Damit kein Blut mehr fließt

Ein Beitrag von Lutz Rzehak

[inspic=354,left,,320]Wie der Pakistan Oberserver und andere Medien berichten, sollen in dem Dorf Lanjoo Saghari, das an der Grenze der pakistanischen Provinzen Sindh und Balochistan gelegen ist, Ende Mai dieses Jahres fünfzehn minderjährige Mädchen aus dem Stamm der Chakrani in den Stamm der Qalandari verheiratet worden sein, um eine acht Jahre alte Stammesfehde zu beenden. Die Fehde war ursprünglich entbrannt, weil ein Hund der Qalandari einen Esel gebissen hatte, der den Chakrani gehörte. Im Verlauf der Fehde waren seitdem elf Personen der Qalandari und zwei Personen der Chakrani zu Tode gekommen, darunter eine Frau. Die Übergabe der Mädchen war von führenden Vertretern beider Stämme auf einer gemeinsamen Beratung beschlossen worden.

Blutrache
Blutrache ist in Balochistan und Sindh, aber auch bei Paschtunen dies- und jenseits der afghanisch-pakistanischen Grenze ein anerkanntes Mittel der Konfliktbewältigung. Manche westliche Ethnologen weisen darauf hin, dass eine Blutrache nicht deshalb so genannt wird, weil dabei unbedingt Blut fließen muss, sondern weil als Agenten des so bezeichneten Konflikts blutsverwandte Gruppen in Erscheinung treten. Wörter, mit denen eine Blutrache in einheimischen Sprachen bezeichnet wird (z. B. Balochi hōn[gÄ«rÄ«]  “Blut[nahme]”), sind allerdings kaum geeignet, eine solche Argumentation zu stützen. Andere Wörter in Lokalsprachen (Balochi, Paschto, Urdu und Persisch intiqām ursprünglich: “Regulierung”, Paschto badala eigentlich: “Austausch” oder por eigentlich: “Schuld”, “Ausgleich”) bieten jedoch Hinweise darauf, dass Blutrache als ein Regulierungsmechanismus angesehen wird, der auf Austausch und Ausgleich basiert.

Die Gründe für das Entstehen einer Blutrache sind sicher leichter zu verstehen als die Tatsache, dass die Verheiratung von Mädchen ein geeignetes Mittel sein kann, um eine Blutrache zu beenden oder das (weitere) Vergießen von Blut zu verhindern.

Stammesgesellschaften
Die sozialen Verhältnisse in den Gesellschaften, von denen hier die Rede ist, sind durch eine Untergliederung in hierarchisch strukturierte Stammlinienverbände unterschiedlicher Ausdehnung und genealogischer Tiefe (Stämme, Unterstämme, Clans) gekennzeichnet. Die Beziehungen zwischen den Individuen werden in einem entscheidenden Maße durch verwandtschaftliche Bindungen bestimmt. Dabei wird klar zwischen Blutsverwandtschaft (Verwandtschaft durch Abstammung) und Verwandtschaft durch Eheschließung unterschieden. Mehr noch: Es herrscht die Vorstellung vor, dass Blutsverwandtschaft nur über die väterliche Linie übertragen wird. In bildhafter Weise werden Verwandte über die väterliche Linie in den betreffenden Sprachen dementsprechend gern als “Skelett” oder “Menschen des Rückens”, Verwandte über die mütterliche Linie dagegen als “Fleisch” oder “Menschen des Bauches” umschrieben.
Die hierarchisch strukturierten Stammlinienverbände lassen sich deshalb als Verbände beschreiben, denen jemand aufgrund der Abstammung und Verwandtschaft über die väterliche Linie angehört. Man spricht deshalb auch von patrilinear strukturierten Stammlinienverbänden. Die Zugehörigkeit zu einem solchen Verband erscheint ebenso naturgegeben und verhaltensbestimmend wie etwa das eigene biologische Geschlecht. Außerhalb des Stammlinienverbandes ist ein Leben kaum vorstellbar, da dies ein Leben ohne Unterstützung und Verbündete bedeuten würde.

In einer Gesellschaft, deren wichtigste Moralvorstellungen um Kategorien wie Stolz und Ehre kreisen, wird ein Angriff auf die Ehre einer einzelnen Person deshalb nicht nur als individuelle Schande angesehen, sondern er gilt als Angriff auf die Ehre des gesamten (patrilinearen!) Stammlinienverbandes. Die Forderung nach Verteidigung der persönlichen Ehre und der Ehre des eigenen Stammlinienverbandes schließt deshalb auch die Forderung nach individueller und kollektiver Wehrhaftigkeit ein. Eigentumsdelikte und Ehrverletzungen können somit schnell zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Einzelpersonen und ganzen Stammlinienverbänden führen. Stolz und Wehrhaftigkeit waren auch der Grund, warum im oben beschriebenen Fall der vergleichsweise geringe materielle Schaden, den ein Hundebiss an einem Esel zufügen kann, letzten Endes mehrere Todesopfer zur Folge hatte.

Versuche, die Nutzungs- und Besitzrechte einer anderen Person streitig zu machen, aber natürlich auch Tötungen und Verletzungen, Beleidigungen, Ehebruch und ehebruchähnliche Ehrverletzungen, sind nicht nur gegen eine einzelne Person, sondern gegen einen Stammlinienverband gerichtet, der demzufolge auch für die entsprechenden Sanktionen verantwortlich ist. Diese Gegenmaßnahme wird in der Form einer Blutrache vollzogen, wobei auf beiden Seiten tatsächlich blutsverwandtschaftliche (patrilineare) Gruppen in Aktion treten. Es ist dabei ein wesensbestimmendes Merkmal von Blutrache, dass diese meist nur gegenüber Gruppen vollzogen wird, die in sozialer Hinsicht als ebenbürtig angesehen werden. Das Ziel der Rachenahme besteht nicht nur in der Sanktionierung einer Tat, sondern darin, nach einem Angriff auf Ehre, Eigentum oder Person die ursprüngliche Äquivalenz im Verhältnis zwischen den beteiligten Gruppierungen wiederherzustellen, also einen Ausgleich in materieller, personeller und moralischer Hinsicht zu erreichen.

Ausgleich als Regulierungsmechanismus
Im Falle einer Tötung wird ein Ausgleich zum Beispiel erzielt, indem jemand aus der patrilinearen Verwandtschaftsgruppe der getöteten Person eine Person aus der patrilinearen Verwandtschaftsgruppe jener Person umbringt, die diesen Verwandten getötet haben soll. Die primäre Absicht, einen Ausgleich zwischen beiden Gruppen zu erwirken und gewissermaßen den ursprünglichen status quo wiederherzustellen, erklärt auch, warum nicht immer jene Person getötet werden muss, die für die Tötung des eigenen Verwandten verantwortlich gemacht wird, sondern warum die Rache auch gegen den Bruder oder einen Cousin dieser Person gerichtet sein kann. Das geschieht zum Beispiel dann, wenn der eigentliche Täter geflohen ist, sich versteckt oder aus anderen Gründen nicht greifbar erscheint.

Es gibt eine Reihe von Bräuchen, die eine blutige Rachenahme ersetzen können oder nach vollzogener Rache zu einer Schlichtung des Konflikts beitragen sollen. Dem Stammlinienverband des Geschädigten wird als Ausgleich für den zugefügten Schaden die Zahlung eines Blutgeldes durch den Stammlinienverband angeboten. In vielen Gegenden existieren detaillierte Aufschlüsselungen für die bei einzelnen Delikten zu zahlende Ausgleichssumme. Bei schwerwiegenden Delikten dient dabei nicht selten jene Summe als Berechnungsgröße, die in der betreffenden Gegend im Falle einer Eheschließung für eine Braut zu zahlen wäre, also der nach allgemeiner Einschätzung gängige Brautpreis. Als Ausgleich für die Tötung einer Person ist zum Beispiel häufig die doppelte Summe des gängigen Brautpreises zu entrichten, bei schwerwiegenden Körperverletzungen ein vollständiger Brautpreis, bei weniger schwer wiegenden Verletzungen ein halber Brautpreis usw.
Mitunter kann die Verwandtschaftsgruppe des Täters dem Stammlinienverband des Opfers ein oder mehrere Mädchen übergeben, um der Zahlung des Blutgeldes vollständig oder teilweise zu entgehen. Bringt dieses Mädchen später einen Jungen zur Welt, wird dieser nach den Vorstellungen über patrilineare Blutsverwandtschaft als Mitglied des geschädigten Stammlinienverbandes angesehen und kann in gewissem Sinne als Ausgleich für die getötete oder geschädigte Person gelten. Dies erklärt auch, warum ausgerechnet der durchschnittliche Brautpreis als Berechnungsgröße für die Ermittlung des Blutgeldes gewählt wird. Wo im Fall einer Tötung zum Zweck der Konfliktschlichtung kein Mädchen übergeben wird, sollte also wenigstens so viel Geld gezahlt werden, wie nötig wäre, um ein gebärfähiges Mädchen heiraten zu können.

Blutrache, Stabilität und Sicherheit
Bei Verhandlungen, die eine langwierige Fehde beenden sollen, wird deshalb kaum über die Schuldfrage gesprochen. Primäres Ziel solcher Verhandlungen ist es, im Interesse der allgemeinen Sicherheit, Stabilität und gemeinsamen Wehrhaftigkeit durch Ausgleich den Status quo, also die ursprüngliche Äquivalenz zwischen den Teilgruppen wiederherzustellen. In Gesellschaften, in denen die Zugehörigkeit zu einem patrilinear strukturierten Stammlinienverband ebenso naturgegeben und verhaltensbestimmend erscheint wie das eigene biologische Geschlecht, folgt es einer bestimmten Logik, wenn Äquivalenz zwischen Gruppen an der Zahl ihrer männlichen Mitglieder gemessen wird. Es folgt derselben Logik, wenn die Mechanismen, mit denen die ursprüngliche Äquivalenz zum Zweck einer Konfliktschlichtung wiederhergestellt werden soll, direkt oder indirekt darauf ausgerichtet sind, die ursprüngliche quantitative Äquivalenz in Bezug auf die männlichen Mitglieder dieser Gruppen wiederherzustellen. Die Übergabe von Mädchen, die zum gegebenen oder zu einem späteren Zeitpunkt in der Lage sind, einen personellen Verlust auszugleichen, indem sie für männlichen Nachwuchs sorgen, erscheint nach derselben Logik als akzeptables Mittel, um Konflikte durch einen auf Austausch und Ausgleich basierenden Regulierungsmechanismus zu schlichten.

Jeder Konflikt bringt natürlich auch moralischen Schaden mit sich, den es im Interesse einer Konfliktschlichtung zu kompensieren gilt. Diese Kompensation ist Teil des vereinbarten Blutgeldes. Dies kann erklären, warum der Stamm der Chakrani im oben beschriebenen Fall deutlich mehr Mädchen an den Stamm der Qalandari übergeben musste, als dieser im Verlauf des Konfliktes an Todesopfern zu beklagen hatte. Den Qalandari wurde aufgrund der höheren Zahl an Todesopfern auch ein höherer moralischer Schaden zuerkannt.

Eigentlich sollten in solchen Fällen Mädchen im heiratsfähigen Alter übergeben werden. Über den ob beschriebenen Fall heißt es aber, dass die übergebenen Mädchen zwischen drei und zehn Jahre alt gewesen sein sollen. In der betreffenden Region hält man sich auch bei regulären Eheschließungen kaum an ein gesetzliches Mindestalter. Eheschließungen werden oft schon bald nach der Geburt eines Mädchens vereinbart und lange vor der Geschlechtsreife vollzogen. Ein Mädchen, so glauben manche, sollte sich schon unter der Obhut und Kontrolle ihres Gatten befinden, bevor ein Ehebruch aus biologischen Gründen überhaupt möglich sein könnte. Zudem ist die Ehe mit einem möglichst jungen Mädchen für viele zu einem Statussymbol geworden. Es ist deshalb kaum überraschend, dass diese Denkart auch jene Mechanismen bestimmt, die dafür sorgen sollen, dass bei einer Blutrache kein Blut mehr fließt.

Lutz Rzehak ist Heisenbergstipendiat und derzeit am Zentralasienseminar der Humboldt Universität zu Berlin tätig

Update:

Im Juli 2008 wurde dieser Beitrag von der readers edition zum Artikel des Monats gewählt.

4 Thoughts on “Damit kein Blut mehr fließt

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  4. Differenzen akzeptieren

    Eigentlich muß ich eine Vorlesung zur Gesellschaftsethnologie vorbereiten, aber dieser Kommentar auf der Nachrichtenseite der readers edition gibt mir Gelegenheit der Ersatzbeschäftigung. Schön.

    Auffallend an dem Kommentar ist die aufgeregte Art, in der alles in einem Topf geworfen wird, Fehmemord, Ausgleich, Blutrache, Urwald und so weiter. Wenn wir nicht die Dinge dort belassen, wo sie auch tatsächlich stehen, dann sehen wir die “Türken vor Wien” und nicht die Zustände in den eigenen und fremden Gesellschaften. Ersteinmal ist das Schaffen eines Ausgleichs genau dazu da, um das sinnlose Morden abzustellen. Dazu kommt, dass es in Gesellschaften ohne Staat praktiziert wird, die eigene Stabilitätsmechanismen haben. Wer dabei die Gesellschaft der anderen in der eigenen sieht, der ist wohl gänzlich auf die Panikmache der Allesgleichmacher reingefallen, denn interessanterweise verlangen beispielsweise keine Pashtunen Belutschen usw. von uns, dass wir gleich sein sollen wie sie, sondern wir verlangen es von den Pashtunen, dass sie gleich uns sein sollen.

    Wer sowas denkt, denkt an universelle Werte, und erkennt nicht das es westliche Werte sind. Wer an soetwas denkt, denkt an Kinder- und Menschenrechte und nimmt an, dass in dem oben beschriebenen Fall diese schon verletzt wurden, die Unterstellung der Bestialität des Fremden, xenophobe Phantasien.

    Aus der Sicht der lokalen Bevölkerung ist das jedoch das ganze Gegenteil. Nicht ihr System ist bestialisch, sondern unseres. Denn: Gerade das akzeptieren westlicher Werte würde auch heissen zu akzeptieren, dass eine übergroße Mehrheit über zig Minderheiten bestimmt, die jedoch seit hunderten von Jahren selbstverwaltet sind. Die Akzeptanz westlicher Werte heisst die Akzeptanz von Altenpflegeheimen mit einem Pflegeschlüssel von einer Krankenschwester auf 12 Alte. Die Akzeptanz westlicher Werte heisst auch die Vereinsamung im Hochhaus, Alters- und Kinderarmut. Dass also der Import dieser Werte durchaus Gefahren birgt, sieht derjenige, der seine eigene Gesellschaft kennt. Denn in Gesellschaften, in denen nicht das Individuum gedacht wird, sondern die Gruppe, gibt es ein Aufgehobensein in ihr. Dass dieses Aufgehoben sein so unterhinterfragt sein kann, wie das eigene Geschlecht, dass zeigt auch der Artikel.

    Wer nun aber im gleichen Atemzug die fremden Gesellschaften durch solche Artikel wie diesen hier in seinen eigenen Erfahrungsraum importiert sieht, der begeht den gleichen gedanklichen Fehler, wie die postkolonialen Krieger von NGOs, westlicher oder christlicher Mission im Ausland (im Falle Pakistans auch des islamischen Puritanismus). Er kann Differenzen nicht denken und auch keine Distanzen. Die Welt funktioniert nicht nach einem Muster, sondern nach vielen gleichzeitig. Viele kamen auf, weil sie Zusammenleben regeln sollen. Dass sie das tun können, ohne unseren westlichen Moralvorstellungen zu entsprechen, dazu war der Artikel da.

    so, können wir dann weitermachen?

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