(Ein Beitrag von Andreas Mandler)
In der jüngst erschienenen monumentalen OSTEUROPA-Ausgabe zu Zentralasien stellen die Herausgeber fest: “Das heutige Zentralasien ist weitgehend terra incognita”. Das trifft für Wanderfreunde/innen nicht ganz zu, denn so groß und breit und hoch die Länder Zentralasiens sind, so gibt es doch eine Vielzahl detaillierter Reisebeschreibungen, d.h. von Reisen zu Fuß.
Anders als in rasch wechselnden Bereichen wie Politik, Energie oder Soziales, bleiben die Wege und Ziele beim Wandern weitgehend gleich. Nur sind sie nicht immer einfach aufzufinden. Aufgrund der gemeinsamen Jahre im Sozialismus, gibt es auf Deutsch relativ viel Literatur zum Wandern und Bergsteigen in Zentralasien. Einen großen Anteil an der Existenz dieser Reisebücher haben der Berliner Sportverlag und der Verlag F.A. Brockhaus Leipzig. Zwischen 1960 und 1980 erschienen in diesen Verlagen verschiedene Ãœbersetzungen aus dem Russischen von Alpinisten oder wandernden Wissenschaftlern. Zugleich entstanden Werke von Autoren wie Fritz Rudolph, Georg Renner und anderen Bergsteigern, die so etwas wie den sozialistischen Abenteuerbericht der Gegenwart lieferten.
[inspic=250,,,0] Flott in Form eines dramatisierten Expeditionstagebuchs geschrieben, sind die Protagonisten “Jungs”, die sich gegenseitig beim Spitznamen rufen. Es mangelt nicht an unvorhergesehenen Abenteuern mit Schlangen und Flussüberquerungen, selbstredend werden in den Bergen Höchstleistungen vollbracht. Darin wird den Forschern und Bergpionieren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in nichts nachgestanden. Zwar wird an die Leistungen dieser Entdecker angeknüpft, doch die Autoren sehen sich in einer ganz anderen Position. Sie kommen als Sportler und Mitglieder derselben Arbeiterklasse. Sie begegnen den Einheimischen als ihresgleichen, wie Mitglieder der gemeinsamen sozialistischen Völkerfamilie. [inspic=249,,,0] So klingt aus den Büchern ein tiefes Vertrauen in den Fortschritt, das vielleicht typisch für die 70er Jahre ist. Technik und soziale Modernisierung sind die Messlatten dieses Fortschritts. Die Errungenschaften der Sowjetunion im sozialistisch-islamischen Morgenland bilden einen feststehenden Topos in der Literatur. Das wird auf so exotische Formeln gebracht wie: Kamele und Hubschrauber, Mullah und Mathematikolympiade, Esel und Funksprechanlage etc. Das Freibad in Duschanbe bleibt nicht unerwähnt: “Nicht mal getrennt in Herren- und Damenbad! […] Und in den Kischlaks dürfen sich die jungen Männer und Mädchen nicht einmal auf der Straße begrüßen!” (Rudolph: Turkestan 1967).
Abgesehen von dem (erträglichen) Anteil ideologielastiger Stellen und Sprachgebrauchs, so ist die Lektüre dieser Werke spannend, insofern man sich für die Glanzzeit der UdSSR, die 60 und 70er Jahre, die Geschichte Zentralasiens und für Bergabenteuer interessiert. Die vordergründige Affirmation gegenüber den gesellschaftlichen Konditionen ist der Publizistik der DDR geschuldet – und fällt von diesem Punkt aus gesehen nicht stark ins Gewicht. [inspic=256,,,0] Vor allem sind aus diesen Büchern wunderbare Bergtouren und Wanderungen zu entnehmen. Denn tatsächlich haben diese Werke die Region für das “leichte” Wandervolk erschlossen. Meist wurden sehr gründlich die Quellen recherchiert, sowohl deutsche, als auch russische. Zur Expedition gehörte neben körperlicher Fitness die genaue Kenntnis bisheriger Touren. Einer dieser Autoren, Georg Renner, war nach eigener Aussage 40-mal in Tadschikistan. Er spricht Russisch und Tadschikisch und hat sein gründliches Wissen von der Region autodidaktisch angeeignet.
[inspic=253,,,0] Bezeichnend ist, dass Renner immer als Privatmann mit Freunden reiste. Es gab in der DDR, neben einer Nationalmannschaft der Alpinisten, verschiedene Gruppen die mit enormem Aufwand ihre Reisen in die Sowjetunion organisierten und nicht auf staatliche Unterstützung zugreifen wollten oder konnten. Ihr Enthusiasmus war sehr produktiv. Nicht nur dass sie beeindruckende Leistungen als Bergsteiger vollbrachten, es entstanden auch Bücher, wunderbare Fotos, detaillierte Karten und Zeichnungen. Es stimmt versöhnlich, dass gerade ihr Abenteuergeist eine Nische in den Verlagen finden konnte. Die Einheimischen hingegen blieben allerdings weitestgehend unberührt von der fremden Wanderlust. Das Bergsteigen blieb vor allem eine Angelegenheit von Russen und befreundeten Ausländern. Sie selbst scheinen zu bescheiden, um auf Berge zu steigen oder zumindest benötigen sie einen Grund, um sich den Strapazen auszusetzen, etwa wenn die Besteigung eines Berges einem Gottesdienst gleich kommt oder Berggipfel Pilgerorte sind. Wandern um des Wanderns Willen ist nicht ihr Konzept. Schon im Russischen gibt es Ãœbersetzungsprobleme. Wandern auf Russisch ist etwas ungenau: ÑтранÑтвовать – reisen, herumkommen, pilgern. Im Tadschikischen fehlt der Begriff: Ñаёңат кардан – verreisen, eine Exkursion machen, umherreisen. Neben dem usbekischen Pendant Ñаёңат kilmoq, gibt es noch die Bezeichnung Umherschweifen (kezmoq), das aber selten in luftige Höhen oder menschenleere Wüsten führt. Das bestätigt den Eindruck, dass hier das Wandern als Freizeitbeschäftigung eher eine Randerscheinung ist. Wie Lewenstein schreibt, war der erste Kirgise über 7000m Höhe Usen Sapalow 1960 auf dem Pik Lenin. Unter den Erstbesteigern der hohen Berge befinden sich keine Einheimischen. Es bleibt anderen vorbehalten zu klären, warum das Wandern und Bergsteigen Angelegenheiten v.a. der Europäer sind. Spätestens seit den 60er Jahren hatte sich in der Sowjetunion das Wandern zu einer populären Form des Tourismus entwickelt. Beispielsweise war das tadschikische Fan-Gebirge für Wandergruppen sehr gut erschlossen. Nördlich von Duschanbe, im Hissar-Gebirge, befindet sich das Alpinistenlager Warsob. Leider ist es heute in einem schrecklichen Zustand, da sich dort während des Bürgerkrieges ein Militärlager befand. Solche Einrichtungen belegen den damaligen Ansturm der “Touristy” und “Alpinisty” in den Sommermonaten. “Alpinist” ist eine auch in entlegenen Dörfern sofort akzeptierte Selbstbezeichnung. Von der ehedem existierenden Infrastruktur zeugen die sowjetischen Karten mit eingezeichneten “Marschruty”, d.h. Wanderwegen.
[inspic=251,,,0] Heute könnte das Wandern wieder zu einer Einkommensquelle der ländlichen Bevölkerung werden. Wie das gelingen könnte, beschreibt ein Artikel in der schon erwähnten OSTEUROPA-Ausgabe. Notwendig wären dafür zunächst bessere Kommunikationsmittel, sodass lokale Anbieter sich mit potentiellen Kunden abstimmen könnten. Allerdings werden Wandertouristen schwerlich zur Massenerscheinung, doch um den Bergbewohnern Einkommensmöglichkeiten zu verschaffen reichte es allemal.
Mehr Informationen zum Wandern und ausführliche Hinweise zur Wanderliteratur über Zentralasien sind auf der Seite http://wandern-zentralasien.org zu finden. Dort werden auch Wandertouren gesammelt und veröffentlicht.
(Andreas Mandler ist Zentralasienwissenschaftler und arbeitet im Bereich ländliche Entwicklung in Entwicklungsländern.)
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