Muhib (1911-2007)

(Zum ersten Todestag eines großen bucharisch-jüdischen Schriftstellers von Thomas Loy)

1927 betrat ein 16 jähriger Junge die Redaktion der seit kurzem in Samarkand erscheinenden Bucharisch Jüdischen Wochenzeitschrift Rushnoi (Licht / Erleuchtung). In der Hand hielt er seine ersten selbstverfassten Gedichte. Der verantwortliche Redakteur hieß Mordekhai ben Hijo Bachaev willkommen und versprach, die Ghazelen in einer der nächsten Ausgaben der Zeitung abzudrucken. Ein Jahr später war der junge Bachaev festes Redaktionsmitglied und veröffentlichte bereits regelmäßig unter dem, aus den Anfangsbuchstaben seines Namens gebildeten Pseudonym Muhib (Der Freund). Es war der Beginn einer viel versprechenden Karriere als sowjetischer Intellektueller.

[inspic=322,,,300] Die sowjetische Nationalitätenpolitik der 1920er und frühen 1930er Jahre brachte enormen Aufwind für die kulturellen Aktivitäten der bucharischen Juden. Ab Mitte der 1920er Jahre wurden in großer Zahl Bücher und Zeitungen in bucharisch-jüdischer Sprache (d.h. in der von den Juden in Zentralasien gesprochenen und geschriebenen Variante des Persischen) aufgelegt, zuerst mit dem Hebräischen Alphabet und ab 1930 ausschließlich in Lateinschrift. Bachaev war an diesen Prozessen unmittelbar beteiligt. 1930 folgte er der Redaktion, der mittlerweile in Bairoqi Mehnat (Banner der Arbeit) umbenannten und täglich erscheinenden bucharisch-jüdischen Zeitung aus Samarkand nach Taschkent, in die neue Hauptstadt der Usbekischen SSR. Wie für andere so genannte “Nationalitäten” waren auch für die Bucharischen Juden eigene Schulen, höhere Bildungseinrichtungen, Klubs, Theater und andere Institutionen zur Förderung sowjetischer Bildung, Ideologie und Programmatik eingerichtet worden. Jedoch gab es auch massiven Widerstand gegen die sowjetische “Aufbauhilfe”. Vor allem nach dem Ende der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) verließen bis zu 4000 Bucharische Juden (~10% der gesamten Gruppe) illegal die Sowjetunion und versuchten über Afghanistan und Iran nach Palästina zu gelangen. Dort gab es in Jerusalem bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine bucharisch-jüdische Gemeinde.

Die Zweifel am sowjetischen Modell sollten sich schnell bewahrheiten. Die Blüte der bucharisch-jüdischen Kultur in der UdSSR war nur von kurzer Dauer. Ende der 1930er Jahre stoppte Moskau das multikulturelle Experiment der möglichst breit angelegten Ausdifferenzierung einer neuen sowjetischen Zivilisation und stellte die staatlich gestützte Schaffung und Förderung “nationaler Minderheiten” ein. Zwischen 1938 und 1940 schlossen die sowjetischen Autoritäten alle kulturellen Institutionen der Bucharischen Juden und die bucharisch-jüdische Schriftsprache verschwand offiziell in der Sowjetunion. Die damit einhergehenden massenhaften politischen Verfolgungen und Verhaftungen besiegelten damit das Ende der bucharisch-jüdischen kulturellen Produktion in Zentralasien.

Auch Mordekhai Bachaev geriet in die Mühlen des Großen Terrors. “Die Bolschewiki haben das Sowjetische Volk ‘zugeschnitten’, dazu gehörten auch die Bucharischen Juden, eine relativ kleine nationale Minderheit, von denen 300 – 400 aus dem System entfernt wurden, vor allem Lehrer, Journalisten und Intellektuelle. 1938 war dann auch ich an der Reihe”, erzählte mir Bachaev 2006 bei einem unserer letzten Gespräche.

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Jetzt, knapp 60 Jahre nach den Verfolgungen und dem Ende der öffentlichen bucharisch-jüdischen Kultur in Zentralasien, wurden in Israel die gesammelten Werke Mordekhai Bachaevs herausgegeben. Im Zentrum des außergewöhnlichen Werks und der beeindruckenden siebenbändigen Gesamtausgabe stehen zweifelsohne Bachaevs Memoiren Dar juvoli sangin (Im steinernen Sack). Darin behandelt Bachaev die ersten 30 Jahre seines Lebens.

Bachaev, der 1911 in Merv in einer Schneiderfamilie geboren wurde, wuchs auf im jüdischen Viertel der Altstadt von Samarkand, der berühmten Mahallai Sharq. Sein familiäres und berufliches Umfeld, seine Karriere und die Entwicklung der bucharisch-jüdischen Presse, Sprache und Literatur sind die Hauptthemen im ersten Teil der Lebenserinnerungen, der mit Bachaevs Verhaftung und seiner ersten Nacht in einem Taschkenter KGB-Gefängnis endet. Das zweite Buch dieser Memoiren, das Bachaevs Leben im Gefängnis und Lager behandelt endet 1944, als er sechs Jahre nach seiner Verhaftung zum ersten Mal aus dem Arbeitslager im Ural nach Taschkent zurückkehren durfte, um seine Familie zu besuchen.

Im Steinernen Sack erzählt jedoch weit mehr als das Leben und Schicksal eines aufstrebenden Intellektuellen an der sowjetischen Peripherie. In seinen Lebenserinnerungen beschreibt Bachaev die Konsequenzen der sowjetischen Politikwechsel und Repressionen in Zentralasien aus einer Alltagsperspektive und illustriert die dramatische Verschlechterung der Lebensbedingungen in Samarkand und Taschkent der 1920er und 30er Jahre. Dabei greift er auf seine eigenen Erfahrungen wie auch auf die seiner Familienangehörigen und engen Freunde zurück. Rückblenden und der Einbezug mündlicher Traditionen der Juden Zentralasiens ermöglichen es Bachaev, die lineare und nach Jahren chronologisch geordnete Erzählweise zu unterlaufen und so auch die vorsowjetische Geschichte und das kulturelle Erbe dieser jüdischen Gemeinde in Zentralasien zu beleuchten. Im zweiten Teil der Erinnerungen behandelt Bachaev seine Erfahrungen im GULAG. Über zwei Jahre lang wartete Bachaev nach seiner Verhaftung in Taschkenter Gefängnissen auf seine Verurteilung. Am ersten Oktober 1940 wurde er als “Volksfeind” wegen “antisowjetischer Agitation, Zionismus und bürgerlichem Nationalismus” zu fünf Jahren Besserungsarbeitslager im nördlichen Ural verurteilt. Seine Beschreibung des Gefängnisalltags, der Lebensbedingungen im Lager und der Überlebensstrategien der Gefangenen sind die erste Darstellung dieser Thematik auf Tadschikisch.

Im steinernen Sack entstand in den Jahren nach Bachaevs Emigration 1973 nach Israel. Allerdings wurden sie dort erstmals 1988 (Buch 1) und 1989 (Buch 2) vom Autor im Eigenverlag herausgegeben. Auch das übrige Material der Gesamtausgabe “Muhib:Kulliyot” wurde bereits früher in kleiner Auflage als Privatpublikation herausgegeben oder verstaubt sehr schwer zugänglich in Sowjetischen Archiven. Es enthält sowohl Muhibs Erste Schritte, die Arbeiten die vor seiner Verhaftung im Jahr 1938 entstanden sind, als auch lyrische und religiöse Dichtung und den Teil des Werkes, das größtenteils nach 1973 entstanden ist, dem Jahr seiner Emigration nach Israel. Dieses umfasst neben der Dichtung auch Erzählungen (qissa), Sprichwörter (masal) und andere folkloristischen Genres der Bucharischen Juden sowie ein Wörterbuch mit über 7000 Einträgen bucharisch-jüdischer Begriffe, das Bachaev im Laufe seiner literarischen Tätigkeit zusammengestellt hat. Trotz der Fülle (insgesamt über 3000 Seiten) fehlen dennoch einige Arbeiten Bachaevs, vor allem seine zahlreichen Übersetzungen.

Nach Stalins Tod fiel auch Bachaev unter die verkündete Generalamnestie, hatte aber dennoch keine Chance eine angemessene Anstellung in Usbekistan zu finden. 1954 erhielt er von einem Freund aus Samarkander Kindheitstagen eine Einladung nach Tadschikistan, um am dortigen Institut für Marxismus-Leninismus zwei Bände aus Lenins Gesamtwerk aus dem Russischen ins Tadschikische zu übersetzen. In der Folge arbeitete der in Duschanbe hoch angesehene Bachaev mit an der Sowjet-Tadschikischen Enzyklopädie und anderen Publikationen. Nichtsdestotrotz ergriffen er und seine Angehörigen 1973 die sich bietende Chance, verließen die Sowjetunion und emigrierten nach Israel.

In Jerusalem begann Bachaev mit der Arbeit an den Memoiren und engagierte sich in verschiedenen kulturellen Aktivitäten in Verbindung mit der Integration von Neuankömmlingen aus der Sowjetunion. Er veröffentlichte in Israel annähernd zwanzig Bücher mit Prosa und Dichtung. 1989 vollendete er auch die Übersetzung, der 1992 vom Institut for Bible Translation herausgegebene Bibel auf Tadschikisch. Mit diesem beeindruckenden Werk, der Übersetzung des Alten und Neuen Testaments, reihte sich Bachaev ein in die Liste der großen jüdischen Bibelübersetzer und setzte damit die Arbeit fort, die ein anderer bucharisch-jüdischer Gelehrter, der von Bachaev verehrte Shim un Hakham am selben Ort (Jerusalem) fast einhundert Jahre vor ihm begonnen hatte.

Nach dem Tod seiner Frau Klara lebte Bachaev zurückgezogen und umsorgt von seiner Tochter Lydia in einem Altersheim in Petah Tiqva am Rande Tel Avivs. Zwischen 2005 und 2006 traf ich ihn dort zu mehreren Interviews und Gesprächen über sein Leben und das der Bucharischen Juden in der Sowjetunion. Trotz seiner 96 Jahre arbeitete Bachaev noch immer täglich. Er las, schrieb und bereitete unermüdlich immer neue Publikationen vor. Zusammen mit Lydia, auf deren Engagement und Ausdauer die Gesamtausgabe der Werke Muhibs zurückgeht, überarbeitete er sein Lebenswerk. Vor nunmehr einem Jahr, am 9. März 2007, verschloss Mordekhai ben Hiyo Bachaev, den Jiri Bečka einmal als prominentesten Vertreter der Judeo-Persischen Literatur im 20. Jahrhundert charakterisierte, seine Augen vor der Welt.

Xudo rahmatash kunad, joyash dar Gan-Beden boshad!

(Dieser Beitrag erschien vom gleichen Autor in einer leicht geänderten Fassung auf Englisch in Steppe. A Central Asian Panorama. No.3 Winter 2007-2008, pp. 27-28. )

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