Before Taliban

Eine Buchvorstellung von Th. Loy

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Vor den Taliban? So lautet der Titel eines der wohl lesenswertesten Bücher, das in den letzten Jahren zu Afghanistan herausgegeben wurde. Und es wurde viel herausgegeben in den Jahren seit 2001. (Alleine im Katalog der Berliner Staatsbibliothek sind unter dem Schlagwort “Afghanistan” 387 Bücher gelistet, die zwischen 2001 und 2010 erschienen sind; davon 217 auf Englisch und 81 auf Deutsch). Bezeichnenderweise wurde “Before Taliban” schon geschrieben, bevor die Taliban durch den Kriegszug der Amerikaner und ihrer Verbündeten von der Macht in Kabul verdrängt wurden. Das Buch wurde also geschrieben, bevor Afghanistan ein Topthema wurde und von Heerscharen selbsternannter Afghanistan-Experten in allen Medien, Genres und Gattungen niedergeschrieben wurde.

Veröffentlicht wurde Before Taliban – Genealogies of the Afghan Jihad dann im Jahr 2002, gleich zu Beginn des schlagartig einsetzenden Interesses, nachdem die Twin Towers in Schutt und Asche gelegt wurden und mit ihnen das Herz und der Verstand des Westens.

Leider, so scheint es, haben die wenigsten derer, die aus und über Afghanistan schreiben und berichten dieses Buch gelesen, und schon gar nicht diejenigen, die unsere Politiker beraten oder selbst in der Regierung oder Opposition sitzen. Denn hier schreibt jemand, der Afghanistan nicht als Mode- oder Karrierethema entdeckt hat, sondern sich seit Jahrzehnten mit der Kultur, der Politik und den Menschen dieser Region beschäftigt. Solche Menschen gibt es einige, auch hier in Deutschland, doch auf sie hören mag man nicht gerne. Denn was man von Ihnen erfahren kann (oder erfahren hätte können) liegt konträr zu fast allem, was in den letzten 10 Jahren in Bezug auf Afghanistan falsch gemacht wurde.

Vor den Taliban? War da überhaupt etwas?

In einer bestechenden Detailliert- und Klarheit beschreibt David B. Edwards die entscheidenden historischen Entwicklungen der 1960er Jahre bis hin zum Marxistischen Staatsstreich 1978 und den sich daran anschließenden, vornehmlich tribal organisierten Widerstand, der dann schnell vom islamisch geprägten Dschihad der von Pakistan aus operierenden Gruppierungen abgelöst wurde. All dies ist natürlich hinlänglich bekannt, kaum jedoch die afghanische Perspektive auf und von diesen Bewegungen, die Edwards hier vorlegt.

Anhand von drei exemplarischen Lebensgeschichten und den dazugehörigen Interviews, die Edwards in den 1970ern in Kabul und dann vor allem in den 1980er Jahren in Peschawar geführt hat, dringt man ein in das Innenleben der drei Triebfedern afghanischer Geschichte: Staat, Stamm und Islam, sowie in ihre Verbindungen, Gemeinsamkeiten, Widersprüche und Unterschiede. Staat, Stamm und Islam sind laut Edwards in Afghanistan drei gescheiterte Gesellschaftsentwürfe am Ende des 20. Jahrhunderts. Staat, Stamm und Islam sind aber die drei wesentlichen Konzepte die auch heute noch das Leben und die Geschichte in Afghanistan prägen. Wie Staat, Stamm und Staat zu dem geworden sind, was wir heute (d.h. beim Einmarsch der Nato) vor uns haben, kann man nur ansatzweise verstehen, wenn man ihre historischen und gesellschaftlichen Bedingungen kennt. Und genau dies kann man beim Lesen dieses Buches erfahren; nicht theoretisch und abstrakt, sondern praktisch, verständlich und ideologiefrei, trotz aller Komplexität!

David B. Edwards wählt für die drei Gesellschaftsentwürfe drei Individuen; deren Lebensgeschichten und Schicksale machen die Verbindung und Differenzen von Staat, Stamm und Islam und deren Veränderungen im Laufe des für Afghanistan so traumatischen 20. Jhd. direkt nachvollziehbar:

Nur Muhammad Taraki, der Präsident der Demokratischen Republik Afghanistans und seine Volksdemokratische Partei Afghanistans repräsentieren den gescheiterten Staat. Eine Lektion, die auch den Unterstützern der jetzigen Regierung in Kabul durchaus bekannt vorkommen dürfte. (Vgl. etwa die “Conclusion” zur “Armatur der Khalqi Herrschaft” S.83-86 – für die, die wieder einmal wenig Zeit haben, bietet sich an, nur die den einzelnen Unterkapiteln zugeordneten “Schlussfolgerungen” zu lesen!)

Das eindringlichste Kapitel des Buches ist dann vielleicht die Geschichte von Wakil Samiullah Safi. Ein Paschtune aus Petsch, nördlich von Dschalalabad gelegen im Gebiet von Kunar (Nuristan), der als Sohn eines prominenten Stammesführers seine Rolle sucht, nach dem 27. April 1978 findet und dann schnell im Widerstand gegen die neuen Machthaber scheitert. Die Gründe für den Machtverlust des tribal (paschtunisch) organisierten Widerstands werden dann anhand einer dritten Biographie erläutert.

Qazi Muhammad Amin Waqad war frühes Mitglied der in den 1970er Jahren an der Universität von Kabul erstarkenden Organisation der Jungen Muslime (saazmaan-i javaanaan-i musulmaan). Aus dieser muslimischen Studentenbewegung gingen dann im pakistanischen Exil unter anderem die Widerstandsparteien Hekmatyars (Hizb-i Islami) und Rabbanis (Jamiat-i Islami) hervor. In beiden war Qazi Amin an führender Stelle aktiv, als er 1984 und 1986 von Edwards interviewt wurde. Die internen Querelen, Machtkämpfe und die Unfähigkeit auch unter islamischem Vorzeichen einen vereinigten Widerstand gegen die Sowjetische Besatzung und das Regime in Kabul zu organisieren, stehen im Mittelpunkt dieses Kapitels.

Die Leistung Edwards ist es vor allem, diese drei Biographien nicht isoliert zu sehen, sondern diese, wie der Untertitel des Buches bereits andeutet, in Zusammenhang mit ihren familiären und geschichtlich-gesellschaftlichen Kontexten zu präsentieren. Wohl nur so lassen sich die veränderten Bedingungen, Vorstellungen und Möglichkeiten von Staat, Stamm und Islam in Afghanistan im 20. Jhd verstehen.

“Mein eigener Anspruch auf Glaubwürdigkeit von historischen Verläufen in der afghanischen Geschichte beruht auf einem genealogischen Ansatz. Dieses Konzept ruht auf der Überzeugung, dass wir viel lernen können, wenn wir den Blick auf ein Individuum mit den größeren historischen und kulturellen Prozessen verbinden, um so zu verstehen, was sonst unklar für sich alleine stehen würde…
Ich war in der Lage, den Krieg aus der Perspektive von Männern zu sehen, die sich der Schwierigkeit unterzogen, durch politische und bewaffnete Auseinandersetzung Ziele zu erreichen, die sie zu anderen Zeiten als unwirklich angesehen hätten … Mir geht es vor allem um Männer in verantworungsvollen Positionen, die von vielen anderen jungen Männern als Führer angesehen werden… Dieses Buch konzentriert sich auf drei Führer, die in den ersten Jahren des Krieges prominent wurden, und die mit der Geschichte fertig zu werden versuchten, um die Zukunft zu gestalten. “(Edwards, bevor Taliban, Vorwort, S. XVIII-XIX)” (Übersetzung von OlimDevona)

Ganz nebenbei ist Before Taliban eines der gelungensten Beispiele einer vornehmlich mit mündlichen Quellen argumentierenden Geschichtsschreibung und somit nicht nur für Leute mit Interesse an Afghanistan höchst relevant. Besser kann man Oral History nicht schreiben!!

Heute kam mit der Post auch das erste Buch von David B. Edwards: In Heroes of the Age – Moral Fault Lines of the Afghan Frontier von 1996 stehen (ebenfalls) drei wichtige Persönlichkeiten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Mittelpunkt und die Geschichten, die man sich heute in Afghanistan über sie erzählt. Es handelt von einem Paschtunischen Stammesführer (Sultan Muhammad Khan – dem Vater von Safiullah Safi aus Before Taliban), einem muslimischen Heiligen (Najimuddin Akhundzoda – der “Mulla von Hadda” und seinen Schülern) und einem König (Amir Abdurahman Khan), der 1880 den Thron in Kabul besteigen und als der “Eiserne Emir” in die Geschichte eingehen sollte. Es sind also die “tiefen Strukturen”, die “lange Dauer” und die Geschichte der Gegenwart, die diesen Autor beschäftigen. Und ich freue mich schon auf das Lesen!!

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