[inspic=353,left,,400]Ein Nachruf von Thomas Loy und Olim devona.
Nach dem Stalinismus der 1930er bis 1950er Jahre war das Verhältnis zwischen dem sowjetischen Staat und seinen Bürgern geklärt. Beide Seiten wussten relativ genau, woran sie waren. Die verängstigten Massen bezeugten dem herrschenden Apparat ihre Loyalität und Solidarität, dafür verzichtete dieser auf die willkürlichen und blindwütigen Zwangsmaßnahmen, die das Leben in der Sowjetunion seit den 1930er Jahren bestimmten. Diese rituelle Zustimmung blieb jedoch über die Jahre hinweg rein deklarativ und verpflichtete niemanden dem Staat auch tatsächlich zu dienen. Den Sowjetbürgern ermöglichte diese Strategie der Anpassung das Überleben. Es kehrte Ruhe ein in der Sowjetunion. Dazu trug auch ein anderes Ereignis bei. Der siegreiche Kampf gegen den Faschismus im zweiten Weltkrieg wurde für die Sowjetunion zur ersten alle Sowjetrepubliken integrierenden Kollektiverfahrung. Die damit einhergehende Erinnerungsarbeit ermöglichte es der sowjetischen Führung, vom selbstzerstörerischen Terror der 1930er Jahre abzulenken. Der durchstandene Krieg inszeniert als vereinendes Erlebnis, das alle negativen Erinnerungen überlagern sollte. Die Zeit davor wurde ausgeblendet und dann, nach Stalins Tod, schlicht als Fehlentwicklung abgetan. Was folgte war Stagnation.
Da nimmt es sich aus wie ein kleines Wunder, dass in der relativen Ruhe der 70er Jahre ein Mann an einem Roman schrieb, der 1981 völlig überraschend veröffentlicht wurde. И дольше века длитÑÑ Ð´ÐµÐ½ÑŒ nahm, fast fünf Jahre vor Glasnost, das Thema der Aufarbeitung des Stalinismus in der Sowjetunion literarisch vorweg. 1982 wurde der Roman in deutscher Übersetzung unter dem Titel “Der Tag zieht den Jahrhundertweg” auch in der DDR aufgelegt. Der Mann, der für dieses literarische Wunder verantwortlich war, ist Tschingis Aitmatow. Am vergangenen Dienstag (10. Juni) ist Aitmatow in seinem 80. Lebensjahr nach kurzer schwerer Krankheit in einer Nürnberger Klinik gestorben.
Es ist vielleicht ungerecht einen Nachruf auf den im Westen wohl populärsten Sowjetschriftsteller mit Der Tag zieht den Jahrhundertweg zu beginnen, das den Beginn des dritten Jahrzehnts seines literarischen Schaffens markiert. Aber so wirken Wunder nun mal. Sie ereignen sich höchst selten. In den Werken davor war Tschingis Aitmatow weit von diesem Wunder entfernt, was nicht heißen soll, dass “Dshamilja”, “Der Weg des Schnitters/Goldspur der Garben”, “Abschied von Gülsary” , “Der weiße Dampfer”, “Du meine Pappel im roten Kopftuch”, “Frühe Kraniche” nicht auch schöne Literatur wären, aber Wunder bewirkten sie in der Sowjetunion nur kleine. Was hilft es da, dass alle Nachrufe den Aragonschen Schwur zitieren, Dshamilja sei “die schönste Liebesgeschichte der Welt”? Solcherlei hatte der Orient schon mehrfach hervorgebracht. Etwa Layla und Madschnun oder Farhad und Schirin um nur zwei davon zu nennen. Dshamilja wurde fester Bestandteil des ostdeutschen sozialistischen Unterrichtsstoffes, denn sprengenden Charakter hatte dieses Werk mitnichten.
Aitmatovs Bücher vor dem “Jahrhundertweg” waren anders. Sie beschrieben die Menschen der Steppe, der Berge, in sozialistischen Arbeitsverhältnissen, realistisch, mit all ihren individuellen Problemen. Wenn diese Bücher Vergangenheit in sich bargen, dann war ihre Vergangenheit die Vergangenheit der Totemtiere kirgisischer Stämme, denen die Protagonisten angehörten. Oder es war die Vergangenheit der mittelalterlichen epischen Helden, die die Helden des Romans erinnerten. Es war jedoch nie die sowjetische Vergangenheit, vor der Zeit des “Großen Vaterländischen Krieges”.
In “Der Tag zieht den Jahrhundertweg” kommt es zum Bruch mit dieser sowjetischen Schreibtradition. Hier erfahren wir von dem, durch die stalinistische Verfolgung zum Strandgut gewordenen Edige, der aus Sicht der Stalinisten durch die Gefangenschaft im faschistischen Feindesland nur zusätzliche Schuld auf sich geladen hat.
Nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft landet Edige in einem gottverlassenen Nest irgendwo abgeschieden in der Steppe. Dieser Ort mit dem schlichten Namen “Ausweichstation” scheint für Edige der einzige Platz innerhalb der Sowjetunion zu sein, von dem aus er nicht wieder ins Mahlwerk des Gulags geschickt werden könnte. Doch auch diese Hoffnung sollte an der sowjetischen Realität zerschellen.
Edige beginnt für seinen Sohn die Geschichte seiner Erfahrungen und Erlebnisse in Schulhefte zu schreiben. Wir als Leser erfahren nicht viel von den Schrecken jener Jahre. Aber wir wissen darum.
Von Joachim Gauck stammt die Erkenntnis, dass nur derjenige einen Schlussstrich unter die Geschichte ziehen will, der in mitten der Gesellschaft gelebt hat. In dieser Mitte habe man sich das Leben gut einrichten können. Derjenige aber, der die Ränder eines Systems kennen lernte, und der dieses System in seiner ganzen Vielfalt habe erleben müssen, ist meist weit davon entfernt, diese Geschichte vergessen zu wollen oder zu können. In Der Tag zieht den Jahrhundertweg verweist Tschingis Aitmatow auf die bittere Erfahrung der politischen Verfolgung in der Sowjetunion. Wer einmal an die Ränder der Gesellschaft gedrängt wurde, findet nur schwerlich (oder nie) wieder zurück in ihre Mitte. So auch Edige. Eines Tages wird er erneut von NKWD Leuten abgeführt und diesmal kehrt er nicht wieder zurück.
Dieses Buch Aitmatows hatte es nicht leicht an die Sowjetische Öffentlichkeit zu gelangen. Tschingis Aitmatow hatte es in Kirgisien diversen Verlagsredakteuren vorgelegt. Diese lehnten den brisanten Stoff jedoch dankend ab. Erst der Abdruck als Fortsetzungsroman in einer Moskauer Literaturzeitschrift verschaffte diesem Werk auch in der kirgisischen Heimat die nötige Anerkennung und Absicherung. Die Frage bleibt bestehen, wie es dieser Roman, der die sowjetische Literaturlandschaft erschütterte und die Leser massenhaft begeisterte, jemals geschafft hat, die Zensur zu überstehen und in den stark verkrusteten Verhältnissen der Sowjetunion Leonid Iljitsch Brezhnevs zu erscheinen?
Aitmatov schrieb und publizierte weiter. Auch nach Brezhnev und dessen kurz regierenden Nachfolgern. Nur wenige Jahre später, auf dem Höhepunkt der Perestroika, konnte er dann mit seinem herausragenden Werk “Die Richtstatt” eine der anschaulichsten und lebensnahesten Kritiken des Sowjetstaates vorlegen. Doch verglichen mit der Wirkung von “Der Tag zieht den Jahrhundertweg” kam diese Charakterschau, die auch aus heutiger Sicht noch durchaus Bestand hat, nur noch einem Nachbeben in der spätsowjetischen Literaturlandschaft gleich. Kein Wunder also aber absolute Weltklasse.
Doch Aitmatov war alles andere als ein Dissident. Er gehörte zu den wenigen auserwählten Schriftstellern der zentralasiatischen Peripherie, die im gesamtsowjetischen Maßstab Karriere gemacht haben. Literarisch und Politisch. Und so blieb es auch nach der großen Zeitenwende. Aitmatov wechselte die Pferde und wurde vom literarischen Beobachter zum politischen Repräsentanten. Seit 1995 als Botschafter des nunmehr unabhängigen Kirgistans in Frankreich und den Benelux-Staaten. Bereits seit 1989 war Aitmatov Berater Gorbatschows und im Jahr 1990 bekleidete er den Posten als Botschafter der Sowjetunion in Luxemburg. Von Brüssel aus sah er fortan in der Europäischen Union das Vorbild für das neue Zentralasien. An aktuellen politischen Debatten nahm er nur noch teil, wenn sie sich um ökologische Probleme seines Landes drehten. Die politische Sprengkraft, die zumindest zwei seiner Romane in der Sowjetzeit hatten, vermochte er in dem im Wandel begriffenen Kirgistan nicht mehr zu erreichen.
Heute seien in Zentralasien nur mehr noch “Erinnerungen und Infrastruktur” von der Sowjetzeit übrig geblieben. “Wir waren alle Sowjetmenschen” resümiert Aitmatov dann auch in einem Interview, das Tobias Asmuth mit dem Schriftsteller für Das Parlament im Mai 2007 führte. Als der Kirgise dann am Ende des Gesprächs gefragt wird, was er denn nach 16 Jahren in Europa am meisten aus der Heimat vermisse wird es noch einmal ganz deutlich: Tschingis Aitmatovs Heimat war die Sowjetunion. “Ich erinnere mich an eine Geschichte aus meiner Jugend. Ich arbeitete damals als Korrespondent in Kirgistan für eine sowjetische Nachrichtenagentur, als ich einen Anruf aus Moskau bekam, ein bekannter Journalist aus Indien wolle unser Land besuchen, und ich solle ihn ein wenig begleiten. Nun, ich fuhr zum Flughafen um ihn abzuholen. Er stieg aus dem Flugzeug und sah sofort am Horizont die Berge. Er war begeistert und fragte mich gleich: Warum sind denn die Berge so weiß da oben? Ich sagte das ist Schnee. Was ist Schnee? Ich versuchte zu erklären, dass es in der großen Höhe sehr kalt ist, und dass dort Regen zu Schnee wird. Ach, das ist schön, davon würde ich gerne eine Handvoll mit nach Hause nehmen, sagte mein indischer Kollege. Das wird schwierig, lachte ich.” Aber wie vom Weiß der Berge, ist im heutigen Zentralasien von der leuchtenden Sowjetvergangenheit praktisch nichts mehr zu sehen.
Nun ist Tschingis Aitmatov im für kirgisische Verhältnisse hohen Alter von 79 Jahren von uns gegangen und hinterlässt zumindest in einem Regal eine Halbmeter lange literarische Spur, die Bestand haben wird auch noch weit nach seinem Tod.
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