Mordekhai Bachaev – “1918”

[inspic=323,,,0] Im März 2009 jährt sich zum zweiten Mal der Tod des herausragenden bucharisch jüdischen Literaten, Publizisten und Intellektuellen Mordekhai Bachaev, auch bekannt unter dem Pseudonym Muhib (“der Freund“). Thomas Loy arbeitet an einer Übersetzung seiner Memoiren Dar Juvol-i Sangin (“Im steinernen Sack“) und stellt im Folgenden einen kurzen Ausschnitt daraus vor. Die Memoiren bestehen aus zwei Bänden. Band 1 behandelt die Jahre 1918 bis 1938 und beschreibt mittels Rückblenden und oralen Traditionen auch das vorsowjetische Leben der bucharischen Juden. Der zweite Band beginnt mit der Verhaftung des jungen Intellektuellen und handelt von den Jahren seiner Gefangenschaft in Taschkent und nach seiner Verurteilung in einem Lager im Ural 1938-1945.

kokandteehaus.jpgDas hier vorgestellte Kapitel fasst kurz die Ereignisse und Erlebnisse der Familie Bachaev in der Stadt Kokand im Jahr 1918 zusammen. Mordekhai war zu diesem Zeitpunkt gerade sechs Jahre alt. Sein Vater war knapp zwei Jahre zuvor mit seiner Familie aus Marv in das administrative Zentrum der Provinz “Ferghana” gezogen. Das Ferghanatal ist nach der Russischen Eroberung in den späten 1860er Jahren zum führenden Baumwollproduzenten für die zarische Textilindustrie ausgebaut worden und war auch Mitte der 1910er Jahre noch eine attraktive Boomregion. Einige der im Ferghanatal ansässigen bucharisch Jüdischen Familien (etwa die Vaid’iaev Brüder, die Simkhaevs, die Poteliakhovs und die Davidovs) gehörten zu den wohlhabendsten und umsatzstärksten Unternehmern des Russischen Reichs.

Nach der Oktoberrevolution und der Machtübernahme des Bolschewiken in der Provinz Ferghana gab es von lokalen Muslimischen, Christlichen und Jüdischen Politikern und Unternehmern einen gemeinsamen Versuch auf dem Gebiet des ehemaligen Khanats von Kokand einen eigenständigen Staat zu gründen. Noch Ende November 1917 wurde die Autonomie von Kokand ins Leben gerufen. In Moskau wurde die Kokander Autonomie nicht anerkannt und so wurde von den Autonomisten die Seperation von Russland angestrebt. Erst Anfang Februar des darauffolgenden Jahres gelang es den Muslimischen Kämpfern um Irgash die Kokander Altstadt unter Kontrolle zu bringen, ohne jedoch die Russische Garnison mit den in ihr verbliebenen Russischen Soldaten einnehmen zu können. Doch bereits am 6/7 Februar schlugen Rote Armeetruppen und Armenische Einheiten, die aus anderen Städten der Region herangezogen worden waren, den “Aufstand der Muslime” nieder. Dabei kamen sehr viele Menschen, Kämpfer wie Zivilisten ums Leben. Damit war nach nicht einmal drei Monaten im Februar 1918 das Unterfangen einen unabhängigen Staat in Zentralasien zu gründen gescheitert.

M. H. Bachaev
Das Jahr 1918

(Auszug aus: M. H. Bachaev, Dar Juvol-i Sangin (“Im steinernen Sack“), Bd. 1, Jerusalem 1988, S. 11-16. Nachdruck der Erstausgabe in Muhib: Kulliyot, Bd. III, Jerusalem: Tsur-Ot, 2006)

Mitten durch die Stadt Kokand zog sich ein breites Flussbett, in dem meist wenig Wasser floss. Dieses Flussbett bildete eine Art natürliche Grenze zwischen den zwei Teilen der Stadt. Es trennte die Altstadt von der Neustadt. Es trennte “Muslimobod” von “Russobod”. Auf dem Hochufer dieses Flusses, auf der “Russoboder” Seite, stand eine große Militärfestung, errichtet von den Russen, nachdem diese die Stadt eingenommen hatten. Hinter dieser Festung begannen die Straßen der Neustadt, die sehr belebt, von Bäumen gesäumt, sauber und hübsch anzusehen waren.
In einer dieser Straßen, in der Alferovgasse, nicht weit entfernt von der Festung, hatten mein Vater und meine älteren Brüder eineinhalb Jahre zuvor den großen Hof eines Russen erworben. Auf der einen Hälfte des Hofes standen zwei Reihen mit hoch aufragenden Häusern im europäischen Stil. Die andere Hälfte war bepflanzt mit einer Vielzahl an Obstbäumen und Weinreben, die auf Spalier gezogen waren. In den kleinen Gräben, die über den Hof liefen, floss plätschernd kaltes, klares Wasser. Und wenn jemand durch das kleine Türchen im Tor den Hof betrat, wähnte er sich im Garten Iram.
Eines Tages, kurz nachdem wir in diesen Hof eingezogen waren, brachte mich mein Vater zusammen mit meiner Schwester Brucho, die vier Jahre älter war als ich, in die Schule von Hochom Perets[1]. Ich war sechs Jahre alt. Der Unterricht in dieser Schule war bereits nach europäischem Vorbild auf die neue Methode umgestellt. Die Schüler saßen an Tischen. Ihnen gegenüber an der Wand hing eine schwarze Tafel, auf die der Lehrer mit Kreide Zahlen, Buchstaben und Wörter schrieb. In diesem Raum hatten wir jeden Nachmittag Russischunterricht. An den Vormittagen jedoch besuchte ich die Heder von Mullah Abo-i Dschonak und las die Thora.
Mein Vater und meine beiden älteren Brüder, Jano und Hizkijo, hatten mit ihrer Maschinennäherei in Marv einen [größeren] Geldbetrag zusammengespart. Den einen Teil dieses Geldes gaben sie aus für den Hofkauf in Kokand und für die Hochzeit von Hizkijo. Den anderen Teil steckten sie in die Eröffnung eines kleinen Verkaufstandes für Stoffe. Unser Leben machte große Fortschritte. Zudem waren innerhalb dieser gut eineinhalb Jahre in unsrer Familie drei Kinder zur Welt gekommen: Jahudo, mein kleiner Bruder, Siporo, die Tochter meines Bruders Jano und Avrohom, der Sohn von Hizkijo.
Aber all diese Freuden, die Ruhe und der Erfolg hielten nur kurze Zeit: In Kokand kamen die Bolschewiki an die Macht, und es dauerte nicht lang und die Muslime zettelten einen Aufstand gegen die Russen an. Soweit ich das, was in jenen Tagen und Nächten zwischen den Erwachsenen Familienmitgliedern geredet wurde mitbekam, hatten die Muslime die Absicht, die Russen und Armenier aus Kokand zu vertreiben und für sich eine Autonomie zu errichten.
Im Laufe dieser Unruhen wurden viele bucharische Juden, besonders jene, die in der Altstadt lebten, schwer in Mitleidenschaft gezogen. Ihre Häuser wurden von marodierenden Gruppierungen der Russen und Armenier heimgesucht und geplündert. Die Bewohner wurden von ihnen umgebracht. Aber auch Banden der Muslime, die den heiligen Krieg ausgerufen hatten, brachten Juden um.
Da unser Hof etwas weiter vom Stadtzentrum entfernt lag und durchaus die Gefahr bestand, von den Plünderern angegriffen zu werden, wurde von den Familienältesten gemeinsam der Entschluss gefasst, die Frauen und Kinder ins Gehöft meines Onkels mütterlicherseits, Jakub Samandarov, zu bringen und sie dort einzuquartieren. In unserem Gehöft blieben nur drei Männer zurück: Mein Vater und meine beiden älteren Brüder.
Neben unserem war der Hof eines reichen Muslims der ein sehr gutes Verhältnis zu uns hatte. Dieser beruhigte meinen Vater und bot ihm an, dass wenn Plünderer in unseren Hof eindringen sollten, sie einfach über die Mauer springen und in seinen Hof kommen könnten. Und tatsächlich, am Morgen des nächsten Tages schlugen bewaffnete Plünderer mit Gewehrkolben an unser Tor und riefen: “He, verfluchter Jude, mach sofort das Tor auf!” Unsere Männer gaben keinen Laut von sich und verschwanden schnell in den Hof des Nachbarn. Von dort aus beobachteten sie durch einen Riss in der Lehmmauer kauernd die Schandtaten der Plünderer.
Die Diebesbande, bestehend aus etwa sieben Personen, schlug das kleine Eingangstürchen des großen Hoftores ein und verteilte sich im Nu über den gesamten Hof. Diejenigen Haustüren, die sie verschlossen vorfanden, brachen sie mit ihren Gewehrkolben gewaltsam auf. In den Zimmern durchwühlten sie alle Kisten und Schränke und verteilten und hinterließen dabei ein ungeheures Durcheinander. Die wertvollen Gegenstände packten sie in einigen Bündeln zusammen. Wenn Kissen auf den Betten lagen schlitzten sie diese mit ihren Bajonetten auf und verstreuten die Federn in allen Räumen. Aus den Ställen zogen sie zwei gemästete Schafe und ein paar Enten und Hühner heraus. Schließlich packten sie alles, was sie zusammengeräumt hatten, auf einen Wagen und machten sich aus dem Staub.
In der gleichen Nacht suchte auch ein großer Trupp Plünderer den Hof meines Onkels heim. Sie brüllten “Nehmt eure Hände hoch!” und pferchten Frauen und Kinder, eines davon war ich, in einen Raum und die Männer in einen anderen. Dann begannen sie mit ihrer Durchsuchung. Zum Glück gelang es Zulajcho, der Braut meines Onkels, in dem Moment als sie die Plünderer hereinkommen sah, unbemerkt unter einer Stelle in der Wand auf die Straße zu entkommen. Sie rannte zu den Stadtwächtern, um diese um Hilfe zu bitten. Noch ehe die Diebe ihre Schandtaten zu Ende bringen konnten, wurden sie durch einen Pfiff gewarnt. Als sie dieses Signal hörten, wurden sie ungeduldig, ließen alles stehen und liegen und ergriffen die Flucht. Erst nachdem sie weg waren stellte sich heraus, dass auf die Forderung der Braut unseres Onkels eine berittene Einheit der Stadtwächter anrückte und unseren Hof umstellt hatte. Der Komplize der Plünderer, der draußen Schmiere gestanden und sie mit seinem Pfiff gewarnt hatte, wurde festgenommen. Wir alle, Erwachsene wie Kinder, waren sehr stolz auf Zulajcho, und dankbar, dass wir durch ihre Aufmerksamkeit und Unerschrockenheit so glimpflich davongekommen waren.
Zur gleichen Zeit spitzte sich der Aufstand der Muslime immer mehr zu. Aus den Dörfern rund um die Stadt sammelten sich immer mehr Muslime zum Heiligen Krieg. Ihre wirksamsten Waffen waren Jagdbüchsen und Pistolen. Sie brachten Kokander Karren herbei, die mit Baumwollballen beladen waren und fuhren diese nahe an das Flussufer heran. Aus dieser Deckung heraus eröffneten sie das Feuer auf die Festung.
Aber wie schon das Sprichwort sagt, “Ein Schlag mit einer Eisenstange bringt mehr als hundert Nadelstiche.” Zur Unterstützung der russischen Soldaten, die sich in der Festung verschanzt hatten, rückte aus der Stadt Ferghana massiv Nachschub an Waffen und neuen Soldaten an. Mit einem Mal gingen die Russen zum Angriff über und überzogen die Muslime mit einem Kugelhagel aus Kanonen und Maschinengewehren. Und als die Aufständischen die Flucht ergriffen, folgten ihnen die berittenen russischen Einheiten mit “Hurra” und machten ihnen den Garaus. Diejenigen, die diesen Angriff überlebten, wurden in alle Richtungen zerstreut und tauchten unter.
Infolge des Einsatzes der Kanonen kam es in der Stadt zu vielen Bränden. Besonders in der Altstadt brannte es tagelang und viele Höfe und Häuser wurden vom Feuer hinweggefegt. Die Flammen dieser Brände schlugen so hoch, dass die Erwachsenen es von unserem Hof aus über den Mauern lodern sehen konnten. Damit auch ich sie zu Gesicht bekommen konnte, fasste mich meine ältere Schwester Bulur, die ein tadelloses und besonders hübsches Mädchen war, einmal unter meinen Armen und hob mich hoch. Als ich dann die bedrohliche Feuersbrunst mit eigenen Augen sah, ergriff mich die Furcht, dass diese auch unsere Straße erreichen und unser Haus verschlingen könnten. Meine Schwester bemerkte meine Unruhe und sagte: “Herz deiner Schwester, hab keine Angst, zwischen uns und dem Feuer liegt noch der Fluss. Die Flammen werden unser Haus nicht erreichen.”
Durch die Kämpfe und die Brände verloren viele Leute, darunter auch dutzende bucharisch jüdische Familien ihr Dach über dem Kopf und alles Hab und Gut. Die winterliche Kälte verschlimmerte zudem noch ihr Leid. Eines Tages kam der Cousin meines Vaters, Michael Putschaev, zu uns nach Hause. Sein Hof lag auf der Muslimoboder Seite. Nachdem sich die Lage etwas beruhigt hatte, war er dorthin gegangen um nach dem Rechten zu sehen. Als er zu seinem Hof kam, sah er, dass alle Holzhäuser niedergebrannt waren und sich in einen Haufen Asche verwandelt hatten. “Lieber Onkel” wandte er sich an meinen Vater, “ich bin obdachlos geworden und alles was ich je besaß ist zerstört. Die einzige Hoffnung die mir noch bleibt, sind die paar Goldmünzen, die ich in zwei Schälchen unter unserem Haus vergraben habe. Sollten diese beiden Schälchen noch auffindbar sein, dann wird das Geld darin meine Schmerzen lindern. Andernfalls bin ich auf einen Schlag übler dran als jeder Bettler.
Mein Vater versuchte ihn zu trösten und sagte: “Gräm dich nicht zu sehr, mein Neffe! Dieses Unglück ist über sehr viele hereingebrochen. Du bist wenigstens körperlich unversehrt. Dafür sag Dank! Jetzt werde ich dich mit zwei meiner Söhne begleiten, um diese beiden Schalen zu suchen. So Gott will wird sich dein Geld schon wieder finden.”
Als mein Vater und meine Brüder mit Hacke und Spaten zum abgebrannten Hof von Putschaev aufbrachen, habe ich gebettelt, sie mögen mich doch bitte mitnehmen. Wir mussten eine Weile gehen, bis wir auf die andere Seite des Flusses gelangten. Vor uns tauchten eine Menge ausgebrannter und zerstörter Gebäude auf. Dann erreichten wir das Gehöft von Putschaev. Es war tatsächlich nur noch ein Haufen Schutt und Asche davon übrig. An einigen Stellen ragten daraus die verkohlten Reste von Ständern, Trägern und Balken, die aussahen wie ein brüchiges Gerippe.
Der Hausherr ging einen Augenblick in sich, schaute sich das Chaos genau an und zeigte dann meinem Vater und meinen Brüdern zwei Stellen, an denen sie mit dem Graben beginnen sollten. Die vier Männer machten sich mit Hacken und Spaten ans Werk und schaufelten die Asche und die Mauerreste zur Seite. Mit jeder Schaufel Dreck und Asche kamen auch Reste von halbverbrannten Gegenständen zum Vorschein. Decken, Matratzen, Teppiche und die Scherben des Porzellangeschirrs. Schließlich erreichten sie den Fußboden. Der Hausherr selbst grub unter dem Fundament weiter und barg nacheinander die beiden Schüsseln. Schnell öffnete er die Deckel und fand das Gold unversehrt vor. Freudentränen traten ihm in die Augen und mit brüchiger Stimme sagte er “Dank sei Gott, jetzt bleibt mir das Betteln erspart.”
Durch die Plündererbanden und die Kugeln der Soldaten beider Seiten waren viele Bewohner der Altstadt ums Leben gekommen oder blieben vermisst. Unter den Opfern waren allein 85 bucharische Juden. Einer von ihnen war der Kantor der Kokander Synagoge, Mullo Abo-i Dschonak, mein Lehrer. Aus allen Stadtvierteln trug die jüdische Gemeinde Kokands die Leichname der Getöteten, die sie unter den abgebrannten und zerstörten Häusern fanden, in der Vadiyaev-Synagoge zusammen. Von dort aus wurden immer fünf von ihnen weggebracht und bestattet. Um Brot zu backen und Mahlzeiten zuzubereiten, errichtete man im Hof der Synagoge Backöfen und Kochstellen und teilte die Speisen dann an die Leidtragenden und Mittellosen aus.
Sehr schnell verbreitete sich die schlechte Nachricht von Tod und Zerstörung unter der Kokander Bevölkerung in allen anderen von Juden bewohnten Städten Turkestans. Die Leiter der jüdischen Gemeinde in Samarkand stellten sofort einige Personen ab und schickten sie zusammen mit Lebensmitteln und großen Mengen an Kleidung mit dem Zug nach Kokand, um die dort ansässigen Juden zu unterstützen. Diese Gesandten blieben einige Tage vor Ort und verteilten die mitgebrachten Sachen unter der Bevölkerung. Durch ihr Anraten und mit ihrer Hilfe wurden einige der ausgeplünderten Juden dazu gebracht, Kokand zu verlassen und kamen mit dem Zug nach Samarkand. Auch unsere Familie war eine von denen, die auf diese Weise im Jahr 1918 aus Kokand nach Samarkand flohen.

Ein herzliches Dankeschön gebührt an dieser Stelle auch Wladimir und Caro, den beiden tapferen Teilnehmern des Tadschikischkurses, der sich zu Übungszwecken im WS 2008/2009 am Zentralasienseminar der Humboldt-Universität zu Berlin mit diesem Text herumschlagen durfte.


[1] Dem Namen und Unterrichtsprogramm nach zu urteilen war Rabbi Perets [Pfeffer] ein osteuropäischer Jude.

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