Viehwirtschaft im Kuraj-Tal

Das Kuraj Tal liegt heute an der Transitstrecke zwischen Rußland und der Mongolei. Im Talkessel liegen zwei Dörfer Kyzyl Tash und Kuraj selbst, die Zentrum für eine ganze Reihe von Wirtschaften sind, die in den Tälern zwischen dem Gebirgszügen des Kuraj Gebirges und der Chuj Gebirges verteilt liegen. Diese Wirtschaften beschäftigen sich mit der mobilen Viehzucht. Einige haben an ihren Winterstationen auch kleine Anteile an Gartenbau. Wegen des kurzen Sommers und der häufigen Sommerfröste im Juli und August gedeihen hier lediglich Kartoffeln, Mohrrüben, Rote Beete und Zwiebeln, dazu allerlei Kräuter wie Dill und Petersilie. Die Wälder rings um die Weiden geben zusätzlich Beeren (wilde Erdbeeren, schwarze Johannisbeeren, Sanddornbeeren) her. Die Wälder im Tal sind wahre Edlorados für die Pilzesammler. Wer die richtigen Stellen kennt, und den richtigen Zeitpunkt, hat schnell den Wintervorrat für marinierte Pilzen zusammen und kann den Rest in Kosh Agach verkaufen. Die dortigen Kasachen nehmen diese Pilze mit Kußhand. In besonders feuchten Sommern kann eine ganze Stange Geld dabei rausspringen.

Für die Viehzucht und den Ackerbau gibt es in weiter nördlich gelegenen Teilen des Altaj weitaus günstigere Standorte (Ongudaj, Chemal, Ulangan). Wegen des kurzen Sommers und der langen schweren Winter nennt man das Kuraj-Tal auch Kan Kuraj oder blutiges Kuraj. Das hat weniger mit Kriegen, die im Altaj geführt wurden, zu tun, sondern eher mit dem Verlust an Vieh, den ein harter Winter den Viehzüchtern hier beschert.

Das Kuraj Tal. Blick von Osten

Das Kuraj Tal. Blick von Osten (Klicken macht Groß)

Die sehr anfällige Viehzucht im Tal hat mit vielen Faktoren zu tun. Im Sommer stehen ein Teil der Wiesen im westlichen Teil des Tales für die Heumahd bereit. Bekommen diese Wiesen aber durch den Regen nicht genügend Wasser, ziehen sich die Nährstoffe aus den Halmen zurück und aus dem Heu wird Stroh. Wird aber nicht genügend Heu für den Winter bereitgestellt, kann das Vieh nicht über den Winter gebracht werden. Es muss dann im Herbst geschlachtet und verkauft werden, was wiederum niedrige Preise beschert und den Leuten wenig für das Frühjahr übrig läßt. Den Fluß weiter runter (nördlich) sind die Bedingungen jedoch auch nicht viel besser, so dass das Heu nur von weit her beschafft werden könnte, was sich wiederum nicht lohnt.

Das heutige Dorf Kuraj wurde schon früh sowjetisch geprägt. Hier war eine geologische Erkundungsstation untergebracht, die das Dorf noch durch die Straßennamen prägt. Es gibt nicht viele Straßen im Dorf. Diese aber haben Bezeichnungen wie die Straße der Geologen.

Viele der Kurajer sprechen hervorragend russisch. Die Kinder wachsen in der Schule mit russisch als erster Sprache auf und reden untereinander russisch. So spricht die jüngste Tochter meiner Gastmutter Ajsulu nur russisch. Die älteste Tochter  von Ajsulu, Milena, wechselte mit der 5. Klasse aus der Grundschule in die gemeinsame Oberschule, die Kuraj und Kyzyl Tash gemeinsam betreiben. Hier erst lernte sie im Umgang mit den anderen Mitschülern aus Kyzyl Tash die telengitische Mundart des Altajischen.

Wenn eine Familie in Kuraj wohnt, passiert es nur sehr selten, dass beide Elternteile auch hier geboren sind. Das bedeutet, das über Verwandtschaftsbeziehungen die Kurajer sehr weit mit den im südlichen Altaj lebenden Telengiten vernetzt sind. Verwandtschaftsbeziehungen reichen hoch nach Kosh Agach und den dortigen Dörfern (Nov. Beltir, Star. Beltir, Kukurja, Taschanta) sowie hinunter in den Ongudajer Kreis. Der Hauptgrund für diese weitreichenden Netzwerke ist die exogene Endogamie, d.h. das keiner innerhalb seiner eigenen Lineage, auch nicht ausserhalb der Gruppe der Telengiten, heiraten sollte. In den letzten Jahren passiert es immer häufiger, dass sich Kasachen und Telengiten miteinander vermählen. Der Impuls dazu ging wohl vor allem von den Kasachen aus, die aufgrund ihrer Abgeschlossenheit kaum mehr Heiratspartner innerhalb ihrer eigenen Gruppe finden.

In einem Nebental des Kuraj Tals, im Kyzyl Tash Tal, sind zwei der Viehwirtschaften zu finden, die sich aus den Dörfern (Kuraj, Kyzyl Tash) heraus mit Lebensmitteln, Neuigkeiten und anderen Dingen des alltäglichen Lebens versorgen: einmal die Viehzüchterfamilie Irsbaj und Tamara T. und eine benachbarte Familie. Im Tal befinden sich 6 Höfe oder Teilwirtschaften, drei von denen gehören der Familie T.. Die 3 Häuser teilen sich auf in den Winterhof, die Frühjahrs und Herbstweiden und das Sommerlager. Die Viehzüchter-Familie T. hat 40 Kühe, Jaks und 1300 Schafe und Ziegen. 40 Kühe und Jaks sind zwar eine stattliche Anzahl, aber aufgrund der äusseren Gefahren wie Wölfen und Bären sind diese nötig, um eine wehrhafte Herde zu besitzen. Sie alle sind Hornvieh und bilden im Falle eines Angriffs einen Verteidigungsring um ihre Kälber herum. Die Mindestanzahl für solch eine wehrhafte Herde sind 30 Tiere. Hat man keine 30 Tiere, kann man diese auch nicht über Nacht auf einer Weide stehen lassen. Alle diejenigen, die weniger Kühe haben, brauchen also einen sicheren Stall oder eine sichere Umgebung wie das Dorf, in dem viele sich ein, zwei Kühe halten. Nicht nur die Viehzüchterfamilien im Kyzyl-Tash-Tal besitzen Kühe, sondern auch viele Dorfbewohner, die diese Kühe am Morgen auf die Weiden am unteren Teil des Tales führen und sie am Abend wieder holen. Besser gesagt: sie schicken die Tiere in Richtung Kyzyl-Tash-Tal und erwarten sie am Abend wieder in der Nähe ihrer Höfe im Dorf. Den Weg zur Weide und von der Weide zurück legen die meisten Kühe selbst zurück.

Wir haben die Familie T. im Kyzyl-Tash-Tal näher kennenlernen dürfen. Was eigentlich auf einen Glücksfall zurückzuführen ist, der auf einem schönen Missverständnis beruhte. Mein Kollege und Freund, seines Zeichens Geograph, Marco Stegemann, und ich erkundeten vor drei Tagen das Kyzyl-Tash-Tal, nachdem wir die Botaniker, Enthomologen und Molakologen des Naturkundemuseums Altenburg auf ihren Explorationsflächen zurückgelassen hatten.

Erste Bekanntschaft

Die erste Bekanntschaft zur Viehzüchter Familie T. kam durch ein Missverständnis zu Stande. Marco und ich verweilten längere Zeit an der heiligen Quelle und stiegen dann auf den Hauptweg, der das ganze Tal durchquert, hinab. Wir waren hier wenige hundert Meter gegangen, da kam ein Hirte einer am Hang grasenden Herde von Ziegen und Schafen zu uns herab gesprengt. In seinem Gefolge zwei Hunde. Uns stieg die Angst zu Herzen aber auch die Neugier. Um zu zeigen, dass wir auf seine Ankunft reagieren, drehten wir vom Weg ab und begaben uns in seine Richtung. Als wir nun aufeinander trafen, stellte sich heraus, dass der Reiter, der sich mit dem Namen Amandu vorstellte, uns für Leute aus dem Tal gehalten hatte. Von ihnen erhoffte er ein Schwätzchen, eine Neuigkeit oder vielleicht nur einen herzlichen Gruss. Marco und ich erklärten dem Hirten den Grund unseres Hierseins, wie wir heissen würden, das wir Ethnograph und Geograph seien, die sich für Land und Leute interessierten. Wir hätten zu Hause Kamera und andere Technik, die wir gerne am nächsten Tag mit auf die Weide bringen würden, um mit ihm einen Film zu drehen und ihn über Arbeit und Leben auszufragen. Ob er damit einverstanden wäre?. Nun klar, entgegnete er, kein Problem. Somit war für ihn die Situation gerettet und wir konnten ohne peinliches Anschweigen auseinander gehen. Wir hatten damit unser erstes Treffen vereinbart und hofften auf ein paar lustige Stunden im Kreise seiner Tiere und seiner Erlebnisse.

Naherholungsplatz an heiliger Quelle

Naherholungsplatz an heiliger Quelle (Klicken macht Groß)

Am Abend kehrten wir in unsere Herberge zurück und erzählten dem Wirt von unserem Erlebnis. Ja, die Stelle an der wir gewesen waren, wäre der Ort der Wirtschaft seiner Schwester. Sie hätte dort einen großen Hof, würde Landwirtschaft betreiben. Unser Herbergsvater Leonid zählte eins und eins zusammen. Er kannt ja Amadu aus dem Dorf Kyzyl-Tash, der bei seiner Schwester seit langem in der Wirtschaft aushalf. Ohne das wir es wussten, rief er bei seiner Schwester an und erzählte ihr, dass wir morgen uns wieder auf dem Weg zu ihnen machen würden.

Frühlingslager

Auf dem Weg ins Kyzyl Tash Tal wählten wir am nächsten Morgen den Hauptweg ins Tal und sahen die Herde diesmal schon am Eingang des Tales. Der weisse Rappen des Hirten Amadu war dort nicht auszumachen, statt dessen stand er ohne Sattel auf der grünen Weide vor dem Haus, das am Eingang des Tales steht. Als die Hunde anschlugen und sich auf uns zubewegten, sahen wir Amadu auf dem Grundstück. Dieser bewegte seine Hände zum Zeichen, das wir näher und herein kommen sollten. Wir überquerten die Wiese und kamen herein.

Das Grundstück hatte drei Gebäude. Eins war ein Blockhaus, die anderen zwei waren Holzaile, also sechseckige Gebäude mit einem sich nach oben verjüngenden Dach mit Rauchloch.

Als wir nun auf dem Grundstück standen, sahen wir, das Amadu und ein Mann, älter als er aber von kräftiger Statur, sich an Pferdefußfesseln zu schaffen machten. Sie wechselten einen Riemen für das Festhalten der Hufe aus, der verschlissen schien. Wir setzten uns zu ihnen und begannen uns nochmals vorzustellen. Ungeduldig auf das, was wohl noch alles kommen würde, wollten wir Kamera und Mikrofon auspacken. Wir hatten ja schließlich alles mitgebracht, mit dem man filmen sowie Interviews und Geräuschkulisse aufnehmen konnte. Der Mann, dessen Name Irisbay war, winkte ab. Er wolle nicht gefilmt werden, statt dessen sollten wir erstmal einen Tee trinken kommen. Die Frau des Hauses, die Schwester unseres Herbergsvaters kam aus einem der drei Aile und bat uns zum Teetrinken herein. Wir gingen ins das Gebäude und standen in einer überaus geräumigen Küche. Hier gab es einen Ofen, einen Gasherd mit Flasche, ein eisernes Bett und ein paar Schränke, einen für Geschirr, einen für andere Habseligkeiten. In einer Ecke war ein Kombinationsgerät aus Boxen, Aufladestation und Steckfeldern, der von einer Solarbatterie betrieben und für Fernsehbetrieb, zum Aufladen von Mobiltelefon usw. angelegt war.

Ansicht einer Sommerküche von Innen

Ansicht einer Sommerküche von Innen

Der Tee wurde serviert und wir unterhielten uns über die Viehwirtschaft, über das Leben im Altaj und in Deutschland, über die Preise für Vieh, über die Qualität von Fleisch. Dabei wurde eins schnell klar, die Familie T. waren Viehzüchter durch und durch. Sie lehnten Fleisch aus den unteren Lagen des Chuj-tales ab. Nur auf den Hochweiden und mit dem hochwertigen Futter der Frühjahrs-, Sommer-, Herbst- und Winterweiden würde das Fleisch schmecken. Unten im Tal, da stinke die Leber der Tiere, da würde das Fleisch nicht weich genug sein und die Blutwurst würde erst recht nicht gelingen.

Wir unterhielten uns über die verschiedenen Arten des Schlachtens. Wir erzählten, wie wir zu Hause Schafe schlachten würden, wie wir die Haut abziehen und welche Teile des Inneren wir zum Verzehr geeignet fänden.

Bald darauf wurden wir eingeladen, doch beim Schlachten zu zuschauen. Wie sich herausstellte, hatten sie sowieso das Schlachten vorgesehen, da sie am morgigen Tag mit den Schafen und Ziegen zur Sommerweide aufsteigen würden und dann zum Mittag fertiges Fleisch bräuchten. Wir waren begeistert, nicht nur, dass wir jenseits des Tees noch weiter in der Wirtschaft als Gäste geduldet waren, sondern auch noch, dass wir wohl zu einem überaus günstigen Zeitpunkt die Familie T. kennengelernt hatten. Schnell also fragten wir, ob wir denn den morgigen Auftrieb begleiten könnten, dann Kamera und Mikrofon mitbringen könnten, um den Auftrieb in Bilder und Ton festzuhalten. Na klar, kein Problem, die Familie könne sogar die eine oder andere helfende Hand gebrauchen. Am Ende der Herde würden immer die jungen Tiere zurückbleiben, die solch einen Auftrieb noch nie mitgemacht hatten, schwächer wären als die Muttertiere und die vielleicht die eine oder andere Hilfe gebrauchen könnten. Wir waren froh, in der Wirtschaft sogar als Hilfskräfte angenommen worden zu sein.

Tamara, die Frau des Hauses, verabschiedete sich nach draussen. Wir schwatzen noch über dies und das und hörten auf einmal das die Herde sich näherte. “Kommen die Tiere von allein zurück?”, fragten wir. Nein, Tamara würde sie gerade hereintreiben. Wir gingen nach draussen und wirklich, Tamara saß auf einem Motorrad und trieb die Herde auf den Viehkral vor dem Hof zu. Wir gingen der Herde entgegen und halfen, sie mit in den Viehkral zu treiben. Hier wurden die Tiere zusammengepfercht, um die eine oder andere Krankheit bei ihnen zu behandeln. Tamara lief mit einer Spritze im Kral herum und die zwei Männer fingen ihr eine Ziege mit Bindehautentzündung, ein Schaf mit aufgerissenem Huf und ein Muttertier, dessen Euter zu voll war, als das die Lämmer davon noch hätten trinken können. Die Nippel des Euters waren kaum mehr auszumachen, so prall war dieser mit Milch gefüllt. Tamara behandelte alle diese Krankheiten mit einer einzigen Spritze — außer den gefüllten Euter, diesen behandelten die Lämmer, die in den Schwitzkasten genommen wurden, um hier ein paar Schluck Milch abzutrinken.

Nachdem im Viehkral die wichtigsten Krankheiten behandelt wurden, wurde ein Bocklamm ausgesucht, das zur Schlachtung bestimmt war. Dieses brachte man zum Schlachteplatz, einem wie eine Kinderschaukel aussehenden Gerüst. Hier wurde er auf den Rücken gedreht, die Hörner des Bockes in den Boden gerammt und der Bauch mit einem 10 cm großen Schnitt aufgeschlitzt. Darauf steckte Irsbay die rechte Hand in den Bauch und suchte die Aterie des Tieres vor dem Herzen. Dabei gab das Tier nicht einen Laut von sich. Als die Arterie gefunden war, presste Irsbay diese mit den Fingern 15-20 Sekunden ab und das Tier starb. Die Methode sei deshalb gut zum Schlachten geeignet, meinte währenddessen Irisbay, da durch das Abpressen der Arterie kein Blut verloren gehen würde und die Blutwurst dadurch gut gelänge.

Dann wurde das Tier an den Hörnern in ein Gestell gehängt. Das Fell des Tieres wurde durch ein paar Schnitte aufgeschnitten und vom Kopf zum Hintern hin abgezogen. Dann wurde es in die Küche transportiert. Hier wurde es auf den Rücken auf einen Tisch gelegt, ein Vorderbein an einem von der Decke hängenden Stick festgemacht und der Bauch aufgeschnitten. Die Innereien wanderten in eine Waschschüssel, das Tier in viele Teile zerlegt. Die Hinter- und Vorderkeulen wurden zum Trocknen und Einsalzen in das dritte Gebäude gebracht. Dies also war das Lager und Werkstattgebäude auf dem Hof. In der Rückenschale des Tieres sammelte sich während des Schlachtens das gesammte Blut. Dieses wurde mit einer Kelle abgeschöpft und in einen Eimer geschüttet. Das war die spätere Grundlage der Blutwurst. Die Schlachteabfälle wurden dabei den Hüte-Hunden (Pansen) und der Katze des Hauses (Teile der Leber) zugeteilt. Ein über dem Haus kreisender Milan holte sich die Stücke, die zwischendurch aus der Sommerküche auf den Rasen flogen.

Unterdessen hatte die Frau des Hauses, die bei der ganzen Schlachteprozedur nicht anwesend war, die Tiere im Viehkral mit Salz versorgt und wieder aus der Umgehung entlassen. Die Leittiere der Herde suchten sich daraufhin allein den Weg zum nächsten Weideabschnitt und würden erst wieder am Abend vor Einbruch der Dunkelheit zum Viehkral zurückkehren.

Während das Bocklamm ausgenommen und zerteilt wurde, wurde auch die Brust vom Tier getrennt und auf einen Draht gezogen. Die Brust gilt als das beste Teil des Tieres und wurde nach dem Schlachten von Irsbay im Feuer gegrillt. Als die Brust fertig gegart war, was in etwa 10 Minuten dauerte, wurde sie auf dem Tisch in viele kleine Stücke zerteilt und mit Zwiebeln, Brot und Tee gemeinsam verzerrt.

Während die Männer am Tisch die gerillte Brust des Tieres genossen, wusch die Frau des Hauses die Därme aus, damit diese das Blut für die Blutwurst aufnehmen würden. Ein Kessel voll Wasser war bereits auf den Ofen gestellt, um die Rippen, Bauch- und Halsteile darin zu kochen. Das Blut wurde unterdessen noch mit Zwiebeln und Knoblauch vermischt und dann mit einer Kelle in den gesäuberten Dünn- und Dickdarm des Tieres gegossen. Dann wurden die Enden des Dünndarms verknotet und die des Dickdarms zugenäht. Diese beiden Blutwürste legte man in das kochende Wasser. Nach 10 Minuten war die Blutwurst durchgekocht und gar. Der Dünndarm des Tieres wurde in Scheiben geschnitten und einzeln angeboten, der Dickdarm wurde jedoch in der Mitte aufgeschnitten und ein jeder konnte mit dem Löffel die fertig gekochte Grütze aufnehmen. Kaum war diese Speise fertig gegessen, wurde auch schon der dritte Gang vom Feuer geholt. Dies war die Fleischsuppe, die bereits seit etwa einer Stunde gekocht hatte. Hier nahm Irsbay ein paar Fleischstücke aus der Brühe auf einen großen Teller, teilte 4 Stücken davon mit dem Messer ab und opferte diese dem Feuer. Dann konnte auch der letzte Gang genossen und die Hochweiden des Altaj, die Gesundheit der Tiere und die wählerische Vorauswahl der besten Kräuter seitens der Ziege bewundert werden, die alle dazu beigetragen hatten, dass das Festmahl so gelungen war. Wir verabschiedeten uns von unseren Gastgebern und verabredeten uns für den nächsten Tag auf 6 Uhr früh, um die Schafe und Ziegen auf die Sommerweiden zu treiben.

Auftrieb

Viehzüchter im Aufbruch

Viehzüchter im Aufbruch

Am nächsten Tag trafen wir um kurz nach 6 auf dem Frühjahrshof der Familie T. ein. Die Pferde waren bereits gesattelt und am Pferdepfahl angebunden. Irisbay und Tamara standen am Kral und ließen die Tiere nach draussen, jedoch nicht mit weit geöffnetem Tor, sondern mit kleiner Öffnung, so dass nur wenige Tiere auf einmal nach draussen gelangten. Irsbay hielt mit dem Finger auf sie und zählte — Schafe, Ziegen, Lämmer alles getrennt — im Kopf zusammen. Am Ende der Prozedur standen vier Zahlen auf dem Papier: die Gesamtzahl, sowie die Aufschlüsselung in die einzelnen Posten. Zwei Lämmer wurden von den 1300 Tieren zurückgelassen. Sie waren noch zu jung oder zu krank, um den Marsch in 2500 Metern Höhe zu schaffen.

Als wir die ersten 500 Meter zurückgelegt hatten, sonderte sich noch ein weiteres Tier aus der Herde aus, dass nicht mehr Schritt halten konnte. Es war schnell klar, dass auch dieses Tier nicht den Weg schaffen würde. Wir packten es auf Amadus Pferderücken und dieser trabte zurück zum Frühjahrshof, um auch dieses Tier bei der Frau des Hauses zurückzulassen. Es sollte in ein paar Tagen mit dem Auto in die Höhen der Sommerresidenz gebracht werden.

Wir setzten unterdessen unseren Weg fort. Die ersten paar Kilometer war der Aufstieg mässig. Wir sahen den Winterhof der Familie von Weitem und kamen an einem Schamanengrab vorbei. Im Unterschied zu anderen werden die Schamanen nicht in einem geschlossenen Sarkopharg beerdigt, sondern offen in einen blockhausähnlichen Bau gelegt. Dazu werden Grabbeigaben wie Messer, Schmuck von der Schamanenkleidung und Geschirr gegeben.

Nach kurzem leichten Aufstieg kam der schwere Teil der Strecke. Es ging auf einem Teilstück von vielleicht 2 Kilometern in die Höhe von 2500 Metern, wobei gut 800 Meter Höhenunterschied überwunden werden mussten. Das heisst im Klartexte der Weg dieses Steilstücks war eine mit Geröllfeldern geschmückte verbuschte Strecke von ungeheurer Steilheit. Hier erst wurde mir das Wesen des Herdentreibens bewußt. Wir arbeiteten zu viert daran, die Tiere in die Höhe zu geleiten. Irsbay war derjenige, der die übersicht behielt. Er schaute, welche der erfahrenen Tiere bereits auf welchem Teilstück der Strecke angekommen waren. Am vorderen Ende der Herde brauchte man also keine Helfer die treiben, sondern solche die bremsen. Also musste Irsbay sie davon abhalten, den Weg zu schnell zu absolvieren, damit die Herde zusammenblieb und die Lämmer hinten die Stimmen ihrer Mütter vorn hören würden. Der hintere Teil der Herde war so etwas wie ein Kindergarten. Hier hielten sich die Tiere auf, die noch nie einen Auftrieb mitgemacht hatten. Diese waren sich demzufolge auch nicht bewußt, das sie noch 15 Kilometer Wegstrecke und etliche Höhenmeter zu überwinden hatten. Sie sahen vor sich eher so etwas wie einen riesengrossen Abenteuerspielplatz– die Ziegen jedenfalls. Während die Schaflämmer wenige Probleme machten und sich in der Nähe ihrer ängstlich und mahnend blöckenden Mütter aufhielten, entspann sich unter den Ziegenlämmern ein sportlicher Wettkampf: Wer ist als erstes auf einem Felsblock? Wieviele passen dabei auf einen Stein und wie kommt man wieder runter, wenn Menschen rufen, pfeifend und strickwedelnd von hinten treibend, und vorne kein Lamm versteht, warum es um alles in der Welt jetzt denn schon wieder weitergehen müsse, wo es dochgerade so schön steinig, steil und buschig war. Wer Kinder hat, stelle sich den Aufruf vor, dass der Spielplatz in wenigen Minuten verlassen werden muss. Die Reaktion vom Lamm und Kind sind dabei in etwa gleich bockig. Und das nicht einmal am Abend des Tages, sondern auf jeder Teilstrecke des Weges, ständig.

Auftrieb vom Frühlingslager auf das Sommerlager

Auftrieb vom Frühlingslager auf das Sommerlager (KLicken macht groß)

Es lag an dreien von uns, am Ende der Herde für Bewegung zu sorgen. Das geht jedoch nicht allein, sondern immer nur im Verband. Ist nämlich einer an der Flanke zu schnell und einer am Ende der Herde noch nicht so weit hinterher, kann sich die Herde unter Umständen teilen. Auch entstehen immer wieder Minigrüppchen von verspielten Tieren, die auf einmal ohne Leittier da stehen, vor Schreck in die falsche Richtung laufen usw.. Wer also an den Flanken Druck macht, schafft einzelne Tiergruppen, die wiederum nun von einem Treiber weniger betreut werden können (man ist ja schon zu weit weg, müsste wieder absteigen), am Ende herrscht das Chaos. Dazu kommt eine weitere Schwierigkeit. Die Treiber gehen nie die gleiche Richtung wie die Herde, sondern bewegen sich in einem 90 Grad Winkel hinter ihr hin und her. Ist man also allein hinten, bedeutet das, dass das gesamte Ende der Herde abgelaufen werden muss, hin und her. Ist man aber zu dritt, müssen diese Bewegungen miteinander koordiniert sein. Man geht also ständig auf der gleichen Höhe aufeinander zu und voneinander weg. Macht das einer von dreien zu schnell, ist er unter Umständen zu weit oben und schafft dabei eine Flanke und ist hier für das Treiben nutzlos. Am Ende kann seine Bewegung sogar dazu führen, das die Herde geteilt wird. Soweit so gut, man pendelt also das Ende der Herde hin und her, um sie zusammen zu halten. Nun gibt es aber auf dem hinteren Teil nicht gleiche Bedingungen. Der eine hat gerade einen Felsblock von Lämmern freizutreiben, der nächste muß anderen Lämmern helfen, sie aus einem Busch zu zerren, in dem sie sich verfangen haben, der Dritte ist unterdessen wieder drei Meter höher als die anderen und muß abwägen: warten? zur Hilfe eilen? weitermachen? Kurz gesagt: Eine Herde treiben ist Gemeinschaftsarbeit, hier gibt es keinen guten oder schlechten Treiber, sondern nur gute oder schlechte Gemeinschaftsarbeit. Dieser Umstand führt auch sicher dazu, dass Hüte- und Weidegemeinschaften ein ganz anderes Gefühl für Gemeinschaft und Ego entwickeln. Das Ich verschwindet hier aber nicht zu Gunsten einer Communitas, sondern existiert nur in Bezug zum anderen. Daraus entsteht die Gemeinschaft: eine Gruppe von aufeinander bezogenen Menschen. Hier kann sich keiner herausnehmen und hier kann sich keiner hervortun. Beides gerät zum Schaden des anderen.

Der Weg des steilen Stück Auftriebs konnte nur wenig mit Pferden bewältigt werden, sondern musste zu Fuß absolviert werden. Darauf folgten kleine Passagen mit weniger steilem Gelände, dann wieder weitere steile Stufen. Der Berg war also in natürliche Terrassenstücke unterteilt. Als wir nach etwa drei Stunden Aufstieg am obersten Teilstück angelangt waren, wateten wir auf einmal in knietiefem Gras. Wir hatten die Vegetationszone des Hochplateaus erreicht. Ich hatte das Gefühl in einem Garten angekommen zu sein. Wohin man schaute wilde Blumen, in solcher Fülle, dass das Gras dazwischen aussah, als sei es eine Art Schmuck extra für das natürlich zusammengestellte Blumenbuket. Die Almen dufteten wie ein Heuaufguss.

Hier nun an besonders schön gelegenen Stelle rasteten Irsbay und Amadu und winkten uns Nachzüglern zum Ausschnaufen hinauf. Es war eine Art Aussichtsplattform, von der die gesamte Sommerweide aus zu sehen war. Unten bewegten sich die Herdentiere bereits wieder als gemeinsame Herde. Die Ziegen bildeten dabei eine Art flächigen Schwarm, die Schafe gingen in Reihen, wie auf einer Perlenschnur gezogen hintereinander her. Das Leittier machte den ersten Pfad, die anderen Schafe der Herde liefen nur auf diesem bereits ausgetretenen Teil: Irsbay darauf angesprochen meinte: die Schafe sind faul, die Ziegen fleissig.

Während wir also der Herde auf ihrem letzten Teilstück zusahen, deutete Irsbay immer wieder in die Weite hinaus: “Das ist also unser Sommerlager. Hier verbringen wir den Sommer.” Es fällt mir schwer, den Tonfall der Stimme, den Klang dieser Worte wiederzugeben. Es klang nicht so wie: Das also ist unsere Arbeit. Es klang eher wie: Das ist der Ort, weswegen wir dieses Leben leben. Vielleicht kann dies ein wenig das Gefühl transportieren, was es heißt, ein Hirte zu sein.

Sommerweide, ein Zauberwort, selbst aus dem Mund eines Viehzüchters

Sommerweide, ein Zauberwort, selbst aus dem Mund eines Viehzüchters

Als wir bei der Sommerhütte ankamen, hatte sich die Herde schon vor dem Viehkral versammelt. Die Ziegen bestiegen alles, was zu besteigen war. Die Hirten sattelten die Pferde ab, holten das Salz aus dem abgeschnallten Gepäck und füllten das Salz in die Traufen. Wir holten Brennholz aus dem Wald, Wasser wurde aus einer nahen Quelle geschöpft, ein Kessel Wasser aufgesetzt, das Fleisch der am Vortag geschlachteten und eingesalzenen Ziege klein geschnitten und im heißen Wasser gekocht. Irisbay hatte auf dem Weg noch Bergzwiebeln ausgegraben. Diese waren ungemein scharf und würzten die Fleischbrühe auf angenehme Art.

Nachdem wir gegessen hatten und einen Tee getrunken, machten wir beiden, Marco und ich uns an den Abstieg. Amadu sollte später hinterherkommen, weil er noch für zwei Tage ins Heimatdorf mußte. Hier wurde der 65. Geburtstag seiner Tante gefeiert. Dann wollte er sich noch ein Mädchen finden. Wir dachten, er wäre über 30 und noch unverheiratet, und das wolle er mit diesem Abstieg ins Tal beenden. Wie sich später rausstellte, war er längst verheiratet, hatte zwei Kinder, die Frau aber hatte ihn wegen seiner Trunksucht aus dem Haus befördert. Um also ein Mädchen zu finden, hätte er sich eine Flasche Wodka eingesteckt, nicht der Tante zum Geburtstag, sondern der möglichen zukünftigen Frau.

Auf dem gemeinsamen Abstieg ins Dorf erzählte uns Amadu, mit welchen Gefahren man auf der Sommerweide zu kämpfen hatte: Wölfe, einzeln und im Rudel, sowie Bären (Kragenbären und Braunbären). Die Hunde würden helfen, diese Gefahren abzuwehren, wenn die Wölfe oder Bären kämen. Wenn die Wölfe kämen, dann würden die Hunde ganz hysterisch kläffen, wenn die Bären kämen, wurden sie ganz ängstlich an der Tür kratzen und in das Sommerlagerhaus herein wollen. Wenn die Hunde also anschlagen, wissen die Hirten welche Gefahr droht. Dann heisst es, die Jagdwaffen und die richtigen Patronen herausnehmen, herauspirschen und nach den Augen im Wald suchen. Die Augen der Wölfe leuchten im Dunkeln. Man kann durch das Fernglas erkennen, wo Männchen oder Weibchen sitzt. Tötet man ein Weibchen, dann kommt das Rudel immer wieder, um Rache zu nehmen. Tötet man ein Männchen und es ist nicht der Leitwolf, kommen sie ebenfalls wieder. Die Mutter des getöteten Tieres würde das verlangen. Tötet man aber den Leitwolf, dann kann man sicher sein, dass das Rudel nicht wiederkommt, dann löst es sich in alle Richtungen auf und man hat erst einmal Ruhe.

Amadu hatte bereits zwei Bären in seinen 15 Jahren Hirtenleben getötet. Das Fell und die Tatzen könne man dabei gut verkaufen. Das Fleisch teile man in der Familie auf. Es schmeckt jedoch ein bisschen bitter, ähnlich wie Kiefernholz.

Abwechslung

Im Abstieg mit Amadu wurde auch deutlich, dass das sommerliche Hirtenleben keine Ferien auf dem Sommerlager sind. Zwischen Sommerlager und Winterlager wird sich wöchentlich abgewechselt. Zwei Hirten bleiben oben zwei gehen runter. Dabei muss die Milch heruntergeschafft und zu Sahne, Buttermilch und Käse veredelt werden. Bald schon würde die Heuernte beginnen. Hierfür bräuchten sie 30 LKW Ladungen für den Winter. Das Heu wird auf den Trockenwiesen auf der anderen Seite des Tals geschnitten. Ohne es zu trocknen (das Trocken geschieht hier am Halm) wird es auf LKWs gepackt, auf die Winteralmen gebracht und zu Heuschobern aufgestellt. Dann ist die Zeit des Holzschneidens. Hierfür sammeln sie das Totholz im Wald, packen ihre LKWs voll und bringen es auf die Steppen von Kosh Agach. Dort gibt es kein Holz, nur der Dung der Schafe und Kühe wird verbrannt und so erzielen sie gute Preise für ihr Holz. Haben sie eine LKW Ladung Holz verkauft, nehmen sie Lebensmittel wieder mit nach Haus, die hier auch wegen der Nähe zur chinesischen Grenze preiswert sind. Dann beginnt der Winter und die Zeit der Ruhe.

Nebeneinkünfte

Tamara betreibt auf ihrem Winterhof eine kleinen Kartoffelanbau. Der Platz ist günstig gelegen. Aufgrund seiner geringen Höhe über dem Kuraj Tal und der windgeschützten Lage halten die Fröste hier nicht so lange an, wie im Tal. Auch ein überraschender Nachtfrost, wie er auch mal im Juni oder Juli kommen kann, tut hier den Kartoffeln nichts. Während beispielsweise Ende Juni alle Kartoffeln in Kyzyl Tash und Kuraj anfroren (die Spitzen verwelkten), waren bei Tamara die Kartoffeln unbeschadet geblieben. Da die Lage günstig ist, haben sich auch andere Leute als Kartoffelbauern bei ihr eingemietet. Sie bestellen auf gepachtetem Land ebenfalls ihre Felder und bewässern sie mit dem Flusswasser, das Irisbay mit einer Leitung vom Bach in Hausnähe leitet. Das Gefälle reicht aus, um einen ganz ordentlichen Druck zu erzeugen. Dazu kommt es, das die vier Söhne von Irisbay immer mal wieder einen Touristen anschleppen, oder Leonid aus der Tourismusstation ihnen ein paar Touristen mitgibt, damit diese einmal auf die Sommerweide gebracht werden. Der Anblick des dortigen Hochplateaus ist wirklich atemberaubend und die dort verteilten Herden von Kühen, Yaks, Schafen und Ziegen ein schöner Anblick.

Kartoffeln für den Winter, wichtigstes Ackerbauprodukt in Kuraj

Kartoffeln für den Winter, wichtigstes Ackerbauprodukt in Kuraj

Irgendwie kam ich mit Tamara eines Tages auf das Thema Reichtum. Es ging um Hochzeiten im Restaurant und zu Hause. Ob die einen reicher seien als die anderen, wollte ich wissen. Die Antwort war einprägsam : “Hier bei uns kann keiner wirklich reich werden. Wir leben alle irgendwie auf dem gleichen Niveau. Denn jeder hier lebt von den gleichen Bedingungen: das gleiche Futter, die gleichen Weiden, der gleiche Regen, die gleiche Hitze. Da wird niemand besonders reich.”

Dies ist sicher richtig, aber der in das Tal einziehende Tourismus wird dabei einiges ändern. So bekam Leonid schon Probleme mit der Gleichheit unter Gleichen. Einer seiner Verwandten kam zu ihm auf die Tourismusstation und beschwerte sich, warum das Tour-Business bei Leonid klappe, bei jenem aber nicht. Natürlich gab es darauf keine Antwort, nur die Einsicht, dass dem einen das eine gelinge, dem anderen das gleiche wiederum nicht. Der Verwandte aber war so erzürnt über dieses Gespräch, dass er Leonid mit dem Spaten zu Boden schlug. Dabei verlor Leonid das Gehör auf dem rechten Ohr. Diese Reaktion war eine Antwort auf das Gleichheitsgesetz. Wer aus diesem Kreis der Gleichen ausbricht, dem ist der Neid aber auch die Habgier und sogar Vergeltung der anderen gewiss.

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