanzt, auf denen auch die etwas anspruchsvolleren Fettschwanzschafe geweidet und getränkt werden können, wie etwa in die sogenannte „Mittelsteppe“ (Orta-Chul) südöstlich der Stadt Buchara, die einem ungarischen Reisenden (im Sommer 1863) eher als eine mittlere Wiese erscheinen wollte, denn als eine der Sandwüsten, die er im Westen von Buchara durchquert hatte. Diese Mittelsteppe war bereits um 1880 ganz von Karakul-Schafen besetzt. Seit 1890 begann sich die Karakul-Schafzucht noch weiter auszudehnen, hinein in die Berg-Gebiete Ost-Bucharas und des russisch verwalteten Bezirks Samarkand.

Die Karakul-Schafzucht hatte sich also weit über ihre alte Heimat hinaus ausgebreitet. Ähnlich breitete sie sich in der Gesellschaft aus. Zu den ʿArab, die seit alters auf diesen Wirtschaftszweig spezialisiert waren, gesellten sich neue ethnische und soziale Gruppen, die am lukrativen Karakul-Boom teilhaben wollten. Etwa die Turkmenen, die im Bezirk Karakul und am Ufer des Amu-Darya in unmittelbarer Nachbarschaft zu den ʿArab lebten. Eine Gruppe von Ersari-Turkmenen war es auch, die um 1895 die Karakul-Schafzucht in Ost-Buchara einführte. Daneben traten zunehmend auch Karakul-Züchter, deren ethnische Zuordnung unbestimmt oder vage ist. Reiche Städter ohne jeglichen nomadischen Hintergrund kauften Schafe, erwarben Weiderechte und engagierten Lohnhirten, um ihre oftmals riesigen Herden zu beaufsichtigen. Am unteren Ende der sozialen Skala stehen arme Bauern, die sich einige Karakul-Schafe zulegten, um durch den Verkauf der Lammfelle zu etwas Geld zu kommen.

Fleischmärkte, Viehhandelswege und Thünen’sche Ringe

Das allgemeine Karakul-Fieber ist nur ein Aspekt der Eingliederung der mittelasiatischen Viehwirtschaft in ein europa-zentriertes Marktsystem. Ein zweiter Aspekt ist die Herausbildung eines eurasischen Fleischmarkts, der sich ebenfalls mit dem russischen Schienennetz räumlich ausdehnte.

Zum einen wurden die Fleischvieh-Überschüsse der kasachischen Nomaden durch den russischen Fleischmarkt angezapft, als die Eisenbahnlinie 1877 die russische Stadt Orenburg in Süd-Sibirien, einen wichtigen nördlichen Handelsplatz der Kasachen erreichte. Hatten die Kasachen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch jährlich 100.000 Fettschwanzschafe nach Süden, auf die Fleischmärkte von Buchara verkauft, so kehrte sich nun die Richtung des Viehhandels um. Schafe als Schlachtvieh wurden nun von Süden nach Norden verkauft. Städte am Sir-Darya, die den kasachischen Weidegebieten näher als Buchara lagen, wurden aus bzw. über Buchara mit Lebendvieh versorgt. Mit dem Schienenanschluss von Buchara (1888), Samarkand und Taschkent (1905) gingen auch Schaftransporte aus Mittelasien bis in das europäische Russland.

Die Eisenbahn erreicht Samarkand 1888

Die Eisenbahn erreicht Samarkand 1888

Zum andern wollte auch das russische Militär- und Verwaltungspersonal von Turkestan, die russischen Pionier- und Händlergemeinden in den kolonialen Neustädten mit Fleisch versorgt werden.

Zugleich hatten aber der Karakul- und der Baumwoll-Boom auf unterschiedlichen Wegen dazu beigetragen, dass das für die Fleischproduktion (Fettschwanzschafe) weidewirtschaftlich nutzbare Areal in Buchara so stark schrumpfte, dass dieses kaum seinen eigenen Bedarf decken konnte.

Die Auswirkungen dieser Konstellation sind seit etwa 1880 in zunehmenden Schafimporten aus Nord-Afghanistan nach Buchara zu beobachten. Regionen aus denen Fleischviehüberschüsse aus extensiver Weidewirtschaft (des „vertikalen“ Typs) bis anhin nach Süd-Afghanistan, in den Raum Kabul, gegangen waren, verkauften nun ihre Fettschwanzschafe Richtung Buchara und Samarkand, wo die Schafpreise stark angestiegen waren. Der Amir von Afghanistan versuchte, im Interesse seiner Residenzstadt Kabul, sich dieser Entwicklung mit allen möglichen Mitteln entgegenzustemmen: mit Versuchen, den Schafhandel zu monopolisieren, ihn durch steigende Exportzölle zu drosseln, und schließlich auch ganz zu verbieten. Um 1900 patrouillierten afghanische Soldaten an der afghanisch-bucharischen Grenze, die den Befehl hatten, scharf auf Schafschmuggler zu schießen, und die gelegentlich auch Kabul von Erfolgen in solchen Scharmützeln unterrichteten.

Den Bemühungen Kabuls stand die Kaufkraft der Händler aus Buchara und Samarkand gegenüber, die in Profit-Partnerschaften mit usbekischen Schäfern jährlich Hunderttausende von Schafen aus Nord-Afghanistan schleusten. Aus heutiger Sicht erscheinen die damaligen Tauschrelationen unglaublich. Ein Schaf wurde um 1890 in der Nordostprovinz Afghanistans gegen den Wert von eineinhalb Kilo russischer Zuckerraffinade getauscht.

Märkte entfalten, indem sie Warenströme lenken und umlenken, offenbar Kräfte, die großräumige Beziehungs- und Ordnungsmuster prägen. Der Wirtschaftsgeograph von Thünen entwickelte ein Modell, das die Ausrichtung des Um- und Hinterlandes auf die Versorgung von Großstädten wie London und Paris schematisch erfassen sollte. Wesentliche Variablen sind dabei die mit Stadtnähe steigenden Boden- und Produktionskosten sowie die mit der Entfernung steigenden Transportkosten. Eine Serie konzentrischer Kreise umgibt in diesem Modell die Stadt und übernimmt jeweils spezifische Versorgungsfunktionen. Während die Zone der Gemüseversorgung relativ nahe liegt, sind die am Viehhandel beteiligten Zonen, insbesondere die Zonen der extensiven Viehwirtschaft, am weitesten abgelegen. Das Wachstum der Städte bewirkte, wie Fernand Braudel zeigt, dass Venedig bereits im 15. Jahrhundert das benötigte Schlachtvieh (Rinder) in Ungarn aufkaufen musste, und Istanbul im 16. Jahrhundert die Schafherden des Balkans verzehrte. Solange das Schlachtvieh nicht verladen werden konnte, mussten seine Marschleistung und die Futterkosten auf dem Weg zu den Fleischmärkten die Entfernung der viehwirtschaftlichen Zone zum Konsumenten-Zentrum begrenzen. Die neuen Bahntrassen erlaubten es nun, wohl kaum vorab geplant, Lebendvieh aus immer weiter entfernten Gegenden zur Versorgung der Städte heranzuziehen.

Es wird sich kaum nachweisen lassen, dass ein am Hindukusch gezüchtetes Schaf um 1900 nach hunderten von Kilometern Viehtrieb und tausenden von Kilometern Bahnfahrt in einem Moskauer, Warschauer oder Berliner Fleischtopf landete. Klar ist aber, ist dass ein transkontinentales Fleischpreisgefälle, Schlachtvieh wie in einem großen Saugrüssel in eben diese Richtung aus Mittelasien abzog. Jeder einzelne Abschnitt der langen Strecke ist gut belegt: die Viehtriebe aus Nord-Afghanistan nach Buchara und Samarkand, die Lebendviehtransporte aus Buchara und Taschkent nach Orenburg und ins europäische Russland, und schließlich auch die Viehtransporte aus Russland nach West-Europa, die um 1890 an dritter Stelle der russischen Ausfuhren nach Westen standen. West-Europa, der Endpunkt der neuen Viehhandelsrouten, glich somit der Großstadt in Thünen’s noch auf Nationalökonomien zugeschnittenem Modell. Diesem Wirtschaftszentrum ordneten sich um 1900, vermittelt über Russland, letztlich auch Mittelasien und Nord-Afghanistan als viehwirtschaftliche Versorgungszonen zu.

Überarbeitete und gekürzte Fassung des gleichnamigen Beitrags in J. Gertel, & S. Calkins (Eds.), Nomaden in unserer Welt: die Vorreiter der Globalisierung; von Mobilität und Handel, Herrschaft und Widerstand (S.88-97). Bielefeld: transcript 2004. Mit freundlicher Genehmigung des Autoren.

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