Samarkand oder Ungewöhnliche Erkundung einer Stadt

Ein Reprint von Landolf Scherzer

landolf-scherzer.jpgMitte der 1970er Jahre reiste ein DDR-Schriftsteller in die 5 südlichen Sowjetrepubliken, die sogenannten -stans , und erschrieb sie einem DDR Publikum. Es entstand das Buch “Nahaufnahmen”. Seine schriftstellerische Bekanntheit sollte sich eigentlich erst später mit einem Werk ergeben, das in der DDR wie eine kleine publizistische Überraschung wirkte: “Der Erste”. Der Schriftstellerverband der DDR hatte die Aufgabe gestellt, das Leben und Streben der Arbeiter- und Bauernpartei noch näher ans Volk zu bringen. Diesen Auftrag ernst nehmend stellte Landolf Scherzer den Antrag, den Bezirksparteisekretär von Suhl für 14 Tage auf Schritt und Tritt verfolgen zu dürfen. Das Ansinnen erschien märchenhaft, denn ein Bezirksparteisekretär war damals das, was heute ein Ministerpräsident eines kleinen Bundeslandes ist – kein unwichtiger Mann im Staate. Kurzum, Scherzer erhielt die Chance und nutzte sie zu einer erstaunlich lebensnahen Reportage von den Aufgaben und Problemen und von den Leistungen und dem Unvermögen der SED Funktionäre.

Vor ein paar Jahren meldete sich Landolf Scherzer zurück auf der literarischen Bühne und schrieb zwei bemerkenswerte Bücher. In “Die Fremden” spürt er den Erfahrungen von Gastarbeitern in der DDR und derer nach, die mit ihnen und für die sie arbeiten und schildert ihre Schicksale in Wende- und Nachwendezeit. In “Der Grenzgänger” läuft Scherzer entlang der Deutsch-Deutschen Grenze zwischen Thüringen, Hessen und Bayern und berichtet von seinen Erlebnissen auf beiden Seiten. Landolf Scherzer fühlt sich stets in die Menschen ein, denen er begegnet und zeigt denen, die ihm dabei offensichtlich auf den Keks gehen auf recht direkte Weise seine Missfallen.

Vor ein paar Wochen haben wir den Autoren kontaktiert und baten ihn um die Erlaubnis, seine Reiseberichte aus Zentralasien noch einmal in Blogform zu präsentieren. Warum? Unserer Meinung nach zählen seine “Nahaufnahmen” zu den besten Schilderungen sowjetischer Wirklichkeit in der DDR Literatur. Ohne exotistische Verblendung und prahlerische Sowjetsuperbürgermentalität führt uns Scherzer durch die Sowjetunion der 1970er Jahre. Wir werden hier in unregelmäßigen Abständen die Nahaufnahmen der Städte Samarkand, Buchara, Aschghabad und Taschkent abdrucken.

An dieser Stelle gebührt unser Dank noch einmal Landolf Scherzer!

Warum er die Bildausschnitte seiner “Nahaufnahmen” nun so gewählt hat, wie wir sie hier vor uns sehen, das erfahren wir gleich in seinem Vorwort. Viel Vergnügen!

Anstelle eines Vorworts

zitiere ich Natascha Kowalenko, Intourist-Dolmetscherin und Lehrerin für deutsche Sprache am Nowosibirsker Bauingenieur-Institut:
“Hätte ich meinen Sascha nicht, würde ich heute vielleicht in Berlin wohnen und dort verheiratet sein. Ich lernte hier vor ein paar Jahren Dieter, einen jungen Filmregisseur, kennen. Er gefiel mir sehr. Aber wie gesagt, da kannte ich schon Sascha. Inzwischen haben wir uns oft besucht, ich war mit meinem Mann in Berlin, und die DDR ist moja wtoraja rodina – meine zweite Heimat – geworden …”
An dieser Stelle machte Natascha eine lange Pause, so, als wüßte sie nicht weiter. Dann sagte sie schnell und übergangslos: “Trotzdem arbeite ich lieber mit BRD-Touristen als mit Besuchern aus der DDR . . . Nein, Verzeihung,,lieber’ ist nicht das richtige Wort, es muß heißen:,leichter’. Ja, mit denen aus der BRD habe ich es leichter! Sie kommen zu uns, und fast jeder glaubt die antisowjetischen Märchen von den armen Russen, die noch in Bastschuhen herumlaufen, von Städten ohne Steinhäuser und ohne Strom, von den Menschen in Sibirien, die nur in Gefangenenlagern leben. Dann sehen sie bei uns gut angezogene hübsche Mädchen, breite, asphaltierte Straßen, moderne Schulen, Fabriken in der Taiga und Neubauviertel. . . Die meisten kriegen den Mund vor Staunen nicht mehr zu . . .”
Natascha lächelte, als wolle sie sich entschuldigen. “Mit euren Leuten dagegen ist es ganz anders.” Sie versuchte, den Satz zu erklären. “Die Touristen aus der DDR wissen schon sehr viel, aber trotzdem sehr wenig über unser Land. Sie sind vollgestopft mit Idealvorstellungen, kennen meist nur großartige Erfolgsbilanzen: die BAM, das umfangreiche Wohnungsbauprogramm, die mächtigen Ölvorkommen, die Erfolge der Arbeiter und Kolchosbauern . . .
Sie klettern aus dem klimatisierten Flugzeug, steigen in den komfortablen Intourist-Bus, und ich zeige ihnen die neuesten Häuser und die riesigen Fabriken von Nowosibirsk. Da staunen sie kein bißchen, das hatten sie erwartet und es sich meist noch vollkommener und größer vorgestellt. . .
Aber dann sehen sie auch Holzbaracken-Wohnungen; treffen Betrunkene, die von der Miliz aus dem Straßengraben aufgelesen werden; fahren durch alte Dörfer, in denen die Abwässer noch am Wege entlangfließen . . . Nach diesen ,Entdeckungen’ geschieht oft etwas sehr Merkwürdiges. Die meisten DDR-Touristen schweigen und werden unsicher. Sie fragen mich nicht nach diesen Dingen, obwohl ich merke, wie sehr sie sich damit beschäftigen. Vielleicht glauben sie, daß sie solche Fragen nicht stellen sollten – unserer guten Beziehungen wegen oder weil es uns peinlich sein könnte. Ich weiß es wirklich nicht. . . Statt dessen versuchen sie, die bisher unbekannten Details in ihr Bild von der Sowjetunion einzuordnen. Doch es gelingt selten, dazu wissen sie zu wenig über die Dialektik unserer Entwicklung.
Ich aber stehe hilflos da mit meinem Talent und kann in den zwei oder drei Stunden, die wir zusammen sind, nicht nachholen, was versäumt wurde …”

Samarkand

oder

Ungewöhnliche Erkundung einer Stadt

A salam aleikum – Friede sei mit dir, Samarkand! Ich drücke die Nase gegen die Wa­genscheibe des schwarzen “Wolga”, um nichts vom Film zu verpassen, der draußen im Zeitraffertempo abläuft. Turbantragende alte Männer reiten, eingekeilt von Bussen und Lastkraftwagen, auf Eseln die asphaltierte Straße entlang. Frauen in Pluderhosen, wie sie der Kleine Muck anhatte, tragen schwere Säcke und Taschen. Junge Männer mit schwarzen, silberbestickten Käppchen – Tjubeteikas – auf dem Kopf, bummeln unter Eukalyptusbäumen. Unbarmherzige Scheinwerfer zerren Moscheen und Minarette aus den Dunkelverstecken der Nacht.

Und mir, wer wird mir ordnendes Licht in die narkotisierende Exotik der orientalischen Stadt bringen? Nach dem unumstößlichen Intourist-Reiseplan bleiben mir da­für in Samarkand noch ganze sechsunddreißig Stunden. Zwei Nächte und anderthalb Tage für die Erkundung von Samarkand. Doch ich bin optimistisch und glaube auf alle Fragen gültige Antworten zu erhal­ten, denn in meiner Tasche steckt ein “amtliches Papier”. Auf ihm wird, korrekt ins Russische übersetzt, mit der Unterschrift des Verlagsleiters bestätigt, daß ich über meine Reise ein Buch schreiben will und die sowjetischen Institutionen mir beim Sammeln von Informationen behilflich sein möchten.

Im Hotel angekommen – es erweckt kaum meine Neugier, weil es den Interhotels bei uns gleicht -, unternehme ich deshalb sofort meinen ersten Versuch mit der Sprawka – zu deutsch: Bescheinigung. Der Diensthabende von Intourist liest sie zweimal. Wahrscheinlich ist er froh über die Unterbrechung des nächtlichen Einerleis hinter seiner Barriere. Als ich ihn jedoch frage, ob er vorbereiten könne, daß ich gleich am Morgen mit dem Bürgermeister, mit Restauratoren, alten Mohammedanern, Architekten, Parteifunktionären und Deputierten sprechen könne, lacht er. “Warten wir lieber, bis der Chef kommt, so gegen neun Uhr früh wird er hier sein. Inzwischen schlafen Sie sich am besten aus. Wsjo budjet choroscho – es wird alles gutgehen.”

Aber ich will noch nicht schlafen – schlafen in dem nach europäischem Muster ausgestatteten Hotelzimmer mit Telefon, Dusche und van Goghs “Sonnenblumen”, währenddessen draußen eine mir unbekannte Welt lockt.

Ich gehe auf die Straße und beginne, das nächtliche Samarkand zu erkunden. Die Stadt ist noch hellwach. Vielleicht dreißig Grad heiße, trockene Luft läßt mich die Glut des Tages ahnen. Ich bilde mir ein, sie rieche nach dem Staub der Wüste Kysyl-Kum (obwohl ich der erst in Buchara begegnen werde), nach überreifen Trauben, Malven und Nelken. Usbekische Mädchen in bunten, kurzen Seidenkleidern tragen jetzt, gegen 22 Uhr, noch Babys mit sich herum. Alte Frauen sitzen an der Straße und verkaufen runde, duftende Weizenfladen. In Häusernischen, hinter Vorhängen aus bunten, auf Schnüre gefädelten Glaskugeln, reparieren Schuster Schaftstiefel und Pumps. Uhrmacher hocken bei grellem Lampenlicht auf Drehstühlen, schwatzen mit den teetrinkenden Kunden, die geduldig warten, bis der Meister die Uhr auseinander­genommen, gereinigt und wieder zusammengesetzt hat.

Am liebsten würde ich gleichzeitig Fladen kaufen, die Schuhe reparieren lassen, beim Uhrmacher sitzen und mich nach den usbekischen Schönheiten umdrehen. Aber ich tue nichts von alledem, sondern grüße nur übereifrig und laut nach rechts und links, glaube, daß so alle Vorübergehenden begreifen müßten, wie aufgeregt und froh ich bin. Aber niemand beachtet mich. Wahrscheinlich gehört Ausgelassenheit zur Samarkander Tages- und Nachtordnung.

Straßenleuchten mit dicken, raupenförmigen gelben Schirmen brennen überall in der Stadt. Auch im Park. Auf den Bänken sitzen meist junge Leute. Doch ich entdecke kein Pärchen, das sich küßt. Weshalb sie es nicht tun, werde ich später in Aschchabad am “eigenen Leibe” erfahren. Vor dem Kulturhaus im Park hängt ein Monumentalgemälde- Lenin überlebensgroß. Mir bleibt unklar, ob er seine ausgestreckte Hand segnend über die Bürger hält oder den Weg weist, auf dem es gemeinsam vorwärts geht. Die meisten nächtlichen Spaziergänger pilgern wahrhaftig in die angezeigte Richtung. Ich reihe mich ein. Aus Seitengassen kommen immer mehr Leute und gehen mit uns. Jeder von ihnen scheint, im Gegensatz zu mir, das Ziel zu kennen, so selbst­verständlich, ohne aufzublicken oder ihre Gespräche zu unterbrechen, biegen sie ab und laufen nun im Strom, der aber bald zum erstenmal stockt, denn linker Hand ste­hen drei gewaltige und mit kunstvollen Ornamenten verzierte Medressen. Sie um­schließen von drei Seiten einen großen freien Platz und bilden mit ihm zusammen jenes Architektur-Ensemble, das auf allen Samarkander Werbeprospekten zu sehen ist: den Registan. Scheinwerfer erhellen das 600 Jahre alte orientalische Heiligtum. Wir, die staunenden Betrachter, stehen in der Dunkelheit. Niemand betritt den Platz. Kaum einer spricht, und wenn, dann leise, fast andächtig. Meine Augen suchen nach Details, die mir die alten Koranschulen mit ihren Mosaikwänden, auf die wohl alles Himmel­blau und Türkis des Orients verschwendet wurde, verständlicher werden lassen und das ehrfurchtsvolle “Sie”, mit dem ich sie anstaune, in ein vertrautes “Du” verwandeln. Aber ich weiß nur, daß Timur – von 1370 bis 1405 Herrscher über Samarkand und fast ganz Asien – Hunderte Künstler aus Indien, Mesopotamien, Kleinasien, dem Iran nach Samarkand verschleppte, damit sie ihm diese Prunkbauten errichteten. Die historischen Einzelheiten lassen mich die Heiligtümer zwar materialistischer, aber nicht freundlicher betrachten. Ich gehe auf den lichtüberfluteten Platz, um mir die Kunstwerke näher anzuschauen, bleibe aber erschrocken stehen, als beim Näher­kommen sechs oder sieben Hunde aus den im Dunkel liegenden Nischen der Medressen herausspringen. Der Registan beginnt, seinen Heiligenschein zu verlieren.

Ich reihe mich ziellos wieder in den zielstrebigen Strom der abwandernden Besu­cher ein. Nach zehn Minuten stoppt die Menschenmenge vor einem mondbeschiene­nen Kuppelbau. Ich frage ein neben mir laufendes usbekisches Mädchen, das ihr schö­nes Haar sorgfältig zu zehn oder zwanzig dünnen Zopfschnüren geflochten hat, nach dem Bauwerk. Sie schaut mich an, als ob ich wissen wollte, wer der erste Mensch im Weltall war. Dann klärt sie mich auf: “Das ist die Grabstätte vonTimur.” Das Mauso­leum imponiert durch seine Größe und architektonische Schönheit. Aber erst beim zweiten Rundgang um das Grabmal entdecke ich an ihm auch etwas Lebendiges: Am Haupttor lehnt eine in sich zusammengesunkene Gestalt. Ich gehe näher und erkenne einen Orientalen mit langem, grauem Spitzbart, großem, unordentlich gebundenem Turban und faltiger Gesichtshaut. Er hockt, die Beine gekreuzt, wie meditierend auf der Erde. Vorsichtig, um ihn nicht zu stören, setze ich mich ihm gegenüber, schweige, weil ich annehme, daß er sich mit Allah oder dessen Propheten unterhält. Ich warte geduldig. Der Alte bewegt keinen Muskel. Nach einer Viertelstunde erwidert er endlich meinen Gruß. Als ich wissen möchte, ob seine Kinder und Enkel auch gläubige Mohammedaner sind, schweigt er wieder. Ich frage ihn noch einmal. Da hebt er den Kopf, schaut mich an und sagt: “Allah ist Allah und Mohammed sein Prophet!” Was soviel heißt wie: Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed verkündet seine Worte. Die weitere Antwort überläßt er den beiden Heiligen, doch die schweigen sich mir gegenüber aus.

Inzwischen ist es zwölf Uhr geworden. Die Touristen vor ,,Gur Emir” sind ver­schwunden. Müde, mit Eindrücken vollgestopft, gehe ich zum Hotel zurück und ver­suche, das Gesehene zu sortieren. Aber es gelingt nicht. In meinem Kopf herrscht ein heilloses Durcheinander.

Vor dem Hotel liegt am Straßenrand ein zottiger, magerer Hund mit gelbbraunem Fell. Er kommt vertrauensvoll näher, reibt sich die Schnauze an meinen Beinen, und ich krame die letzten in Stanniol verpackten Wurst- und Käsereste der Interflugmahl­zeit aus, um ihn zu füttern. Er wedelt dankbar mit dem Schwanz. Na also, endlich eine auch im Orient sofort verständliche Geste .. . Aber kaum habe ich mich im Hotelzimmer hingelegt, beginnen unzählige umherstreunende Köter, den Mond oder ihre Liebe anzubellen. Ich grübele, was diese herrenlosen Hunde für eine Funktion in der orientalischen Stadt haben könnten. Als ich dann endlich schlafe, kommen mit der aufgehenden Sonne ein neuer Tag und neue Wärme.

Ich stehe zeitig auf, den orientalischen Morgen zu begrüßen. Nachdem ich einige Minuten lang über asphaltierte und über staubige Straßen gelaufen bin, merke ich, daß eigentlich zwei Stadtteile zu begrüßen sind: das alte Samarkand, in dem sich die Häuser eben in engen, baumlosen Gassen hinter fensterlosen, weiß getünchten Lehmmauern verstecken, und die neue Stadt, deren Fertigteilblöcke auch irgendwo in Sibirien oder Sachsen gebaut sein könnten. Die Bewohner der Altstadt müssen am zeitigsten aufste­hen. Frauen mit schon sorgfältig geflochtenen Zöpfen oder Männer in blankgewichsten hohen schwarzen Stiefeln verbeugen sich beim Heraustreten vor dem neuen Tag, denn die Türen in den dicken, langen Lehmwänden sind nicht einmal kopfhoch. Zu­erst holen die Altstädter in Eimern und Kannen Trinkwasser vom nächstgelegenen Hydranten. Dann spülen und kehren sie die Abwässerrinne vor ihrem Haus. Anschließend hupt auf der Hauptstraße das Müllauto, das nicht in die engen Gassen hin­einfahren kann. Deshalb schleppen die Altstädter in aller Frühe ihre Abfälle in Säcken und Kübeln zum wartenden Müllfahrzeug. Die Einwohner der neuen Stadt drehen nur den Wasserhahn auf, den Unrat schütten sie in die Tonnen vor dem Haus, und die Abwässer verschwinden unter der Erde. Sie können morgens länger schlafen. Dafür haben sie eine wichtige Kommunikationsmöglichkeit verloren, denn beim Wasserho­len am Hydranten und beim Müllwegschaffen bleibt immer Zeit, die Lokalnachrich­ten des vergangenen Abends und der vergangenen Nacht auszutauschen und ausführlich zu kommentieren.

Während die Eltern schwatzend am Hydranten stehen, nutzen die schwarzhaari­gen, kurzgeschorenen, dunkeläugigen Steppkes die “kühle” Gunst der Morgenstunde zum Spielen. Auch neben der kolossalen Grabstätte Timurs toben zehn oder zwanzig von ihnen und wirbeln den Staub wie junge Fohlen auf. Sie spielen auf dem Vorplatz des heiligen Mausoleums Gur Emir, dessen blau gerippte Kuppel nach Timurs Willen “den Himmel ersetze, ginge er einmal unter”, den geweihten Eingang als Tor benutzend, Fußball.

Etwa um acht Uhr – die Arbeiter sind in die Porzellanfabrik, das Textilkombinat, den Fahrstuhlbetrieb oder das Klimaanlagenwerk gefahren, die Kinder sitzen in der Schule, die Frauen sind unterwegs zum Basar, und die Hunde schlafen sich in schatti­gen Ecken von den Anstrengungen der Nacht aus – wird es ruhig in der alten Stadt.

Plötzlich aber beginnt ganz in der Nähe des Mausoleums ein lautes Fluchen und Schimpfen. Unter sonnendichtem Blätterdach steht ein kioskähnliches Häuschen, daneben hängen zwei waschkesselgroße Eisentöpfe. Genau dort schreit ein robuster Mann mit vorgebundener weißer Schürze einen schmächtigen Jungen an, der ängstlich vor ihm steht. Der Kleine holt flugs eine Kiste mit Sand, den er reuevoll auf dem Boden verstreut. Nun sehe ich das Malheur. Der Junge hat ein Fäßchen mit Öl verschüttet. Kein billiges Erdöl, das man inzwischen auch in den Wüsten Mittelasiens in ungeahn­ten Mengen aus der Erde holt, sondern feinstes Speiseöl. Mit dem weiteren Fortgang der Handlung entpuppt sich die Angelegenheit als eine lukullische Zeremonie. Sie be­ginnt mit dem Zerkleinern von Holz. Nachdem das Feuer lodert, schüttet der inzwi­schen wieder friedliche Usbeke etwas vom übriggebliebenen Baumwollkernöl in die Kessel. Später gibt er kleingeschnittene Zwiebeln, Fleisch und Schwanzspeck vom Hammel dazu. Während das brät, versuche ich, den Koch und seinen Gehilfen zu fo­tografieren. Sie wehren ärgerlich ab. Neuer Versuch. Das gleiche Ergebnis. Ich sage, ich sei ein Tourist aus der DDR, möchte ein Erinnerungsbild. Net, net, sagen sie. Ne moshno. Da zeige ich ihnen mein- so hoffe ich – “Sesam-öffne-dich-Papier”, in dem alle sowjetischen Institutionen gebeten werden, mir zu helfen. Die zwei sind zwar keine Institution, aber es klappt. Bevor er das Papierchen zurückgibt, wischt sich der Koch die fettigen Hände ehrfurchtsvoll an der Schürze ab, nickt und rückt eine Kiste zurecht, damit ich bequem an der Feuerstelle sitzen kann. Von ihm erfahre ich auch al­les Weitere über die Zubereitung des traditionellen usbekischen Gerichts, das schon jetzt – noch im Stadium des Werdens – appetitliche Düfte verbreitet und Plow heißt. Zu dem schmorenden Fleisch kommen noch feingeraspelte Möhren – in Usbekistan wächst eine besonders saftige, gelbe, wie für den Plow geschaffene Sorte. Darüber gibt der Gehilfe den sorgfältig gewaschenen, mit einer Knoblauchzwiebel gekrönten Reis. Damit das Ganze nicht anbrennt, bohrt der Chefkoch zu guter Letzt bis auf den Kesselboden reichende Löcher durch die Reis-Fleisch-Möhrenschicht und füllt sie mit Wasser.

Das wäre alles von der Kunst des Plowkochens, sagt der freundliche Usbeke. Le­diglich eines sei noch wichtig: Plow dürfen nur Männer zubereiten!

Warum keine Frau?

Seine Antwort provoziert und verbietet gleichzeitig jede weitere Frage. Er sagt: “Das ist schon immer so gewesen in den Teestuben des Orients.”

Mich interessieren außer der Feuerstelle für die usbekische Freikochkunst eigenartige Miniaturbühnen unter schattenspendenden Bäumen, Holzböden, die nicht grö­ßer als zehn Meter im Quadrat sind. Sie stehen auf kunstvoll gedrechselten Beinen und werden durch dreiseitige Geländer begrenzt. Auf den Holzböden liegen Teppiche. Und auf den Teppichen liegen oder hocken Leute. Männer. Nur Männer. Alte und junge. Einer von ihnen – mit Spitzbart und Turban – sieht aus wie mein nächtlicher schweigsamer Bekannter am Mausoleum Gur Emir. Er trinkt Tee. Nein, er trinkt nicht. Er schlürft Tee. Nein, er schlürft auch nicht. Er inhaliert Tee, so bedächtig und genießend führt er die Piala, die henkellose Tasse mit grünem Tee, zum Mund. Alle sitzen und schweigen. Zwei spielen Schach. Es ist morgens acht Uhr. Der Koch sieht mein fragendes Gesicht.

“Das ist eine Tschaichana – eine von den vielen Teestuben Samarkands”, erklärt er. “Hier sitzen die Männer, manche von früh bis abends, und trinken ihren Tee.”

Und die Frauen?

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“Nein”, sagt er, “nein, die Frauen liegen nicht auf den Teestubensofas. Das ist schon immer so gewesen in den Teestuben des Orients.”

Ich weiß zwar, daß die Frauen in Mittelasien bis 1917 und auch noch Jahre später die rechtlosesten Wesen unter der Sonne waren: Ihren Körper mußten sie im Parandsha, dem alles verhüllenden Mantel, ihr Gesicht hinter dem Tschatschwan – Pferdehaarschleier – verbergen; der Mann konnte sie nach Belieben – sofern er Geld hatte – kaufen, später verkaufen, töten . . . Aber heute?! Ich frage die zwei Jüngsten, die auf dem Teestubensofa liegen – sie sind ungefähr dreißig Jahre -, was ihre Frauen machen.

“Meine ist Kolchosbäuerin.”

“Meine Leiterin einer Kaufhalle.”

Selbstverständlich wären sie gleichberechtigt, schließlich gäbe es dafür ein Gesetz in der Sowjetunion, versichern die zwei. “Aber in die Tschaichanas”, sagen sie, “ge­hen die Männer seit eh und je allein.” Nun beginne ich auch zu verstehen, weshalb das usbekische Nationalgericht Plow im Freien, früher prinzipiell und heute fast ausschließlich, von Männern gekocht wird. In heißen dampfenden Hotelküchen dürfen es selbstverständlich auch Frauen zubereiten. Denn wenn der Herr der Schöpfung den lieben langen Tag tschaitrinkend auf dem Teestubensofa liegt, wird er irgendwann einmal hungrig. Weil der Mann aber keine Frau in eine Tschaichana mitnehmen durf­te, mußte er notgedrungen selber kochen. Damit möglichst viele Gäste sich beteiligen konnten, wurde eine umfangreiche Arbeitsteilung eingeführt, und so entstand das lu­kullische männliche Gesellschaftsspiel “Plowkochen”: Einige der Teetrinker hackten Holz, die anderen schnitten Fleisch, die tapfersten Männer schälten Zwiebeln, die ge­schicktesten schnippelten Möhren, die restlichen wuschen und sortierten den Reis.

Auch ich kriege Hunger und gehe zum Hotel zurück. Nach dem Frühstück ist der Leiter des hiesigen Intourist in seinem Büro, und ich unternehme meinen zweiten Versuch mit der Sprawka- zu deutsch: Bescheinigung. Er liest sie dreimal, hört sich meine Bitten an und beschwichtigt meine Ungeduld, denn so ohne weiteres könne er natür­lich keine Gespräche mit dem Bürgermeister, den Restauratoren, Parteifunktionären, Deputierten, Architekten und alten Mohammedanern organisieren. Erst müsse er die nötigen Instanzen informieren. Mittags solle ich nachfragen. Aber: “Wsjo budjet choroscho – alles wird gutgehen!”

Also bleibt mir Zeit, das für mich Orientalischste im orientalischen Samarkand zu suchen, den Basar. Ich frage einen alten Eseltreiber nach dem Weg. “Zum Basar, mein Sohn? Du läufst am Registan vorbei, dann links . . .” Als ich mich nicht gleich zurecht­finde, erkundige ich mich bei einem jungen Mann mit Collegmappe. “Zum Kolchos­markt möchten Sie? Nur noch 300 Meter geradeaus, dann sehen Sie den Eingang.”

Basar oder Kolchosmarkt?

Es duftet nach Rosen, Weizenfladen, Tabak, Curry, eingelegten Tomaten, Zimt, Apfelsinen, Ingwer und Schaschlik. Perlhühner gackern, als wüßten sie schon alles vom Suppentopf. Alte Frauen versprechen mit melodischem Singsang die größten und saftigsten Mohrrüben, die je auf usbekischer Erde gewachsen seien. Vögel zwitschern in ihren aus Bast geflochtenen Käfigen. Bärtige Tadshiken murmeln, daß ihre Wein­trauben die süßesten unter Allahs Himmel wären. Und Kinder heulen, weil ihre Müt­ter nicht den wie Perlen auf eine Schnur gefädelten braunen Kandiszucker kaufen.

Zwischen den Haufen roten Pfeffers, grünen Kautabaks, dunkelbrauner, klebriger Korinthen, den gefüllten Säcken mit weißem Reis, grauer Buchweizengrütze und schwarzer Holzkohle, den gekochten quittegelben Maiskolben, den himmelblauen Wäschetruhen, den bernsteingelben Tonkrügen, den goldbestickten Tüchern und den dunkelgrünen Oliven entscheide ich mich schließlich für eine Tüte mit getrockneten Apfelscheiben. Ich frage die alte schwarzhaarige Frau, die mir das Dörrobst einpackt, ob es früher etwas auf dem Basar gab, was mittlerweile verschwunden sei. An meiner Aussprache merkt sie, daß ich Ausländer bin, winkt mich näher und flüstert: “Deut­scher? Suchen Sie Gold, vielleicht einen Ring? Die meisten von ihnen wollen hier bei uns Gold kaufen. Haben Sie zu Hause keins? Aber gehen Sie um die Ecke, dort kön­nen Sie welches bekommen.”

Nein, beruhige ich die hilfsbereite Alte, nicht wegen des Goldes hätte ich gefragt, ich möchte nur wissen, ob es vor fünfzig Jahren auf dem Basar noch Stände und Ver­käufer gegeben habe, die inzwischen aus der Mode gekommen seien. Sie überlegt und erinnert sich, daß früher gleich am Basareingang der Panscher – ein dicker Russe – selbstgemachten Fusel verkaufte. “Und damals gab es auch den Geldverleiher. Von ihm konnten sich die Bauern Geld borgen und es im nächsten Jahr mit Reis, Früchten und Zinsen zurückzahlen. War die Ernte schlecht, mußten sie ihm die Tochter oder den Sohn verkaufen.”

Ich befrage andere Händler und erfahre, welche Professionen seit 1917 nach und nach auf dem Basar von Samarkand verschwanden.

Der Knocheneinrenker; er verkaufte Arm- und Beinprothesen. Der Feuerverkäufer; er bot glimmende Kohlen als Streichholzersatz an. Der Zahnzieher; er arbeitete ohne Betäubung und hatte meist mehr Publikum als Kunden.

Der Barbier; er setzte den Kranken Blutegel an, damit sie das “schlechte Blut” aussaugten.

Der Schreiber; bei ihm konnte man sich Schriftstücke vorlesen und aufsetzen lassen.

Der Basarmediziner; “seine Mixturen halfen immer”, beteuert eine Greisin, bei der ich eine Art Pflaumenmus kaufe.

Zum Beweis erzählt sie: “Mit dreizehn wurde ich verheiratet, aber mit fünfzehn – Schande über meinen Leib – hatte ich immer noch kein Kind, manche gleichaltrige Freundin besaß schon drei. Da brachte mir unser Mann (er hatte vier Frauen) vom Basarmediziner ein Pulver aus Froschlaich, Wüstensand und wunderkräftigen Barthaa­ren mit, und als ich sechzehn war – im Jahre 1920 – gebar ich meine Tochter Mukkadas, was die Heilige bedeutet. Insgesamt habe ich dreizehn Kinder.” Und dann schimpft sie, so daß die Leute von den Nachbarständen zu uns herüberschauen: “Aber heute verkaufen die Medizindoktoren Pillen, damit die Frauen keine Kinder gebären müssen. Eine Sünde ist das, jetzt, wo wir mit Allahs Segen und der neuen Ordnung Hilfe auch bei uns in Samarkand schöne Häuser, Kinderheime und Schulen bauen, heute nimmt man Pillen, damit die Kinder nicht kommen. Pfui, was sich die Menschen alles ausdenken!”

Sie redet sich so in Rage, daß ich sie noch höre, als ich schon die Treppe zum nicht überdachten Teil des Basars hinuntergehe. Ihn beherrschen die grünschaligen und rot­fleischigen Dickbäuche – Melonen, die hier, wie Kanonenkugeln vor der Schlacht, zu großen Haufen zusammengetragen wurden. Obwohl für mich, von der Größe abge­sehen, eine der anderen gleicht, wandern die Käufer unermüdlich von einem grünen Berg zum anderen. Klopfen laut und ausdauernd an die kürbisgroßen Früchte. Halten sie lauschend an das Ohr. Werfen sie in die Höhe. Lassen sich winzige Stücke herausschneiden … gehen weiter. Ich sehe keinen, der sofort kauft. Zehn Minuten prüft und erwägt man mindestens. Wer es nicht tut, ist garantiert ein Ausländer.

Neben einem besonders großen Melonenhaufen sitzt ein sehr stiller und, wie mir scheint, traurig dreinblickender Usbeke. Er fordert die Leute nicht wie seine Kollegen lautstark und gestenreich zum Kaufen auf. ,,A salam aleikum!”

Er schaut mich fragend an, und als ich ihn bitte, mir zu verraten, wie man durch die Klopferei und Horcherei erkennen kann, ob die Melonen süß und saftig sind, dreht er eine herum und zeigt mir den Stiel. “Nur danach mußt du schauen, der Stiel soll ver­trocknet und nicht mehr grün sein.”

Ich bedanke mich, und weil kein Käufer bei ihm steht, hat er Zeit für einen Plausch. Er heißt Abdurafit, ist vierzig Jahre alt und arbeitet in einem Kolchos, der sich “Blu­me” nennt. Sobald die Kolchosbauern den Staatsplan erfüllt haben, erzählt Abdurafit, können sie die restliche Ernte zu doppeltem Preis auf dem Basar anbieten. Auch jeder andere Bürger dürfe, wenn ihm der Dorfsowjet bescheinige, daß die Erzeugnisse aus dem eigenen Garten sind, seine Waren hier verkaufen. Vor sieben Tagen wäre er mit seinen Melonen auf einem Auto des Kolchos zum Markt gefahren. Zurück könne er aber erst, wenn all diese verdammten Melonen verkauft seien. Er hätte schon jetzt Heimweh nach seinem Dorf, den Freunden in der Teestube, den Kindern und seiner Frau.

Als ich mich verabschieden will, fällt mir ein, daß ich fast das Wichtigste vergessen hätte: die Preise. “Wer macht die Preise auf dem Basar?”

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Abdurafit zeigt zum hinteren Teil des Basars und antwortet im Brustton tiefster Überzeugung: “Die Tafel dort. Auf ihr werden mit Kreide die täglichen Höchstpreise für alles Obst und Gemüse angeschrieben. Je mehr Melonen es beispielsweise gibt, de­sto billiger werden sie. Deshalb ist es gut, wenn ich die Melonen rechtzeitig bringe und die Granatäpfel möglichst lange einlagere.”

Ich schaue ungläubig. “Aber eine Tafel, Abdurafit, macht keine Preise…”

Der Usbeke stutzt und sagt dann sehr schnell und beiläufig: “Nun, der sie anschreibt, ist einer von der Stadtverwaltung.”

Weil immer noch keiner bei Abdurafit Melonen kaufen will, kann ich dem Usbeken eine Gewissensfrage stellen: “Und gefeilscht, wird noch gefeilscht?”

Diesmal läßt Abdurafit sich Zeit mit der Antwort. “Manche, meist gute Freunde, handeln mit einem, um den Höchstpreis zu unterbieten. Immer ist der Käufer im Vorteil, denn er kann den Preis runterhandeln. Wenn dagegen ein Händler über die Höchstpreise der Tafel geht, wird er streng bestraft.” “Also haben Sie noch nie jemand übers Ohr gehauen?”

Er sagt nicht ja und nicht nein. Nur: “Die Tafel dort ist manchmal schlecht zu se­hen. ..”

Und der vorhin so stille, traurig in die bunte Basarwelt blickende Melonenverkäu­fer lacht.

Der alte Eseltreiber hatte mir den Weg zum Basar erklärt, der junge Usbeke den zum Kolchosmarkt. Es war der gleiche Weg.

Zum Abschied sucht Abdurafit die größte Melone aus und schenkt sie mir. Sie hat solch ein Gewicht, daß ich sie mühevoll auf beiden Armen tragen muß und froh bin, mich kurz vor dem Ausgang des Basars bei einem Spektakulum verschnaufen zu können.

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Ein Fotograf hat hinter seiner stelzbeinigen Kamera als Kulisse ein naturalistisches Baumwollfeldgemälde aufgebaut. Zwanzig oder dreißig Leute bestürmen ihn, um in der Überfülle der weißen flauschigen Blüten fotografiert zu werden. Mitten in der Baumwolle, dem Reichtum, dem Gold des Landes stehend, ein Foto für die Frau, ein Foto für die Eltern, ein Foto für das Wohnzimmer.

Auf meine Frage nach ihren Berufen antworten die Wartenden: Studentin am päd­agogischen Institut, Verkäufer, Chemiearbeiter, Wasserautofahrer, Komsomolfunktionär, Pförtner, Arbeiter im Marmorbruch, Stenotypistin, Weberin von Kamelhaar­decken, Doktor der Kybernetik, Lehmziegelbrenner… Eine jener Kolchosbäuerinnen, die auch heute noch bei vierzig Grad im Schatten acht Stunden täglich die Baum­wollblüten mit der Hand pflücken, finde ich nicht beim Basarfotografen. Als ich ihn frage, sagt er, daß sich keine Pflückerin vor der Baumwollfeldkulisse fotografieren ließ. “Sie sind jetzt alle bei der Ernte.”

Eine ähnliche Antwort erhalte ich – allerdings auf eine ganz andere Frage -, als ich wenig später im Intouristbüro meinen dritten Versuch mit der Sprawka – zu deutsch: Bescheinigung – starte. Der Leiter murmelt etwas wie: Noch keine Antwort von den Instanzen erhalten. Als er druckst, fällt ihm plötzlich etwas ein, und er sagt es im Brustton der Überzeugung: “Bei uns ist jetzt Baumwollernte, da haben die Leiter den Kopf voll. Sie müssen sich noch ein bißchen gedulden.”

Das ist leicht gesagt. Mir bleiben noch zwanzig Stunden, um Gültiges über die Preise auf dem Basar, alte Mohammedaner und junge Komsomolzen, herrenlose Hunde, Frauenverbot in den Tschaichanas, die Zukunft der alten Stadt und das Wachsen der neuen zu erfahren. Er beruhigt mich: “Zu uns kommen die Schriftsteller wegen der alten Denkmäler. Schauen Sie sich die inzwischen an, ich gebe Ihnen eine Reiseführerin mit. Wsjo budjet choroscho – es wird alles gut…”

Also schauen wir uns Denkmäler an.

Ich bin froh, daß ich es nicht allein und nicht schweigend tun muß, sondern mich die Intourist-Dolmetscherin Gulja begleitet. Sie sieht aus wie ein sehr rundes, sehr rotbäckiges und sehr appetitliches Äpfelchen. Weil ihr Kleid den Bauch kaum versteckt, erkundige ich mich, wann es soweit sei mit dem Baby. “Frühestens in ein, zwei Jahren”, sagt sie erschrocken, vordem werde sie nicht heiraten. Während wir durch die staubigen Denkmalviertel pilgern, redet Gulja ununterbrochen. Von den fünfzig Millionen Rubel mitten im Bürgerkrieg, die Lenin zur Erhaltung der Samarkander Bauten angewiesen habe; von den sechs Pfund Gold, die kürzlich bei der Restaurierung der Kuppel des Mausoleums Gur Emir verbraucht wurden; von ihrem Traum, einmal Bürgermeisterin der Stadt zu sein (dann ließe sie unheimlich viele Blumen und Bäume pflanzen); von ihrer Liebe zu den traditionellen orientalischen Lehmhäuschen; von ihrem Namen Gulja, einem alten usbekischen, der Blumengesicht bedeutet. Als sie das sagt, hat sie wohl einen komischen Einfall und muß lachen. “Bloß gut, daß ich nicht draußen in der Satellitenstadt wohne.” Ein Düngemittelwerk habe man dort gebaut und Häuser für 50000 Leute drumherum. “Die Stadt heißt Superphosphatny. Stellen Sie sich mal vor, ich würde dort wohnen: Blumengesicht aus Superphosphatny! Bestimmt hat sich diesen Namen so ein vertrockneter Chemiker ausgedacht!”

Dann nennt sie mir alle wichtigen Jahreszahlen der Samarkander Historie, die Höhe der Minarette, die Tiefe der Grüften. Drei Monate habe sie versucht, den Text zu begreifen, und ihn dann in zwei Tagen und Nächten auswendig gelernt. Und sie sagt mir vor den Ruinen der größten Moschee Bibi Chanym die Baustory auf, die sich jeder Tourist in Samarkand anhören muß.

,,Die Lieblingsfrau Timurs war die wunderschöne Bibi Chanym. Als der grausame Krieger wieder einmal Schlachten in fernen Ländern schlug, wollte sie ihm inzwischen ein steinernes Liebeslied errichten lassen. Sie befahl, diese Moschee, die Sie hier sehen, zu bauen. Alle beeilten sich mit der Fertigstellung. Aber der junge Architekt begehrte Bibi Chanym. Er verlangte einen Kuß von ihr, sonst werde er den Bau nicht rechtzeitig beenden. Bibi Chanym bot ihm als Ersatz die Küsse all ihrer Jungfrauen an. Er aber wollte nur ihre. Da sagte die kluge Schöne: Warum gerade meine, eine Frau ist wie die andere. Als Beweis brachte sie einen Korb mit Eiern. Eines glich dem anderen. Der Architekt ließ daraufhin zwei Schalen holen. Eine füllte er mit Wasser, die andere mit Wein. Äußerlich sind sie gleich, sagte er, aber ihr Inhalt ist unvergleichlich verschieden. Bibi Chanym wußte keine Antwort und gab nach. Doch der junge Mann küßte sie so stürmisch, daß ein Mal auf ihrer Wange zurückblieb. Der Architekt vollendete bis zur Rückkehr Timurs die Moschee, machte sich dann aber flugs aus dem Staube. Der Herrscher entdeckte das Kußmal; zur Strafe mußten seit jener Zeit Bibi Chanym und alle anderen Frauen seines Reiches ihre Gesichter mit dem Tschatschwan, dem entwürdigenden Pferdehaarschleier, verbergen. – Aber diese Unterdrückung der Frau ist heute im sowjetischen Samarkand ein für allemal abgeschafft.”

Ich frage sie, ob sie einen Freund habe. Sie wird noch eine Nuance rotbäckiger, nickt und schwärmt von ihrem künftigen Bräutigam. Er habe schon eine Wohnung – im allgemeinen müsse man fünf Jahre darauf warten -, sei Doktor, was wolle sie mehr.

Ich möchte wissen, wie sie heiraten werden. “Einen Tag feiern wir bei seinen, den anderen bei meinen Eltern.” Dem alten Hochzeitsritual entsprechend hätten die Usbeken früher – heute noch in einigen Dörfern – anders geheiratet: “Da mußte der Mann einen Kaufpreis für die Braut bezahlen. Und dann feierten beide getrennt, jeder bei seinen Eltern.”

Ich frage sie, was sie tun würde, wenn ihr Doktor verlangte, nach dieser alten Weise zu heiraten. Sie sagt: “Weil ich ihn liebe, würde ich seinen Wunsch respektieren.”

Wieder zu den Denkmälern. Der mit einem Kuß belohnte Architekt hatte aber trotzdem sehr nachlässig gearbeitet. Auf der Giebelseite der Moschee reichte der Platz nicht für die Inschrift: “Timur ist der Schatten Gottes auf Erden”, und so wurde daraus: “Timur ist der Schatten…” Bald nach der Einweihung der Moschee Bibi Chanym begannen die Mauern zu reißen. Es blieben Ruinen. Sowjetische Experten restau­rieren sie heute kunstgerecht. Vor einigen Jahren kam ein berühmter Häusertranspor­teur nach Samarkand, um das einsturzgefährdete Minarett der Moschee wieder zu richten. Es war Imanuel Gendel, der schon andere wichtige Gebäude des Sowjetlandes verrückt hatte. 1925 beispielsweise “verschob” er das siebenstöckige Haus des heuti­gen Finanzministeriums, und 1938 rückte er den 150000 Tonnen schweren Stadtsowjet um 1346 Zentimeter nach links. (Ich hätte auch schreiben können: ,,… 1346 Zen­timeter nach rechts”, aber es kommt immer auf den Standpunkt an, von dem aus man eine Sache betrachtet.)

Blumengesicht erzählt: “Mit sechzig hydraulischen Hebezeugen hat er unser Minarett angehoben, und als es wieder kerzengerade stand, stabilisiert.” Sie unterbricht sich, schaut mich prüfend an, um gewiß zu sein, daß ich auch genau zuhöre, und sagt: ,,So rücken wir heute auch die Geschichte gerade.”

Vor dem Registan zeigt sie mir am Eingang der Medressen vergoldete Koransprüche. Ob sie den Koran gelesen habe? Nein, sagt sie, sie sei Komsomolzin.

Dann laufen wir durch Schach-i-Sinda, die Totenstadt von Samarkand.

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Rechts und links neben der breiten Haupttreppe drängeln sich die kunstvollen Totenhäuser. Eines steht über dem anderen – kuppelbehütet, majolikagekachelt, mosaikgeschmückt. Jeder dieser Tempel gehört dem Leichnam eines heiligen Politikers oder politischen Hei­ligen des alten Orient. Die meisten Gruftplätze ließ Timur für seine Verwandten und Freunde reservieren. Doch weil deren Titel wohl nicht werbewirksam genug waren, begrub man daneben einen anderen “Namen” – Kussam ben Abbas, den Cousin von Allahs Stellvertreter Mohammed. Dieser heiligste Prophet, der in der obersten Mo­schee der Samarkander Totenstadt Schach-i-Sinda liegen soll, war weder vor noch nach seinem Tode in der Stadt gewesen, doch das störte die nun zu Tausenden an sein Grab pilgernden Mohammedaner nicht. Die Hauptsache war, daß der Heilige ihre Bitten erhörte und ihre Sehnsüchte erfüllte. Die Frauen flehten um Kinder, die Männer beteten wegen des fehlenden Reichtums. Meistens waren es die ärmsten der armen Mohammedaner, die hierher wallfahrteten, diejenigen, die kein Geld für die seligmachende Reise nach Mekka besaßen. Sie rannten die Stufen bis zu Kussams Grab Hunderte Male hinauf und hinunter, um sich so die Gnade Allahs zu verdienen. Dabei mußten sie noch laut und genau zählen. Jeder Fehler bedeutete: alle Stufen kniend und die Steine küssend noch einmal zu wiederholen.

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Ich zähle. Einmal 36. Dann 38. Und küsse keine Stufe. Gulja lacht. ,,Das ist doch alles Geschichte. Heute glaubt bei uns kaum noch einer an Allah. Damit haben wir keine Probleme mehr.”

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Sie verabschiedet sich, um schnell etwas zu besorgen und kommt wenig später mit drei Weißbroten, einer Flasche Kognak, zwei dicken Würsten, Tomaten, Paprika­schoten und Zwiebeln zurück. Ich frage, ob sie eine Familienfeier plant. Blumenge­sicht schüttelt den Kopf, das ginge zur Zeit nicht. “Die Großmutter fastet gerade drei­ßig Tage, ißt und trinkt nichts von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. So, wie es der Koran verlangt.”

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Gulja hat sich verabschiedet, und ich überlege, wie es heute die gläubigen Kol­chosbauern, die tags schwer auf den Feldern arbeiten, die Weberinnen, die im Drei-Schicht-Rhythmus in den neuen Großbetrieben an den modernen Maschinen stehen, mit dem Fasten halten.

Fragen ohne Antworten.

Ich gehe zum Hotel zurück und unternehme beim Intouristleiter meinen vierten Versuch mit der Sprawka – zu deutsch: Bescheinigung. Er bedauert. Ich solle es nicht falsch verstehen, doch ich sei ihm als Tourist avisiert worden. Und er wäre lediglich da­für verantwortlich, daß Touristen alle Samarkander Sehenswürdigkeiten besichtigen könnten. Für Interviews mit alten Mohammedanern, Restauratoren, Bürgermeistern, Parteifunktionären sei er nicht zuständig. Und die Instanzen hätten noch nicht geant­wortet. Ich solle später noch einmal nachfragen.

Dieses Mal vergißt Itkar Samatowitsch Tureznow sogar sein ,,Wsjo budjet choroscho…” Mir bleibt nichts anderes übrig: Ich werde mir noch eines der Denkmäler anschauen, das Mausoleum Gur Emir, Grabstätte des Welteroberers Timur.

In der Totenhalle des größten asiatischen Kriegers baumelt am Ende einer Stange der Schwanz eines Jaks. Es ist ein religiöses Zeichen dafür, daß in der Grabkammer die Gebeine eines Heiligen bleichen. Hier sind es gleich zwei Heilige. Nur-Addin-Bassur, der “vierzehnte Heilige”, und Scheich Burchan Addin. Beide ließ Timur aus ihren alten Gräbern holen und in Gur Emir neben seinem Lieblingsenkel Muchammed Sultan bestatten, damit sie durch ihren guten Namen reichlich Pilgerpublikum anlockten. Ein Jahr nach dem Tod des Enkels wurde auch Timur im Mausoleum Gur Emir begraben.

Am Eingang zur Gruft steht: “Glücklich ist, wer die Welt verläßt, ehe sie auf ihn verzichtet!” Timur starb als fast Siebzigjähriger am 18. 2. 1405 beim Feldzug gegen China am Suff.

Weiter ist zu lesen: “Wenn ich noch lebe, sollen die Menschen erzittern!” Vor Delhi wurden auf Timurs Befehl 100000 Gefangene erschlagen, und bei Bagdad er­richteten seine Krieger eine Triumphpyramide aus 90000 Schädeln. Als Baumaterial für seine Festungen verwendete Timur mit Vorliebe an Stöcke gebundene Soldaten, die er mit Lehm und Mörtel übergießen ließ.

Auf der Grabplatte erfährt der Besucher Wundersames aus der Genealogie Timurs. Danach soll er geradewegs von Tschinggis-Chan abstammen, und sein Urahn gar wurde mit Hilfe der göttlichen unbefleckten Empfängnis geboren. Ein Sonnenstrahl habe die Mutter des Urahns befruchtet.

Geschichtlich ist erwiesen: 1336 wurde Timur bei Schachrisjabs im Stamme von turkisierten Mongolen geboren. Als das Reich des Tschinggis-Chan zerfiel, rottete sich Timur mit anderen armen Teufeln zu einer Bande zusammen. Sie stahlen zuerst nur Schafe. Aus den Schafdieben wurden Räuber, und aus den Räubern Eroberer, die mordend eine Stadt nach der anderen besetzten. 1370 ließ sich Timur in Samarkand zum Herrscher ausrufen und begann seine Feldzüge nach Indien, Mesopotamien, Kleinasien, dem Iran, dem Kaukasus, ins Land der Goldenen Horde bis an die Wolga und nach China. In seiner Residenz, wo es bei allen Festlichkeiten Timurs Spezialität -im Ganzen gebratene Pferde gab, verweilte er von 1370 bis 1405 nur achtmal. Die üb­rige Zeit organisierte und inszenierte er die schrecklichsten Kriege der damaligen Geschichte. Er hinkte, da er sich bei einem Kampf ein Bein verletzte, seit seinem achtundzwanzigsten Lebensjahr. Daher auch sein Name – Timur i lenk, Timur, der Lahme.

1941 öffnete der Anthropologe Gerassimow, Mitglied der Akademie der Wissen­schaften der UdSSR, das über 500 Jahre lang unversehrte Grab Timurs. Die Gebeine des Welteroberers lagen in einem Sarg aus Artscha-Wacholderholz. Einige Mitarbeiter wurden ohnmächtig, so stark war der narkotisierende Duft der Kräuter, die den Leichnam frisch erhalten sollten. Gerassimow bestätigte: Ein Bein des Timur ist kür­zer. Und auch die Legende, wonach Timur rothaarig gewesen sei, erwies sich als wahr. Auf dem Kopf fand Gerassimow lange rote Haare. Anscheinend hatte der alte Krieger vor der letzten Schlacht keine Zeit mehr gehabt, sich den Schädel ratzekahl scheren zu lassen, wie es der Islam vorschreibt.

Als sich die Nachricht von der Graböffnung verbreitete, prophezeiten alte Usbeken: “Man hat den großen Mörder aus dem Sarg herausgelassen, nun geht seine Seele um, und er wird wieder Schrecken über die Menschheit bringen.” Im gleichen Jahr überfiel Hitler die Sowjetunion. Alle Grausamkeiten Timurs verblaßten in den nächsten Jahren vor den Bestialitäten der faschistischen Mörder. Wie viele Tote Samarkand betrauert, weiß ich nicht. Gulja kennt eine andere Zahl: 52 Samarkander wurden Hel­den der Sowjetunion, und 50 000 erhielten während des Krieges Orden und Medaillen.

Meine Gedanken schweifen ab, ich erinnere mich an einen Tag während meiner er­sten Reise in die Sowjetunion. Das war vor fünf Jahren, in Obninsk, der Stadt, in der das erste Atomkraftwerk der Welt errichtet wurde.

9. Mai. Tag des Sieges. Zehntausende Menschen drängen sich um einen schlichten Granitsockel. Vor dem Stein der rote Stern aus Metall. Zwei Soldatenketten wehren den Ansturm der Menge ab. Als ein gepanzertes Fahrzeug mit dem ewigen Feuer – am Vortage in Moskau entzündet und nachts nach Obrinsk gefahren – auftaucht, muß eine dritte Soldatenkette gebildet werden. Die Flamme lodert inmitten des metallenen Sterns. Die Alten nehmen die Pelzmützen ab, die Jungen die Hüte. Die Väter lassen die Kinder oben auf den Schultern. Die Menschen durchbrechen die Absperrung. Sie wickeln Tulpen, Veilchen und Buschwindröschen aus dem Zeitungspapier, das die zarten Blüten vor dem Maifrost schützen soll. Ein altes Mütterchen kniet vor dem Granitsockel. Sie legt zwei Tulpen zu den übrigen. Als sie nach einer halben Stunde immer noch bewegungslos auf dem kalten Erdboden verharrt, führen sie zwei junge Männer behutsam in die Menge.

Ich finde schwer zurück zu den lachenden, pluderhosigen usbekischen Mädchen und den turbantragenden, auf Eseln reitenden Mohammedanern.

Grübelnd setze ich mich auf einen abgestellten alten Karren. Nach etwa einer Stunde bietet mir ein Usbeke, der mich anscheinend schon lange beobachtet hat, einen frischen Weizenfladen an.

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Dieser Usbeke ist Rachim, Arbeiter aus Superphosphatny. Er hatte elf Geschwi­ster. Als er 1927 sechs Jahre alt wurde und zur Schule mußte, brachte ihn sein ältester Bruder Rustam in das große Gebäude. Der Vater arbeitete im Steinbruch, und die Mutter schämte sich, mit Schleier zur Schule zu gehen, denn ihr Gesicht unverhüllt in der Öffentlichkeit zu zeigen, das wagte sie damals noch nicht. So ging Rachim allein mit seinem Bruder.

Zwei Geschichten aus seinem weiteren Leben.

Die erste handelt davon, wie Rachims Vater das Lesen lernen sollte.

Noch 1930 war er Analphabet wie seine Großväter und Urgroßväter. Im Steinbruch sagte ihm der Meister: ,,Du wirst Vorarbeiter, aber dazu mußt du vorher lesen und schreiben lernen.” Daraufhin hörte der Vater auf zu arbeiten. Die Mutter wehklagte, aber es war umsonst. Der Vater saß nur noch von früh bis abends in der Teestu­be. Nach zwei Monaten ging er so kommentarlos, wie er weggeblieben war, wieder in den Steinbruch. Vorarbeiter wurde er nicht mehr. Aber fünf Jahre danach erfuhr Rachim, daß sich der Vater seinerzeit von einem Freund in der Teestube heimlich das Lesen und Schreiben hatte beibringen lassen.

Die zweite Geschichte handelt davon, wie Rachim einen Leiter absetzte.

Als Rachim aus dem Krieg nach Hause kam, hatte er noch keinen Beruf. Er arbei­tete als Gehilfe in einem Gemüselager. Später wurde außerhalb der Stadt ein großes Düngemittelwerk gebaut. Rachim lernte in der Abendschule das Einmaleins der Che­mie. Er wurde Filterwärter. Im Werk produzierten sie Superphosphat für die Baumwollfelder. Aber anfangs schafften sie viel weniger als geplant war. Zwar gab es für die Bedienung jeder Anlage und jedes Filters genaueste Gebrauchsanweisungen, doch Ra­chim überlegte, ob es vielleicht auch anders, produktiver gehen würde. Er fragte sei­nen Leiter, einen studierten Menschen. Der sagte nur: Keine eigenen Experimente, so etwas verantworte ich nicht – Vorschrift bleibt Vorschrift! Rachim entgegnete, ob er wisse, wie schlecht die Baumwolle auf den Feldern stehe und daß die Bauern auf jede Tonne Dünger warteten. Das interessiere ihn nicht, sagte der Leiter, ohne Anweisung von oben riskiere er nichts. Rachim probierte seine Methode allein. Die Grundidee stimmte, die Berechnungen nicht – der Filter flog auseinander. Der Leiter ließ Rachim bestrafen. Ein Jahr lang mußte er auf 20 Prozent seines Lohnes verzichten. Aber Ra­chim wußte, daß mit seiner Methode bei richtigen Zahlen mehr produziert werden könnte als nach den veralteten Gebrauchsanweisungen. Er stand eines Tages in der Be­triebsversammlung auf und sagte, was hier gemacht werde, sei nicht schöpferisch. “Man pocht auf eine Anweisung, ohne selbst den Kopf zu bemühen. Das ist bequem. Und der Leiter muß keine Verantwortung tragen, nichts selbst entscheiden.” Seit dieser Versammlung war Rachims Kampf keine persönliche Sache mehr. Vier Monate später gelang es ihm nachzuweisen, daß seine Methode funktionierte. Auf einer Sit­zung der Abteilung wurde der Leiter abgelöst. Inzwischen produzieren die Chemie­arbeiter von Superphosphatny jährlich rund eine Million Tonnen Dünger.

Ich frage Rachim, ob er Parteimitglied sei. “Nein”, sagt er. “Man hat mich noch nicht für würdig genug befunden.” Erst müsse er seine fachliche Spezialausbildung abschließen, sein Allgemeinwissen verbessern, auch die Sauberkeit am Arbeitsplatz. “Eher nehmen mich die Genossen nicht auf. Aber ich bemühe mich, ein Kommunist zu werden.”

Während des Gesprächs will ich noch zwei Weizenfladen holen. Rachim merkt es, bittet mich freundlich, aber bestimmt, sitzenzubleiben, und kommt mit Fladen, Trau­ben und süßem Rotwein wieder. “Bei uns”, lächelt er, “ist ein Gast die größte Ehre, ein Festtag für die ganze Familie. Das lernen schon die Kinder.” Er lädt mich für den nächsten Tag ein, heute müsse er mit seinem Chef noch Material holen. ,,Dann nehme ich dich mit in unser neues Werk. 1000 Menschen arbeiten dort. Ich zeige dir meine Anlage. Und vielleicht besuchst du bei euch einmal einen Chemiebetrieb, dann grüß die Leute dort, erzähl ihnen, wie wir hier arbeiten.”

Gern, sehr gern, Rachim! Aber morgen früh muß ich nach Buchara weiterfliegen.

 

Er ist untröstlich. Da nimmt er seine seidenbestickte usbekische Tjubeteika, die schon lange Zeit getragene und für ihn deshalb wohl um so wertvollere Kopfbedeckung, und setzt sie mir auf.

Ich habe einen Freund in Samarkand.

Eine Stunde später sitze ich wieder beim Leiter von Intourist. Es ist mein letzter Versuch mit der Sprawka – zu deutsch: Bescheinigung. Nein, die Instanzen hätten leider nicht geantwortet. Aber morgen, vor dem Abflug, wäre ja noch Zeit für ein kurzes Gespräch mit Bürgermeister, Restauratoren, alten Mohammedanern, Deputierten, Parteifunktionären. Es werde alles getan, denn ich sei Gast. Und in Usbekistan sage man: Der Gast wird mehr als der eigene Vater geschätzt! ,,Wsjo budjet choroscho – es wird alles gut werden!”

Als ich schon gehen will, fällt ihm ein, daß in der Hotelhalle ein Rundfunkreporter aus Taschkent auf mich warte. Es hätte sich herumgesprochen, daß ein Schriftsteller aus der DDR hier wohne. Ob ich ihm ein Interview geben könne? In Drei-Teufels-Namen sagte ich ja. Der Reporter macht eine Sendung zum Jahr der Frau und bittet mich um meine Eindrücke über die usbekischen Frauen, ihre Gleichberechtigung.

Einerseits möchte ich den Berufskollegen nicht auf dem trockenen sitzenlassen, andererseits, was weiß ich schon von den Frauen Usbekistans, von ihrer Emanzipa­tion? Meine Antwort beschränkt sich auf Äußerlichkeiten wie Schönheit und Selbstbewußtsein, dazu kommt das Ergebnis eines kleinen Experiments, das ich auf dem Weg zum Hotel machte. Ich befragte ungefähr 25 Frauen nach ihrer Bildung; 10 von ihnen hatten eine Fach- oder Hochschule besucht.

Nach dem Interview biete ich dem Reporter einen Nordhäuser Doppelkorn an. Er möchte wissen, ob ich auch Taschkent besuchen werde. Ja, am Donnerstag. “Da müssen Sie unbedingt mein Gast sein! Ich lade Sie für Freitag ein, und Sonnabend können wir zusammen in die Umgebung der Stadt fahren.” Ich bedanke mich. Und bitte ihn dann, mir in Taschkent zu helfen, damit ich das Textilkombinat und die Landmaschi­nenfabrik besichtigen kann. Er fragt, ob ich dazu eine Genehmigung vom sowjetischen Schriftstellerverband oder einer anderen Institution habe. Nur diese Sprawka, sage ich, und gebe ihm das Schreiben des Verlages. Er liest es lange, dreht es um, sucht etwas, schüttelt den Kopf, liest es noch einmal und gibt es mir zurück. “Es fehlt ein Stempel. Kein einziger Stempel drauf. Was ist das schon für eine Sprawka, ohne Stempel…”

Und plötzlich sagt er, sich verlegen entschuldigend, er hätte vergessen, daß er Frei­tag, Sonnabend und Sonntag wegfahren müsse. Es täte ihm leid. Aber Montag vor meinem Weiterflug sei er wieder im Studio. Ich solle ihn vor dem Abflug aus Taschkent unbedingt anrufen. Er trinkt nicht aus, verabschiedet sich sehr schnell und sagt in der Tür noch einmal:

“Vergessen Sie nicht, und rufen Sie vor dem Abflug an…”

Gulja, die während des Interviews dabei war, stellt fest: “Ihnen könnte nur jemand vom Gebietsparteikomitee helfen.”

Mir verbleibt lediglich eine Nacht, Samarkand ohne Genehmigung zu erkunden. Und weil ich nicht glaube, daß ich noch irgendeinen Stempel erhalte, daß irgendein Fernschreiben, Telegramm oder anderes amtliches Wunder gesandt wird, gehe ich dorthin, wo Gastlichkeit, aber leider keine offizielle Information geboten wird – ins Restaurant des Hotels. Ich sitze nicht lange dort, mir fehlt die nötige Ruhe für Schaschlik und Tschai. Bald schlendere ich wieder ziellos durch die nächtliche Stadt. Plötzlich habe ich einen unaufschiebbaren Wunsch. Ich möchte wissen, was nachts auf dem orientalischen Basar von Samarkand geschieht.

Ein Tor des Basars steht noch offen. Die Geschwätzigkeit ist verschwunden. Spa­ziergänger bummeln wie im Kulturpark. Die schmale Mondsichel beleuchtet nur spär­lich die Konturen der Melonenhaufen. Erst als sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt haben, erkenne ich, daß neben den Melonen Männer auf Teppichen hocken oder liegen. Einige haben sich mit Tüchern zugedeckt und schlafen schon. Andere sit­zen und schlürfen Tee. Sie sprechen kaum. Und wenn, dann flüstern sie.

Ich suche Abdurafit. Bei seinen Melonen finde ich ihn nicht. Auf seiner Waage aber steht wie ein Götzenbild eine Porzellankachel mit Thüringer Pfefferkuchenmuster. Ich hatte sie ihm am Vormittag geschenkt. Die Nachbarsleute sitzen und würfeln. Abdurafit sei weggegangen, berichten sie mir. Sie rücken zur Seite und machen mir Platz auf dem Teppich. Ein schon Grauhaariger schiebt mir ein Kissen unter den Hintern, der andere reicht mir Teller mit Käse und Wurst, Tomaten und Zwiebelscheiben. Solange ich esse, spricht keiner. Erst als ich die Weintrauben probiert habe und mir dann den Mund abwische, fragen sie, aus welcher Stadt ich komme. Dann möchten sie wissen, wie die Thüringer Bauern in den Bergen arbeiten, ob viele Steine vom Acker zu lesen seien und ob die Schafe genug Futter auf den Weiden finden würden.

Die zwei kommen aus kleinen usbekischen Dörfern. Der ältere, er wird etwa fünfzig Jahre alt sein, heißt Batir, der Recke. So hat ihn sein Vater genannt. Batir kann sich nicht mehr an ihn erinnern. Kaum, daß der kleine Usbeke laufen gelernt hatte, verließ der Vater das Dorf mit dem unfruchtbaren Wüstenboden. Er wollte der Familie die goldene Erde suchen. Ein Jahr lang zog er in der neu gegründeten Usbekischen SSR umher, dann ging er nach Afghanistan. Batir erzählt: “Meine Mutter”, er küßt einen um seinen Hals hängenden goldenen Halbmond, “meine Mutter schrieb ihm, nein, nicht in Buchstaben, das hatte sie nie gelernt. Sie schickte ihm ein Päckchen mit Stroh und Kohle. Das sollte ihm sagen: Ohne deine Liebe bin ich gelb geworden wie Stroh und so schwarz wie Kohle. Doch er kam nicht mehr zurück. Meine Mutter und der Großvater haben die acht Kinder großgezogen. Wir trugen die Sachen der älteren Geschwister und aßen das Brot von Leuten, die uns aus Mitleid etwas schenkten. Ich blieb auf dem Dorf und erlernte das Bewässern der Wüste. Wir Usbeken sagen: Steck einen Stock in den Sand und gib ihm reichlich Wasser, dann wird er Blätter und Blüten treiben. Viele Jahre plagten wir uns mit dem Sand, tränkten ihn mit süßem Wasser und unserem salzigen Schweiß. Endlich konnten wir auf den ersten Feldern Baumwolle säen. Als die weißen Blüten ihre Kapseln sprengten, gebar mir Fatima, meine Frau, die erste Tochter. Wir nannten sie Schachadat, den Beweis. Ein Jahr später vernichtete der Sandsturm das neue Land. Einige alte Leute schimpften: Nun geht und sucht Hilfe gegen das Unglück, das ihr selbst heraufbeschworen habt, denn nicht Allah gab uns diesen Boden. Aber wir, die die Wüste verdrängen wollten, hatten uns nicht auf das Kamel gesetzt, um uns nun hinter der Ziege zu verkriechen. Deshalb pflanzten wir schützende Bäume um die neuen Felder. Wir gaben den Bäumen mehr Wasser als der Baumwolle und dem Reis, denn sie sollten die Recken und Wächter unseres Reichtums werden. Als ihre Wurzeln ausreichten, um selbst Wasser unter dem Sand zu finden, schenkte mir meine Frau die zweite Tochter. Wir nannten sie Dilorom, Trost des Her­zens. Nachdem die Bäume so stark waren, daß sie den ersten Sandsturm abhielten und wir eine reiche Ernte hatten, sagte ich zu meiner Frau: Sind Kinder da, ist das Haus ein Basar. Sind keine Kinder da, ist das Haus ein Masar (Mausoleum). Und wir begrüßten unseren ersten Sohn, den wir zu Ehren der kräftigen Bäume Schuchrat, den Ruhm, nannten.

Dann kamen die Maschinen in den Kolchos. Sie säten und hackten und ernteten die Baumwolle. Doch ihnen waren unsere Bäume im Weg. Da ordneten die Verantwort­lichen des Kreises an: Fällt die Bäume, ihr braucht jetzt große Flächen! Wir antworte­ten, daß die Bäume die Wächter unseres Reichtums seien. Doch sie meinten: Nur die Maschinen brächten den Reichtum. In der Kolchosversammlung redete ich zum ersten Mal und sagte, daß, wer am Schwänze der Karawane trotte, oft nichts sehen könne vor lauter Staub. Wir aber würden die Erde hier besser kennen, denn wir hätten sie mit unserem Schweiß lebendig gemacht. Auch andere sprachen so. Denn redet man, brennt nur die Zunge, aber redet man nicht, brennt die Seele. Manche schwiegen auch, doch Schweigen bedeutete Einverständnis. Und so wurden einige Bäume gefällt. Zwar konnten die Mechanisatoren anschließend mit den großen Maschinen säen, aber noch vor der Ernte fraß der Sandsturm die Früchte der Arbeit. In diesen Tagen meinten viele Bauern: Wir wollen von hier weggehen, um endlich den goldenen Boden zu finden. Denn das Wasser ist das Blut des Bauern und die fruchtbare Erde seine Seele. Doch Fatima schenkte mir damals meinen zweiten Sohn. Wir nannten ihn Dijor, das bedeutet Heimat. Im Kolchos wehklagten einige Leute: Es war immer so – wer das Licht ent­zündet, bleibt selbst im Dunkel. Denn anderswo arbeiteten sie inzwischen mit Maschinenkomplexen. Und nur bei uns wegen der kleinen Flächen und den sie schützenden Bäumen sollte es nicht möglich sein? Ein Mensch ohne Streben gleicht einem Stück Lehm. Also pflanzten wir, soweit das Auge reichte, einen neuen Schutzstreifen, der alle unsere Felder wie ein breiter grüner Gürtel umgab.

Das war im Frühling 1968, als Fatima mir unsere dritte Tochter gebar. Sie heißt Gulbachar, Zeit der Blüten aller Bäume. Heute sind die neuen Bäume schon so stark, daß wir im Inneren des Landes die alten, trennenden fällen können. Wir besiegten den Sand, und auch die Maschinen sind unsere Freunde geworden. Vor zwei Jahren schenkte uns Allah die vierte Tochter. Sie heißt Gultschechra, die ‘Schöne – mit dem einer Rose gleichenden Gesicht’… ”

Als Batir mit seiner Erzählung zu Ende ist, trinken wir wieder Tee und schweigen.

Der andere Bauer unserer nächtlichen Basarrunde wohnt in einem Dorf, das vor zehn Jahren noch nicht existierte. ,,Als wir dort 1965 unsere Häuser zimmerten”, erzählt Scher, der so aussieht, wie er heißt, denn Scher bedeutet Löwe, “gab es auch alte Leute, die noch einmal neu beginnen wollten. Sogar Greise waren dabei. Sie versorgten die Enkelkinder, während die Eltern auf dem Feld arbeiteten. Nachdem das Fun­dament für unser Kulturhaus ausgebaggert war, sagten sie: Baut uns bitte auch eine Moschee und ein Minarett, wie können wir sonst zu Allah beten! Aber für solche Gebäude hatte der Sowchos kein Holz geplant. Wir machten eine Versammlung und fragten alle Einwohner der neuen Siedlung: Sollen wir drei Häuser weniger, dafür aber eine Moschee und ein Minarett errichten? Nein, sagten die meisten, die Häuser sind wichtiger. Wir bauten die Häuser. Aber viele sparten insgeheim ein paar Bretter und Balken. So reichte das Holz anschließend auch noch für ein Minarett. Ein wandernder Prediger ruft dort täglich, aber nicht mehr fünfmal, zum Gebet. Doch lediglich die Al­ten im Ort folgen seiner Aufforderung. Die Bauern vom Feld kommen nicht, ihnen ist vielleicht der Weg zu weit oder der Lohnausfall zu groß. Einige Traktoristen nahmen manchmal ihren ,Stalinez’ und fuhren damit bis zum Gebetsplatz. Aber die Bauern sprachen auf der Versammlung: Allah gibt dem Sowchos kein Geld für das Benzin! Also lauft! Gelaufen sind sie nicht.”

Ich frage Scher, wie es die gläubigen Sowchosarbeiter mit dem Fasten halten und erfahre, daß die höchste islamische Behörde Mittelasiens und Kasachstans allen, die schwer arbeiten, das Fasten erlassen hat.

Nach dem Tee zaubern die zwei von irgendwoher eine kleine Flasche Wodka her­vor. Ich habe wie immer – eine alte Reportererfahrung, seitdem ich die Spreewälder kenne – eine Flasche Korn in meiner Umhängetasche. Wir trinken abwechselnd deut­schen Korn und russischen Wodka. Wenn ich das nächste Mal nach Samarkand kom­men würde, solle ich sie in ihren Dörfern besuchen. Sie wären glücklich, einen Gast zu begrüßen, der aus einem Lande käme, in dem die Bauern auch die Steine vom Boden lesen mußten und die Gutsherren verjagt hätten. Der Abschied dauert lange. Und das nicht nur, weil das Basartor- ,,sonst ist es fast immer offen”, sagt Scher – inzwischen verschlossen wurde. Als der Milizionär um die Ecke verschwindet, stützen mich die zwei, damit ich über die Basarmauer klettern kann.

Abdurafit ist immer noch unterwegs. Wie wird er über die Mauer kommen und sein Teppichlager neben dem Melonenhaufen finden, überlege ich, während ich mich im Hotelbett ausstrecke.

In dieser Nacht höre ich weder das Geheul der vielen herrenlosen Samarkander Hunde, deren Funktion (früher vielleicht unentbehrliche vierbeinige, restefressende Hygienepolizei?) ich nicht erkundet habe, noch spüre ich die Hitze oder merke etwas vom Zeitunterschied Suhl – Samarkand. Frage mich, ob es überhaupt einen gibt. Aber natürlich: Die orientalische Stadt liegt 56 Längengrade östlicher.

Am Morgen vor dem Abflug frühstücke ich ohne Hast, benötige dazu zwei Stunden. Erst Kefir und Schwarzbrot, dann Smetana – dicke saure Sahne und Quarkkeul­chen. Zwischendurch Tomatensalat. Schließlich gebratene Spiegeleier auf einer silber­nen Schüssel. Danach Kuchen, Tee und Konfitüre.

Als ich mit meinem gepackten Koffer die Treppe des Hotels hinuntersteige, kommt der Intouristdirektor, um sich zu verabschieden. Er sagt: Ich habe noch einmal versucht, Ihnen die Gesprächspartner zu beschaffen. Leider sind alle zur Baumwollernte gefahren…

Der Bürgermeister? frage ich.

Er ist zur Baumwollernte, sagt er.

Die Abgeordneten? frage ich.

Sie sind in der Baumwollernte, sagt er.

Die Restauratoren? frage ich.

Sind in der Baumwollernte, sagt er.

Die Architekten? frage ich.

In der Baumwollernte, sagt er.

Das Gebietsparteikomitee? frage ich.

In der Baumwolle, sagt er.

Die neunzigjährigen gläubigen Mohammedaner? frage ich.

… Baumwolle, sagt er und schaut auf seine Schuhspitzen.

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Ich umarme ihn zum Abschied.

Chair! Auf Wiedersehen, Samarkand, du offiziell für mich so unerkundbare Stadt.

Notizen zur Geschichte

Das Gebiet der heutigen usbekischen und turkmenischen Sowjetrepubliken war zu Timurs Zeit ein Sprungbrett zur Eroberung Indiens. Neunzehn von zwanzig Feldzü­gen führten über Mittelasien und Afghanistan in Richtung Delhi. Im 18. und 19. Jahrhundert – Indien war englische Kolonie – begann sich auch die russische Regierung für Elfenbein, Tabak, Tee und Kulis aus Indien zu interessieren. Zar Paul I. formulierte es so: ,,Die Leiden, unter denen die Bevölkerung Indiens seufzt, haben Frankreich und Rußland mit lebhaftester Anteilnahme erfüllt, und die beiden Regierungen haben be­schlossen, ihre Kräfte zur Befreiung Indiens von dem barbarischen Joch der Engländer zu vereinen.”

Um aber von Moskau aus das Land am Ganges zu erobern, mußte der Zar zuerst die mittelasiatischen Emirate und Chanate wie Buchara und Chiwa entweder als Ver­bündete gewinnen oder besetzen. Die Briten wußten, daß die russischen Truppen, wenn sie in Buchara, Samarkand und Aschchabad standen, leichtes Spiel haben wür­den, nach Indien zu gelangen. Also versuchten sie, ihren Einfluß in diesem Raum zu vergrößern, um den russischen Eroberungsplänen einen Riegel vorzuschieben.

Das militärisch-diplomatische Gefecht um die Vorherrschaft in Mittelasien wurde durch Zar Alexander I. eröffnet. Er schickte 1803 seine Soldaten in die Kysyl-Kum-Wüste, doch sie wurden mühelos von den Truppen des Emirs und von der Hitze erle­digt. Notgedrungen verlegte sich die zaristische Regierung nun auf diplomatische An­biederungsversuche (um wenigstens die gefangenen Russen loszubekommen). Die Engländer gerieten dadurch in Zugzwang und entsandten 1824 Mister Moor als Vertreter Englands an den Hof nach Buchara. Der Brite erreichte die Stadt, starb jedoch auf dem Rückweg. Als nächsten schickten die Engländer von Indien aus Leutnant Wybard zum Emir. Er verkleidete sich als Mohammedaner, doch als er sich weigerte, auch den islamischen Glauben anzunehmen, wurde ihm in Buchara der Kopf abgeschlagen. Daraufhin beschloß England, einen offiziellen, von Ihrer Majestät der Köni­gin bestätigten Botschafter an den Hof des Emirs zu delegieren: Leutnant-Colonel Charles Stoddart.

Stoddart kam mit wichtigem Auftrag. Er sollte den Emir über die Invasion der Engländer in Afghanistan informieren und ihn überzeugen, daß dem Emirat und den Chanaten keine Gefahr drohe, wenn sie sich mit den Engländern gegen die Russen verbünden würden…

Als Stoddart am 17. Dezember 1838 in Buchara eintraf, regierte dort der Emir Nas-rullah, der zuvor seinen Vater, den älteren Bruder und drei jüngere Brüder ermordet hatte. Stoddart erhielt eine Audienz beim allmächtigen Emir, doch er vertraute zu sehr dem großmächtigen England, stieg während des Gesprächs nicht vom Pferd und hatte auch keine Geschenke mitgebracht. Also ließ Nasrullah den Diplomaten Ihrer Maje­stät der Königin von England in den mit Leichen und Schlangen gefüllten Siah Tscha, den Schwarzen Brunnen, werfen. Später durfte er wählen, entweder bei lebendigem Leibe begraben zu werden oder die Religion zu wechseln. Zwar glaubte Stoddart im­mer noch, “daß die britische Regierung ihre Ehre verteidigen muß und daher mich oder meine Gebeine befreien wird”, aber das Hemd war ihm näher als der Rock, er ließ sich beschneiden und wurde Muselman.

Inzwischen zogen die Russen unter General Perkowski mit 5000 Soldaten, 22 Geschützen und einigen tausend Kamelen nach Mittelasien. Doch schon beim Anmarsch erfroren ihnen die Hälfte der Kamele, und sie mußten umkehren. Die Engländer ope­rierten erfolgreicher, sie besetzten Kabul und andere Städte in Afghanistan und waren damit fast Nachbarn des Emirs von Buchara, der den britischen Botschafter Stoddart daraufhin wohlwollender behandelte.

Zu diesem Zeitpunkt glaubten die Engländer, die Chanate und Emirate endgültig auf ihre Seite bringen zu können. 1841 kam ein gewisser Conolly nach Buchara, der den Emir überreden sollte, zusammen mit Kokand und Chiwa eine zentralasiatische Föderation unter englischem Schutz und englischer Führung zu gründen. Doch der Termin für Conollys Auftritt war schlecht gewählt, denn zur gleichen Zeit erhoben sich die Einwohner von Kabul und vertrieben die englischen Kolonialtruppen. Der Emir brachte den Botschafter Stoddart daraufhin wieder ins dunkelste Gefängnis, steckte Conolly gleich dazu und ließ beiden 1842 die Köpfe abschneiden.

Etwa 20 Jahre später begannen die Russen ihre militärische Großoffensive in Mit­telasien. Der Direktor des Asiatischen Departements im zaristischen Außenministe­rium, General Ignatew, organisierte zusammen mit Kriegsminister Milutin erfolgreiche Feldzüge gegen die Chanate Chiwa, Kokand und das Emirat Buchara. Sie griffen konzentriert an, und 1868 mußte Kokand einen Vasallenvertrag mit Rußland unter­schreiben. Im gleichen Jahr erkannte auch Said Mussafar Eddin, Emir von Buchara, das russische Protektorat an, und 1873 eroberten die Russen unter General Kaufmann Chiwa. Dann begannen sie, die Transkaspische Eisenbahn zu erweitern und öffneten sich dadurch den Weg nach Persien und Indien. Doch der Zar ließ lediglich die neuen, mittelasiatischen Grenzen seines Reiches befestigen und einigte sich mit den Englän­dern über die Grenzlinie zu Afghanistan. Sie blieb bis nach der Oktoberrevolution unverletzt. Erst dann marschierten die Engländer erneut in Richtung Buchara und Asch-chabad, um ihren Plan von 1841 – eine zentralasiatische Föderation unter britischer Führung – doch noch zu verwirklichen.

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