Im Camp des weinenden Kamels

Eine Gruppe Novosibirsker Outdoorfreaks kaufte sich vor einigen Jahren im Hohen Altaj ein Stück Land am Fuße des Tyttuaryq Tales. In den oberen Bereichen des Tales haben einige Familien ihre Dauerresidenzen und Sommerweiden, bewirtschaften den Fluß mit seinen zahlreichen Pappelbäumen wie die meisten Telengiten hier: Kühe für die Milch- und Käseproduktion, Schafe- und Ziegen für die Fleischproduktion. Der Teil, an dem der Fluß in ein engeres Tal mündet und von dichtem Weidengestrüpp gesäumt wird, haben die Novosibirsker erstanden. Sie errichteten darauf 9 Jurten und bieten diese, sowie den freien Platz drum herum zum übernachten an. Sie nennen ihr Camp das Tal zum Goldenen Kamel, eine Anspielung auf den goldenen Altaj, Kamele und deren goldene Grabbeigaben, die heute noch in der Souvenirwelt des Altaj lebendig sind.

 

Jurten-Camp im Altaj, der neue Trend

Jurten-Camp im Altaj, der neue Trend

Das weinende Kamel

Auch ein einzelnes graues Kamel mit nur einem Auge bewohnt das Camp. Es soll ihnen von einem Viehzüchter gegeben worden sein, der es nicht behalten wollte, da seine Mutter es nicht säugte. Dann sei das Kamel eines Nachts von einem Wolf überfallen worden, der ihm in den Schädel biss und ein Auge entriss. Dieses Kamel wurde bei einer meiner Wanderungen Gesprächsgegenstand bei einer Unterhaltung mit dem Hirten Genadij, der das Tyttujaryk-Tal als Sommerweide für seine Schafherde von 300 Stück nutzt, und seine Winterresidenz am See im Chuj Tal hat. Eine ungeheuer harte Strafe sei es für ein Kamel, alleine ohne Herdenanschluß angepflockt an einem Platz zu stehen. Kamele sind Herdentiere, wenigstens sollten die aus dem Camp sich einen Hirten suchen, der von Zeit zu Zeit die Tiere austauscht, immer eines hier stehen lässt und die anderen wieder in eine Herde integriert.

das weinende Kamel, ein Einzelkind im Novosibirsker JurtenCamp

das weinende Kamel, ein Einzelkind im Novosibirsker JurtenCamp

Aber als Attraktion für Touristen, als Fotoobjekt für die Foto- und Trophäensammlung, das sei für das Kamel die reine Quälerei. Deshalb weine das Kamel stetig, eine Schande sei das, und dieses Leben sei eine harte Strafe für das Kamel.

So stehen 2 Sichtweisen auf ein und dasselbe Tier nebeneinander: die Geschichte vom Camp als Lebensretter eines Kamelbabies und die Interpretation der Lebensumstände des Kamels als harte Strafe. Es stehen die Sichtweise eines modernen karitativen Gedankens gegen die Gedanken und Erfahrungswelt von Viehzüchtern, die aus der Sichtweise des Kamels heraus die Welt interpretieren und nicht aus der Sicht der Menschen. Hierzu haben die Telengiten ein Sprichwort parat:

Kilegenin kinček – Mitleid ist Sünde.

Dieser Unterschied steht symptomatisch für beide Welten, die hier dicht an dicht nebeneinander liegen: einmal die Sicht der im Lebensrhythmus der Natur- und Herdentiere lebenden Telengiten und die Sicht der modernen Menschen, die sich in diese weit entlegenen Gebiete eingekauft haben, um ein Stück Lebenstraum zur Wirtschaftsgrundlage zu machen.

Esotherisches Poligon

Das Ergebnis dieses Traums beim Aufbau eines Jurtencamps mit naturnahem Umgang ist ein esoterisches Poligon. Das Wort Poligon ist dabei Russisch und bedeutet eigentlich „Truppenübungsplatz”. Dieser Begriff umfasst aber ebenso eine vieleckige Fläche, das seinen eigenen Regeln folgt. Die esoterischen Leitlinien des Camps sind freie Wahl des Ausdrucks unter zu Hilfenahme der Ornamentik und Ästethik von Buddhismus, Christentum und der Kunst der Reiternomadenvölker, hier auch Skythen genannt. Umrandet werden die Berge des Camps von Steinsäulen, die einerseits von den einheimischen Hirten als Verehrung der Herren der Berge aufgestellt werden, andererseits von den Camp-Mitarbeitern in Anleihe auf diesen heidnischen Brauch auch an Stellen aufgestellt werden, wo kein einheimischer Heide einen Herren der Berge vermuten würde.

Büffel, Jurte, religiöser Themenpark

Büffel, Jurte, religiöser Themenpark

So ist also die religiöse Ästhetik einerseits in die religiösen Geisterwelten des Altaj eingebettet, andererseits aber auch eigenwillig interpretiert.

Die Bewohner dieser Gegend bezeichnen den Ort des Camps als Kyzyl-jar – roter Fels – und sehen in ihm den Aufenthaltsort von vielen Geistern, unter anderem unreinen. An solchen Orten können Geister in solchen Massen auftreten, das es zu einem turgak kommt, dann halten die Geister deine Transportmittel oder Fahrzeuge (Pferd, Fahrrad, Auto) an. Hat man kein Feuerzeug (otyk) zur Hand, um diese Geister zu vertreiben, dann verlässt man lieber den Ort und kehrt erst am Morgen zurück, um Pferd, Fahrrad oder Auto einzusammeln.

ein als heilig geltender Pferdeanbindepunkt und eine Installation

ein als heilig geltender Pferdeanbindepunkt und eine Installation

Abendliche Grenzverschiebungen

Am Ende eines jeden Tages finden sich Mitarbeiter wie auch Gäste des Camps am Lagerfeuer zusammen. Hier werden  Erlebnisse des Tages ausgetauscht, von vergangenen Abenteuern erzählt und oft kommen die geistigen Vorstellungswelten der Campmitarbeiter zu Tage. Dabei findet eine Erzählung immer wieder ihre Zuhörer: vor vielen Jahren, irgendwann zwischen 1750 und 1850 war das Chuj Tal Teil des Chinesischen Imperiums der Qing. Dabei sei an der Stelle, an der heute das Camp des goldenen Kamels steht, vielleicht einmal eine chinesische Handelsstation gewesen. Russische Reisende dieser Zeit (z.B.  Sapožnikow) hätten von einer mongolisch chinesischen Station an einem roten Felsen geschrieben. Auch die mongolische Vergangenheit wird an diesen Abenden hervorgeholt, es liegt so etwas wie der Traum von der Staatenlosigkeit, von einer Zeitlosigkeit in der Luft, in der durch die Dunkelheit und die Wärme des Feuers exotische Vorstellungswelten entfacht werden, die einen aus den aktuellen Gegebenheiten entfliehen lassen. Es liegt in diesen Erzählungen nicht nur eine von historischen Fakten inspirierte Grenzverschiebung verborgen, sondern auch ein Traum von den Regeln einer anderen Zeit. Chingis Chan und seine Kriegskunst, seine erbarmungslose Verfolgung aller Lügen und Intrigen in seinen Reihen, die Aufteilung der Heere Chingis Chans in linke und rechte Flügel, die nur von Hirten und Viehzüchtern zu bewerkstelligende Technik des gemeinsamen Einkreisens der Feinde, kurz alle Details einer Erzählung verdichten das Erlebnis einer Zeitreise.

„Und stellt Euch vor, unter solchen Bäumen wie wir hier sitzen rasteten einmal sakische Reiter, skythische Krieger, mongolische Heere, chinesische Kaufleute.”

so heisst es oft von den Mitarbeitern des Camps.

Redet man mit den Viehhirten oben auf dem Berg über die Mongolei oder die Mongolen, dann kommen Geschichten von illegalem Grenzübertritt, Viehdiebstahl oder vom Verkauf geraubten Viehs zu Spottpreisen auf mongolischen Märkten zu Tage. Von einer mongolischen Vergangenheit will hier niemand etwas wissen.

 

Unweit des Camps steht ein Steinkrieger (balbal). Zeuge einer bronzezeitlichen Vergangenheit

Unweit des Camps steht ein Steinkrieger (balbal). Zeuge einer bronzezeitlichen Vergangenheit

Symbiose

Die letzten Tage war ich viel in den Tälern unterwegs und suchte Herden und Hirten, fand aber nur leere Winterstationen vor. Meine Hoffnung, Teile der Familien (Alte, Frauen, Kinder) zu finden, die nicht mit auf die Sommerweiden gefahren waren, ging nicht auf. Sie alle waren auf die Standorte der Sommerweiden gefahren. Normalerweise befinden sich diese Standorte weit weg von hier, in der Nähe der Schneegletscher, am Fuß der Berge, weit über 2000 Meter. Frühjahrsweiden und Sommerweiden sind von hier aus nur mit dem Auto an einem Tag zu erreichen. Bevor der Lastwagen die Hauptlast des Transportes trug, mussten lange Märsche mit Vieh und Hausrat in Kauf genommen werden. Nur die Viehhirten Wasilij und Genadij weiden ihre Herden unweit des Touristencamps. Die Weiden liegen für Sommweiden ungewöhnlich tief, dafür aber sind sie in erreichbarer Nähe des Jurtencamps. So gehen die Viehirten das Risiko ein, ihre Herden nicht angemessen versorgen zu können, haben aber dafür die Touristen und die Küche des Camps als stetige Abnehmer von Milch und Fleisch. Einige der Touristen kaufen auch Käse und Quark, den die Frau von Wasilij in ihrem Sommerlager herstellt. Diese Symbiose scheint sich zu lohnen. Die Herde von 400 Schafen ermöglicht stetige Versorgung mit Fleisch, alle anderen Lebensmittel müssen die Organisatoren des Camps aus dem 20 km entfernten Kosh Agach selbst holen. Seit dem die Grenze mit der Mongolei für den Warenverkehr geschlossen ist, werden alle Lebensmittel aus Novosibirsk herangeschafft, eine Reise von 900 km mit zwei hohen Pässen. So ist alles, was von den Organisatoren des Camps lokal eingekauft werden kann, auch für diese ein gutes Geschäft.

Einbettung

Neben dieser Symbiose ist die Einbettung des Tourismusgeschäft in die lokalen Gegebenheiten denkbar gering. Die lokale Küche und die dafür nötigen Lebensmittel kommen bei den meisten Touristen nicht an, der Kefir ist zu sauer, der Käse wiederum kaum mit Milchsäure hergestellt. Die meisten Gerichte im Altaj sind aus Fleisch oder Milch (Ziege, Schaf im Sommer, Rind im Winter). Die lange Haltbarkeit und die Möglichkeit, zubereitete Lebensmittel leicht über weite Strecken transportieren zu können, spielt bei allen Gerichten eine große Rolle. Die europäische Zunge ist daran kaum gewöhnt und die meisten russischen Touristen bevorzugen die ihnen bekannten Gerichte. Um diese aber herzustellen, müssen lange Transportwege in Kauf genommen werden.

Das Camp bietet für die Touristen lange und kurze Touren an, die sie mit eigenen Jeeps und großen LKWs bewerkstelligen. Dazu werden keine lokalen Transportarbeiter angestellt. Eine Gruppe ständig im Camp lebender Russen übernimmt diese Aufgaben. So ist denn auch der Zugang zur lokalen Bevölkerung von einer gewissen Distanz und Überheblichkeit geprägt. Der sonst sehr harmonische Zugang zu den lokalen Geisterwelten entpuppt sich dabei als Ornament, das Lokalkolorit für die nach Exotismus suchenden Touristen.

Es werden Sänger (kajči) eingeladen, die Kehlkopf- und Obertongesang vorführen. Der Zugang zu ihnen ist auch wiederum von einer gewissen Distanz geprägt. Es wird nie ein Zweifel daran gelassen, wer hier die Oberhand hat. Im Kuraj -Tal fehlt dieses Gefühl der kolonialen Inbesitznahme des Altaj völlig. Hier organisieren die Telengiten das Tourismusgeschäft und sind dementsprechend eingebettet. In Tyttujarik ist dieses Tourismusgeschäft ein Fremdkörper.

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