Der Zirkus Suhr in Taschkent

(Ein Beitrag von Pulot Toschkenboev; Ãœbersetzung Olim devona)

Am Ende des 19. Jahrhunderts, nach der Angliederung der turkestanischen Territorien an Rußland kamen vermehrt Musik-, Theater- und Zirkustruppen auf der Suche nach neuem Publikum in die Gegenden der ehemaligen Fürstenstaaten Zentralasiens. Durch diese Tourneen kam die lokale Bevölkerung mit den kulturellen Werten der russischen und europäischen Kulturen der damaligen Zeit direkt in Kontakt. Großen Erfolg hatten dabei Zirkustruppen, die aufgrund ihrer spielerischen Vielfältigkeiten vom ersten Tag ihrer Gastspiele an eine ungeheure Popularität beim Publikum genossen.Von den mehr als 20 Zirkusunternehmen, die um die Zeit der Jahrhundertwende in kleineren und größeren Städten Russisch Turkestans auftraten, war eines der größten der Zirkus Suhr.

Der Direktor des Zirkus war der Russlanddeutsche Wilhelm Suhr, eine der prominentesten Figuren in der russischen Zirkusgeschichte. Sein Name ist in einer Reihe zu nennen mit Szipione Chiniselli, Albert Salomonski, den Gebrüdern Nikitin oder Maximilliano Truzi. Wilhelm Suhr war in den 1860er Jahren zusammen mit seiner Familie aus Deutschland nach Russland ausgewandert. Am Ende des Jahrhunderts schon hatte er in mehr als zehn großen Provinzstädten des Russischen Reiches die damals üblichen temporären Zirkusgebäude für sein Gastspiel aufstellen können. In Kiew, Odessa, Charkow, Rostow am Don, Sebastopol und Tiflis.

Nach Taschkent kam der Zirkus Suhr zu Beginn des Jahres 1898. 90 Personen, 42 Pferde und eine Vielzahl weiterer Tiere waren mit von der Partie. Doch die Spielzeit startete schleppend. Die ersten Vorstellungen waren schlecht besucht. “Zirkus Suhr ist ein wundervoller Zirkus, doch es tut uns beinahe leid, dass er nach Taschkent gekommen ist” war damals in den Lokalnachrichten der “Turkestanskie Vedomosti” zu lesen. “Die allgemeine Armut, der Schlamm auf den Straßen und die große Entfernung des Zirkusstandorts von den dichter besiedelten Teilen der Stadt, führen dazu, dass das große Publikum ausbleibt. Schade! Doch bleibt trotz Zuschauermangels zusammenfassend festzustellen, dass die Zirkusadministration alles versucht, die Vorstellungen interessant und vielfältig zu gestalten und hätte damit den Erfolg eigentlich mehr als verdient.”

Doch die Situation änderte sich. Die vom Zirkus Suhr gestartete aufwendige Werbekampagne zeigte Wirkung und lockte immer mehr Zuschauer an. Plakate und Annoncen wurden nicht nur auf Russisch gedruckt, sondern erschienen in den lokalen Blättern auch in der Landessprache. Keine dieser Ankündigungen glich der anderen. Die kreativen Fähigkeiten und der graphische Aufwand der Zirkusadministration, den eigenen Betrieb zu bewerben, waren enorm.

Otto Suhr, Foto P. ToschkenboevIn der Truppe der Suhrs gab es Artisten der verschiedensten Genres. Willi Kremser arbeitete als Clown. Seine Frau Adella Kremser trat als Voltigeurin auf. Die Gebrüder Zlobin waren Schwerathleten und Ringer. Kamelias arbeitete als Trapezkünstlerin. Momino und Nina waren musikalische Multitalente. Neben Kremser gab es noch zwei weitere Clowns, Sorokin und Reich. Es gab Nummern mit dressierten Hunden, Ziegen und sogar Wölfen. Die Hauptattraktion des Zirkus Suhr jedoch war die Pferdenummer, ausgeführt von Marta, Olga, Adalbert und Otto Suhr, den Kindern des Zirkusdirektors. Ihre Namen leuchteten in roten Lettern von den Plakaten. Sie waren es, die bei der Premiere am meisten gefeiert wurden. Sie bedankten sich dafür mit den meisten Zugaben. Die Gebrüder Adalbert und Otto Suhr waren nicht nur Voltigeure erster Klasse, sie hatten auch Solonummern im Repertoire. Adalbert dressierte Pferde “auf die Freiheit”. Otto jonglierte im Reiten. Einen Höhepunkt der Show lieferte Adalbert, der mit einem Pferd und einem Hund in die Manege trat und beide Tiere elegant und synchron Pirouetten drehen ließ.

Marta Suhr, Foto P. ToschkenboevSchenkt man den lokalen Zeitungen Glauben, so waren Marta und Olga Suhr die unumstrittenen Stars – die eine voltigierte grotesk, die andere wie ein Djigit. “Einzigartig”, “unnachahmlich”, “grandios” oder “außergewöhnlich” wurden ihre umjubelten Auftritte charakterisiert. Zusätzlich konnten die beiden Schwestern vorzüglich tanzen, auf Musikinstrumenten spielen und Pantomimen darstellen. Die eigentliche Meisterin unter ihnen war Olga “die mutige und holdselige die Djigitin, im schönen Kostüm und mit dem sympathischen Gesicht”. In jenen Jahren war die Popularität Olga Suhrs in Russland außergewöhnlich hoch, und die Leute waren so auf sie erpicht, dass unter ihrem Namen eine Reihe von Industrieprodukten aufgelegt wurden: “Olga Suhr” Konfekt, “Olga Suhr” Parfüm oder “Olga Suhr” Gesichtspuder.

Bald nach der Ankunft des Zirkus Suhr in Mittelasien begann man vom Zirkus als einer erhabenen Kunst zu sprechen. “Das gesamte Ensemble”, so ein Rezensent, “zeichnet sich durch ihre Kunst aus, d.h. der Geschliffenheit und der Leichtigkeit ihrer Darstellung. Kein Künstler brachte bisher soviel eigenes Kolorit in Nummern, die wir doch eigentlich schon von einem Dutzend anderer Zirkusse gewohnt sein müssten. In diesem Zirkus gibt es kein Handwerk zu sehen, das sich schlicht Brot verdienen will, hier arbeiten Artisten, die Seele in ihr Werk legen.”

Obwohl in den ersten Tagen nur wenige den Weg in das Zirkuszelt fanden, beeinflusste das nicht das Programm der Truppe. Mit den Worten eines Zeitgenossen: “für einige Dutzend Leute ackerte sich die Truppe genauso ab, wie sie es vor Hunderten getan hätte.”

Es ist wohl auch nötig anzumerken, dass der Zirkus Suhr sich gehörig von anderen Zirkusgruppen unterschied, die in Turkestan unterwegs waren. Die Art, wie sie ihr Programm zusammenstellten, ermöglichte es der Truppe etwa vier Monate in Taschkent aufzuspielen – eine für Zirkusse lange Zeit – ohne etwas in ihrer Aufstellung zu ändern. Hierin liegt wohl etwas Einzigartiges.

Wie auch in anderen großen Zirkusunternehmen, zeigte der Zirkus Suhr Pantomimen, d.h. thematische Ausstattungsspektakel, ausgerichtet mit den Mitteln und Ausdruckstechniken von Zirkus und Theater, in welche sie ebenfalls Dialog und Monolog einfließen ließen. Der Fakt, dass der Zirkus Pantomimen unter zwanzig Bezeichnungen aufführte, ja sogar eine erst hier erfunden wurde, zeigt, welch hohe Aufmerksamkeit die Zirkusleitung diesen Spektakel widmete.

Darüber hinaus verfolgte die Pantomime jenseits der rein künstlerischen Aussage auch kommerzielle Anliegen – von der Angewohnheit eines Saisonprogramms abrückend, gelang es der Truppe, das gleiche Publikum mehrere Male in die Vorstellungen zu ziehen. Zur Einwerbung des Publikums zeigte die Truppe “kinematographische Bilder”, verteilte Werbegeschenke an die Zuschauer und hatte Sonderverkaufsaktionen wie “zwei Personen auf eine Eintrittskarte”.

Ringwettkämpfe 1962, Foto Regionalmuseum KhodjandAuch Ringkämpfe wurden im Zirkus abgehalten. Die Truppe wusste, dass der lokale Ringkampf ein geeignetes Mittel war, so viele Zuschauer wie möglich in das Zirkuszelt zu holen. So veranstaltete der Zirkus vom ersten Tag an Ringkämpfe zwischen russischen und usbekischen Kämpfern. Damit wurde der Zirkuskampf eine der ersten Formen gemeinsamer Auftritte von russischen und lokalen Artisten. Auch hierin liegt ein unschätzbarer Verdienst des Zirkus Suhrs. Auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen veranstaltete der Zirkus “Olympische Rennen”, eine besonders beliebte Attraktion in den Zirkussen Europas. Sie wurden zu Ehren der Olympischen Spiele abgehalten, die erstmalig nach jahrhunderter langer Pause in Athen nur ganze zwei Jahre vor den Gastspielen des Zirkus Suhr in Taschkent wieder aufgenommen wurden. Zuerst wurden diese “Olympische Rennen” im Hippodrom, gleich neben dem Zirkuszelt abgehalten, später auf dem Dreschplatz in der Altstadt Taschkents, also dort, wo auch die örtliche Bevölkerung wohnte.

Wettlauf 1962, Foto Regionalmuseum KhodjandDie Wettrennen bewiesen abermals, dass die hauptsächliche Attraktion des Zirkus die Pferde waren. Obwohl das Programm von sportiven Elementen beherrscht wurde, blieb es nichtsdestotrotz eine Zirkusattraktion. So wurden Rennen von Jockeys, von Amazonen, von römischen Streitwagen, Rennen von Pferden ohne Reiter oder Rennen von Pferd gegen Fahrrad abgehalten. Da der Zirkusdirektor wusste, wie ungemein populär Pferderennen auch in der lokalen Bevölkerung waren, wurden auch örtliche Reiter zu Pferde in diese Rennen integriert. Ohne Frage war dies eine weitere Bemühung des Zirkus Suhr, die besten Vertreter der örtlichen darstellenden Künste und des Sports mit in die Vorstellungen zu integrieren. Dies geschah nicht nur des kommerziellen Erfolges wegen, sondern sicher auch, um ein vielfältiges Programm aufzulegen.

reigenweb.jpgZusammenfassend sollte wohl im Zusammenhang mit der Gastrolle der Suhrs in Taschkent auf folgendes hingewiesen werden: vergleicht man die Suhrs mit den anderen Zirkustruppen, die in der Region Turkestan am Scheideweg beider Jahrhunderte herumtourten, ist unschwer einiges zu finden, das diesen Zirkus von vielen anderen unterschied. Sie komponierten ihr Programm anders, sie integrierten neue Formen der darstellenden Künste und des Sportes in das Zirkuszelt: Pantomime, Benefizveranstaltungen, Pferderennen, Ringkämpfe und die Einladung lokaler Artisten. So ist der Zirkus Suhr wohl eines der ganz großen Provinz-Zirkusunternehmen gewesen, die begierig alle Neuigkeiten, die es in den Zirkussen Europas und Russlands gab, aufnahmen und dadurch diese auch dem lokalen Publikum in Mittelasien bekannt machten. Auf diese Weise wirkte der Zirkus Suhr dann auch auf die spätere Entwicklung der Zirkuskunst in Usbekistan ein.


(Pulot Toshkenboev ist Mitarbeiter des Instituts für Kunstwissenschaften in Taschkent, sowie Direktor des Zirkusses “Cirk na cene”)

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