Die Zigeuner Mittelasiens

(Ein Beitrag von Olim devona)

fotima.jpgDas ist Fotima. Fotima ist ein Wellensittichweibchen mit aussergwöhnlichen Fähigkeiten. Sie sagt uns die Zukunft voraus. Und das, was sie mir vorausgesagt hatte, oder besser, was sie aus dem Haufen Papier, auf dem sie immer sitzt, fuer mich heraussuchte, traf 100% ins Schwarze: “Deine Wünsche gehen alle in Erfüllung. Aber nicht so, wie du es dir denkst. Du verschwendest viel zu viel Zeit darauf, was du gerade tust.” Genau das tat ich damals in Xodjand. Ich stand vor den Pforten eines Museumsarchives und wartete, auf das es sich irgendwann öffne.

Fotima gehört Maxluba. Maxluba wiederum gehört zu einer etwa 1000 Personen umfassenden Gruppe, die seit Menschengedenken in der Gegend um Xodjand leben, und die hier im Norden Tadschikistans und auch in anderen Regionen Mittelasiens luli genannt werden. Luli ist eigentlich ein Schimpfwort, geht doch mit dieser Bezeichnung die Sage einher, das Geschwisterpaar Lu und Li hätten sich einst in Liebe entbrannt einander hingegeben. Gott lies sie daraufhin fallen und wies sie von sich. Die Nachkommen aus dieser Vereinigung nun seien die heutigen luli. Dieser Schimpfmythos jedoch bringt den Zorn der Zigeuner Mittelasiens zum Kochen. Die meisten nennen sich daher lieber Zigeuner (cigan) als luli. Denn als irgendwann im 19. Jahrhundert die kolonialen Landvermesser und Ethnographen kamen und Maxlubas Urgrosseltern als cigan “ Zigeuner” bezeichneten, war dieser Begriff noch nicht negativ belastet. So übernahmen mittelasiatische ambulante Händler, Krämer oder Abdecker diesen Namen und sagen von sich seitdem mit Stolz, sie seien Zigeuner.

Ihr Grossvater, sagt Maxluba, sei aus Indien nach Mittelasien gekommen, war Händler und medizinischer Spezialist für Schafe und Kühe. Die These, die Zigeuner kämen aus Indien, wird von Maxluba durch ihren Opa belegt, tatsächlich jedoch ist es höchst unklar, ob dies denn die volle Wahrheit ist. Zigeunergruppen in Mittelasien kann man seit mehr als zweitausend Jahren dingfest machen. So geht zwar aus dem “Buch der Könige der Erde” Hamza Isfahonis (gest. 961) und dem “Buch der Könige” Firdousis (gest. 1020) hervor, Bahrom Ghur, ein sassanidischer Herrscher (428 — 438) habe Künstler und Musiker aus Indien nach Mittelasien übersiedeln lassen, unter ihnen sogenannte luri. Doch darf nicht vergessen werden, dass das “Buch der Könige” 500 Jahre nach diesem Ereignis geschrieben worden ist. So ist die Botschaft der beiden Dichter wohl eher, dass beide damals bereits der Existenz zigeunerischer Gruppen in Mittelasien ein Alter von 500 Jahren beimaßen. Was nichts anderes bedeuten soll als: Schon immer!

Eine Bezeichnung — tausende Gesichter

[inspic=295,,,0]Ist man heute zu Gast in einer der Städte Mittelasiens, wird man verschiedener Gruppen gewahr, die sich dem Bettlergewerbe widmen. Diese auf dem Basar, in belebten touristischen Orten oder an Busbahnhöfen bettelnden Gruppen sind jedoch nur der weithin sichtbare Teil eines ganzen Spektrums zigeunerischer Gruppen in Mittelasien, da sie durch Selbstinszenierung, bevorzugte Erwerbsorte und Bettelpraxis dem außenstehenden Beobachter zuerst ins Auge fallen. Tatsächlich jedoch kann man in Mittelasien von einem bunten Mosaik zigeunerischer Gruppen sprechen. Diese nennen sich entweder nach ihrem Berufszweig Sieb- und Tellermacher (tadsch. tovoqtaro¡, soghurtaro¡), Klein­händler (tadsch. mazang), ambulante Schmuckhändler (tadsch. mugat, dgi oder Bettler (tadsch. sadaqachor) oder nach ihrem vormaligen Herkunftsort bzw. tatsächlichen oder mythischen Stammesgebiet (Hindustoni, Multoni, Balui und arab.

Spricht man sie auf ihre Selbstbezeichnungen an, so wird man wahrscheinlich verschiedene Antworten zu hören bekommen. Einmal können sie für sich reklamieren, Tadschiken (tadsch. Todjik) zu sein, da sie mit den Tadschiken eine gemeinsame Sprache teilen. Dieses Tadschikische variieren sie jedoch leicht, wenn es die Situation erfordert, anderen unverständlich zu bleiben. Oft jedoch nennen sie sich cigan oder sagen ihre Berufs- oder Stammesbezeichnungen.

[inspic=294,,,0] Obwohl Zigeuner sich äußerlich wenig von der umliegenden Bevölkerung unterscheiden, gibt es doch verschiedene exklusive Merkmale. Sie sprechen die persisch-tadschikische Sprache bzw. ein Argot davon. Sie haben ein starkes Wir-Gefühl, mit dem sie sich von der umgebenden Bevölkerung abgrenzen. Außer­dem ziehen die meisten von ihnen es vor, gemeinsam zu siedeln und unter sich zu bleiben. Interethnische Heiraten werden von ihnen gemeinhin als Unfall oder Fehler betrachtet.

Zigeuner leben auf unterschiedlichste Weisen inmitten der städtischen Gemeinschaften. Manche von ihnen, z. B. die Tellermacher (tovoqtaro¡), wohnen in den Wohnvierteln (tadsch. mahalla) der Mehrheitsbevölkerung. Andere wiederum wohnen bewusst in in sich abgeschlossenen Höfen in separaten Vierteln der Städte. Ein Großteil lebt mit der Mehrheitsbevölkerung gemischt in den Neubauvierteln (russ. mikrorajon) oder anderen Orten, wo Wohneigentum erschwinglich ist. Es gibt aber auch ethnisch homogene Zigeunerdörfer bzw. Kolchosen, die ausschließlich von einer zigeunerischen Gruppe bewohnt werden. Die hier aufgefächerte Binnendifferenzierung ist das Ergebnis eines über die Jahr­hunderte vollzogenen sozialen Wandels.

In der vorkolonialen Zeit

Folgen wir den Beschreibungen russischer Ethnographen, so stellen sich die Lebensumstände der mittelasiatischen Zigeuner in der vorkolonialen Phase folgendermaßen dar: Zigeunerische Gruppen lebten seit Jahrhunderten in Mittelasien. Sie waren in autonomen Gruppen organisiert, blieben weitgehend unter sich und wurden von der lokalen Bevölkerung und ihren Machthabern toleriert. Sie siedelten in den Wintermonaten in festen Quartieren in Dörfern anderer Ethnien, in eigenen Dörfern oder am Rand der Städte.

Einige, die sich teils mit dem Handwerk beschäftigten, teils Selbstproduziertes in der näheren Gegend hausierend feilboten (tovoqtaro¡), waren früh in die Städte und deren Handwerkerviertel integriert. Andere waren wandernde Tauschhändler (mugat), die vor allem mit Krämereien und Schmuck ihre Geschäfte machten. Diese zogen eher zu entfernten städtischen Zentren und pflegten weit verzweigte Verwandtschaftsbeziehungen. Sie lebten vor allem vom Verkauf von Luxuswaren, Schmuck und Krämereien. Ihre Waren waren eher auf ein städtisches Publikum als auf ein ländliches zugeschnitten.

Es gab aber auch zigeunerische Gruppen (mazang), die ein ausgesprochen ländliches Leben führten, sich saisonal als Wanderarbeiter in der Landwirtschaft verdingten und dabei Handel mit heilenden und glücksbringenden Kräutern sowie aus Naturstoffen gefertigten Färbemitteln trieben. Außerdem gab es im wärmeren Süden (Surchandarja) auf Bettelei spezialisierte Gruppen (d­gi), die im Sommer in die größeren Städte gingen und im Winter in ihre ländlichen Regionen, wo sie vom Sammeln und dem über die Sommermonate Ersparten lebten.

Der exklusive Charakter zigeunerischer Gruppen rührte von den Tätigkeiten her, mit denen sie als Gruppe assoziiert wurden und die in den Augen der Mehrheitsbevölkerung tabuisiert waren. So waren die tovoqtaro¡ nicht nur Sieb- und Löffelmacher, sondern vor allem darauf spezialisiert, Tierhäute für ihr Gewerbe zu verarbeiten. Sie sind auch heute noch die Hauptlieferanten für die Bespannungen der doira oder narghora genannten Trommeln. Auch fertigten sie ihre Siebe und Küchengeräte aus Resten von Tieren, z. B. Gedärm. Bis heute handeln die mugat unter anderem mit Haar, das sie an Perückenmacher veräußern, ein von der Mehrheitsgesellschaft ebenso tabuisiertes Tauschobjekt. Die ländlichen Krämereienhändler handelten mit allerlei Wunderkräutern, Aphrodisiaka und Zaubermitteln, was ihnen den Nimbus des Unheimlichen verlieh. Doch ungeachtet solcher Spezialisierungen waren die Männer ländlicher Zigeunergruppen auch Wanderarbeiter, die sich als Erntehelfer und Viehtreiber verdingten oder als Veterinäre umherzogen. Das Spektrum der Tätigkeit innerhalb zigeunerischer Gruppen war groß. Allen Zigeunergruppen war gemeinsam, dass sie nicht mit Ausschließlichkeit spezialisiert waren.

Die Tätigkeiten der Zigeuner wurden trotz ihrer Verächtlichkeit von der Mehrheitsbevölkerung in Anspruch genommen, und so bildete sich bei zigeunerischen Gruppen eine Nischenökonomie heraus. Da sie aufgrund der Tabuisierung dieser Tätigkeiten nicht mit anderen Bevölkerungsgruppen konkurrierten, konnten sie ihren Gewerben einigermaßen ungestört nachgehen. Die schon erwähnten flexiblen Erwerbswege und die Unmöglichkeit, in nur einer Nische zu wirtschaften, manifestierte die Spezifik zigeunerischen Handelns: (a) von einer Nische zur anderen springen bzw. verschiedene Nischen besetzen zu können, und (b) die hohe Bereitschaft zur räumlichen Mobilität, da zigeunerische Nischenwirtschaft an nur einem Ort (im Gegensatz zum Geldwechsel) zu wenig einbrachte. Allein die städtischen Handwerkergruppen kannten eine Art von handwerklicher Spezialisierung, doch waren auch sie mobil, um ihre Ware feilzubieten.

Nun sollte aber nicht der Eindruck entstehen, die Zigeuner Mittelasiens hätten sich nur mit verachteten Tätigkeiten abgeben. Ihr geringes Ansehen kam daher, dass die Mehrheitsbevölkerung Zigeuner mit tabuisierten Tätigkeiten und Gegenständen assoziierte und sie dadurch von Konnubium und Tischgemeinschaft ausgeschlossen waren. Vor allem aber waren zigeunerische Gruppen Virtuosen im Auffinden ökonomischer Nischen. Anders als bei Pastoralnomaden waren zigeunerische Wanderungen nicht so sehr an die Jahreszeit geknüpft. Die Weiden mobiler Zigeunergruppen waren die menschlichen Siedlungen und Städte. So lag ihr hauptsächliches Betätigungsfeld nicht in der planenden Wirtschaft, sondern im Aufspüren und Organisieren ökonomischer Gelegenheiten.

Weiterhin ist allen Zigeunergruppen ein Bettlerideal gemein, das sie im traditionellen Bewusstsein bis heute zumindest als kulturellen Wert behalten haben. Während des Fastenmonats sollten die Männer, selbst die reichsten unter ihnen, wenigstens für einen Tag in fremder Umgebung betteln gehen, andernfalls schmä­he man das Andenken seiner Väter.

Als dritte Gemeinsamkeit kann gelten, daß alle Zigeunergruppen Mittelasiens die Selbstverwaltung einer Fremdverwaltung vorzogen. Sie kannten eigene Ämter, die von den Familienältesten in den Wohnvierteln ausgeübt wurden. Sie besaßen eine Bürgerwehr, die vor allem für Ruhe innerhalb der Wohnviertel sorgte, und hatten Ansprechpartner, die mit der Außenwelt Regelungen wie Bakschischzahlungen aushandelten oder polizeiliche Warnungen entgegennahmen. Wollte man es überspitzt formulieren, könnte man von vorstaatlichen Gefügen mit Präsidialamt und Institutionen für innere und äußere Angelegenheiten sprechen.

Das Projekt “Moderne”

soviet_union_admin_1989.jpgIn der sowjetischen Politik wurde die Sesshaftmachung der nomadischen Bevölkerung ähnlich wie zur Kolonialzeit als mission civilatrice gewertet. Schon in der Kolonialzeit wurde die Sesshaftigkeit der nomadischen Lebensweise vorgezogen. Mit vorsichtigen Mitteln der Kleinkreditvergabe für Landmaschinen und durch sogenannte Aufklärungsarbeit wurde versucht, die Nomaden zu einer anderen Lebensweise zu bewegen. Zur Zeit der sowjetischen Kollektivierung jedoch wurde die aufklärerische Einflussnahme von Zwang abgelöst. Über eine Million kasachischer und kirgisischer Nomaden fanden hierbei den Tod.

Auch für die nomadisierenden Zigeuner sollte die zivilisatorische Mission gelten, die Sesshaftigkeit mit Fortschritt gleichsetzte. Bei meinen Befragungen zur individuellen Vergangenheit von Zigeunern im Ferghanatal, Usbekistan kam ein historisches Ereignis zur Sprache, an das sie sich mit Stolz erinnern. Sie seien die ersten gewesen, die eine Kolchose gegründet hätten. Auch wenn im Abstand von 90 Jahren die Erinnerung daran durch geschönte Überlieferung überlagert zu sein scheint, ist diese Behauptung von einigem Interesse. Um zu verstehen, dass viele Zigeuner mit Freuden in die Kolchosen gingen, muß man sich die Zeitumstände vergegenwärtigen. Der Bürgerkrieg hatte weite Siedlungsgebiete Mittelasiens verwüstet. Das Nötigste konnte zwar bald wieder aufgebaut werden, doch der Krieg lastete noch immer auf den Menschen. Die ländlichen Reformen brachten kurzeitig eine psychologische Aufmunterung, doch der andauernde allgemeine Arbeitskräftemangel aufgrund des Bürgerkrieges und des brutalen Vorgehens der Bolschewiki auf dem Lande schaffte eine Nahrungsmittelknappheit, die auch den Aufschwung der Städte bremste. Mit dem Ende der Neuen Ökonomischen Politik und dem Beginn der Kollektivierung (1927) sowie der Fünfjahrespläne (ab 1928) kamen die Hungerkatastrophen der späten 1920er Jahre. Bauern schlachteten ihr Vieh, um nicht als Kulaken verbannt zu werden. Die saisonal wandernden Zigeunergruppen, deren Nischenökonomie in Tauschhandel bestand, fanden in den verarmten Bevölkerungsschichten kaum mehr zahlungsfähige Kunden. Das Auskommen der Zigeuner war geringer als vor dem Bürgerkrieg. Nun bot sich der Staat an, verarmten Bauern in den Kolchosen fortwährend Arbeit zu geben. Wurde die Masse der Bauern damit in die Verarmung getrieben, waren es gerade die Mittellosen, unter ihnen die Zigeuner, die vom Programm der Kollektivierung profitierten.

In den Kolchosen wurde den Landarbeitern auch ein kleines Stück Land zur privatwirtschaftlichen Nutzung überlassen. Die Nahrungsmittel, die sie hier anbauten, konnten auf eigens dafür organisierten Märkten verkauft werden. So entstand wieder eine privatrechtlich organisierte Basarwirtschaft.

Obwohl der Staat gänzlich auf Planwirtschaft ausgerichtet war, schuf er 1932 mit den Kolchosmärkten einen kleinstkapitalistischen Zweig, der nie wirklich zu kontrollieren war, da die Masse der lokalen Bevölkerung von diesem Netzwerk profitierte. So wurden z. B. Verkaufsmengen nicht dokumentiert und Umsatzdaten nur sehr oberflächlich erhoben. Zigeuner wurden in ganz unterschiedlichem Maß in die Kolchosen integriert. Die in Dörfern sesshaften gewordenen Zigeuner, solche mit eingeschränkter Mobilität und solche, die gewissermaßen gelegenheitsmobil waren (mazang, teils auch mugat), gingen schon früh, nämlich ab 1927, in die Kolchosen. Während bei den turkstämmigen Bauern versucht wurde, gleiche Stämme in unterschiedliche Kolchosen zu stecken und sie so mit anderen Stämmen zu mischen, konnten die Zigeuner geschlossen in die Kolchosen eingehen. Anscheinend befürchtete man bei Zigeunern keine Clanwirtschaft. Über die Motive für dieses Vorgehen ist bisher nichts bekannt. Das ohnehin stark ausgeprägte zigeunerische Gruppenbewusstsein wurde infolge dessen noch verstärkt. Aus den selbstgewählten Fürsprechern der Gruppe (kalon) wurden die Vorsitzenden der Kolchosen. Rechtliche Auseinandersetzungen innerhalb zigeunerischer Gruppen konnten auf der Grundlage der Kolchosverwaltung autonom weitergeführt werden.

Die überall in Uzbekistan auf privatwirtschaftlichen Nutzen ausgerichteten Aktivitäten der Kolchosbauern waren bei Zigeunerkolchosen um ein vielfaches ausgeprägter. Planwirtschaftlich waren die Kolchosen indessen kein großer Gewinn. Was der Planwirtschaft zum Nachteil gereichte, brachte den Zigeunern einen Vorteil. Die Kolchose garantierte ein Gehalt und den Zugang zu den Kolchosmärkten, auf denen mehr als nur Lebensmitteln bewegt wurden. Darüber hinaus wurden die Kolchosen zu einem neuen Knotenpunkt in der zigeunerischen Infrastruktur. Die Lastkraftwagenfahrer der Kolchosen wurden zu Mittlern im Verkehr und Austausch mit anderen Produktionsbetrieben. Sie verschoben Waren und waren Teil eines auf privaten Kontakten basierenden Netzwerkes.

Ab 1956 wurden auch die saisonal nomadisierenden Zigeunergruppen (dgi) “die meisten von ihnen auf Bettelnomadismus spezialisiert“ zur Sesshaftigkeit gezwungen. Ihre Organisierung in Kolchosen ging analog zur Kollektivierung der Zigeuner ab 1927 vonstatten. Man führte ausschließlich Angehörige derselben Gruppen in die Kolchosen ein. Die Wahl des Vorsitzenden geriet zur Wahl des Stammesoberhauptes. Indem die Tätigkeiten der Angehörigen durch die Kolchosleitung gedeckt wurden, war es möglich, die nomadische Lebensweise, an die Zeitumstände angepasst, weiterzuführen. Aus den Winterquartieren der Bettlernomaden wurden nun “institutionalisierte Herbergen”, welche nicht nur Mitgliedern der eigenen Kolchose, sondern auch Mitgliedern anderer zigeunerischer Gruppen offen standen.

Dass diese Netzwerke von Vorteil waren, zeigte sich etwa daran, dass die Zeit der Stagnation unter Breschnew zur “goldenen Ära der Zigeuner” wurde. Die für diese Zeit charakteristische Knappheit aller Güter eröffnete gerade den Zigeunern ein weites Feld von Handelsmöglichkeiten. Ihre Fähigkeit, auf die Güter der Kolchosproduktion zurückzugreifen, verhalf ihnen zu ansehnlichem Profit. Auch in der Zeit der Nahrungsmittelknappheit Anfang der 1990er Jahre konnten zigeunerische Gruppen durch Schwarzmarkthandel profitabel wirtschaften.

Ein entscheidender Schritt hin zur Ausrichtung zigeunerischer Mobilität war die hermetische Abriegelung der sowjetischen Außengrenzen. Ab Mitte der 1930er Jahre galten die afghanische Grenze und die Grenze nach China als unüberwindbar. Von nun an konnten die mittelasiatischen Zigeuner nur noch nach Norden ziehen. So veränderte die Grenzpolitik der Sowjetunion auch die Wanderrouten der Zigeuner.

In der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges(1941-45) waren ethnische Kategorien nicht mehr von Bedeutung. Aus Uzbeken, Tadschiken oder Kiptschaken wurden Soldaten. Die Frauen der zu Tadschiken gewordenen Zigeuner blieben allein zu Hause, die Männer gingen in den Krieg. Die vom ländlichen Raum Surchandarjas nach Norden ziehenden Bettelnomaden aber waren noch nicht personenstandsmäßig erfasst und besaßen keine Pässe. So kamen sie vielfach um den Kriegsdienst herum. Diese Lücke in der Verfügung über die Staatsbürger schloss die Regierung Sowjetuzbekistans in den 1950ern, als auch die Bettelnomaden einen Paß bekamen und sesshaft gemacht werden sollten. Diese ließen sich jedoch mehrheitlich die pejorative Bezeichnung Luli in den Paß eintragen. Dieser Schachzug ermöglichte ihnen auch in Zeiten äußerst eingeschränkter Mobilität das Umherziehen, da Grenzsoldaten und Polizisten, die der Bezeichnung Lu­li im Pass gewahr wurden, Gnade bzw. Vorurteil vor Recht ergehen ließen. So zogen die Mittellosen, da sie von den Grenzbeamten gegen ein Trinkgeld in die unterste Kategorie Mensch eingeordnet wurden, über Republikgrenzen hinweg. Die Armut der Zigeuner, von ihnen zum eigenen Vorteil inszeniert, nutzte auch den Grenzern.

Vom Überleben von Kultur

Betrachtet man die zum Teil sehr widersprüchlichen politischen und sozialen Prozesse in der Sowjetunion, kann nur durch die Analyse der Einflüsse auf den Ebenen des Individuums, des Kollektivs und der Ethnizität Ordnung in das Chaos sowjetischer Wirklichkeit gebracht werden. Auf der Ebene der Ethnizität bot sich dem Zigeuner seit der Etablierung der Nationalkategorien: Usbeke, Tadschike, Kirgise usw. die Möglichkeit, sich als Tadschike auszuweisen. Das bedeutete Aufstiegschancen. Die von der Wissenschaft angebotene Kategorie cigan ließ demgegenüber eine unbelastete Identifikation mit traditionellen Lebensstilen zu und wurde zum Marker ethnischer Differenz. Sie stärkte das Gruppenbewusstsein. War die Kategorie Tadschike der Marker für Integration, ermöglichte cigan ethnische Differenz zur Mehrheitsgesellschaft. Die Wahlmöglichkeiten vervielfältigten sich je nach Situation und Nutzen: Man konnte Tadschike, Zigeuner oder sogar Lu­li sein.

[inspic=302,,,0] Der Zwang, der in der Kollektivierungskampagne auf die Landarbeiterschaft ausgeübt wurde, führte zu einer Aufgabe traditioneller Erwerbsmöglichkeiten. Doch ließ die Kollektivierung auch sichere Erwerbsquellen im staatlichen Sektor entstehen, ohne dass die wirtschaftliche Eigenständigkeit verloren ging. Kollektive waren die neue Infrastruktur im lokalen Netzwerk zigeunerischer Gruppen. Die Verweigerung von gesonderten Nationalitätenrechten und einem Minderheitenstatus für Zigeuner, Juden, Armenier oder Koreaner unterstrich die seit Jahrhunderten fortwährende Ignoranz zigeunerischer Lebensarten. Auf der anderen Seite schuf diese Ignoranz überhaupt erst den Boden zigeunerischer Mobilität. All diese Widersprüche und Wirklichkeitsfiktionen sind schließlich nur Folgen einer dialektischen Anpassung an den sozialen Wandel. Dieser schuf neue Lebensräume und Identitäten, aber auch einen neuen Umgang mit Traditionen und ökonomischen Strategien.

Das Modernisierungsprojekt der Sowjetkommunisten veränderte die räumliche und soziale Bewegungsfreiheit der großen Kollektive nachhaltig. War früher der koloniale Amtsträger Ziel von Verwaltung, versuchte die moderne Verwaltung nun auch den gewöhnlichen Staatsbürger zu erfassen. So sehr auch die moderne Kontrolle sich im alltäglichen Leben in Form von politischem Terror breit machte, musste der Traum von der totalen Kontrolle doch unwirklich bleiben, weil er auf der Ebene des Individuums und der kleinen Kollektive, etwa des Familienverbandes, stets Handlungsräume ließ. Auch unter Uzbeken und Tadschiken gab es Einzelne, die sich durch virtuosen und kreativen Umgang mit der Macht Handlungsräume schufen. Darin liegt keine zigeunerische Eigenart. Doch gerade die Sozialisierung von Zigeunern im Zwischenraum prädestinierte sie für die Nutzung der Handlungsspielräume, die sich in jeder noch so totalitären Regierungsform finden. Mobile Lebensweisen wurden zwar durch Kollektivierung und Zwangsansiedlung illegalisiert, dadurch aber vielfach der Aufmerksamkeit der staatlichen Verwaltung entzogen. Was auf der Ebene der Kollektive nicht mehr möglich war, konnte im individuellen Arrangement gelebt werden. Genau auf dieser Ebene haben zigeunerische Lebensweisen überlebt und wurden in der Zeit der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Staaten ab 1991 von größeren Teilen der zigeunerischen Gemeinschaften wieder aktiviert.

(Olim devona ist Mitbegründer des Forums für Tsiganologische Forschung in Leipzig (FTF). Spricht man ihn auf seine Selbstbezeichnung an, ist er entweder Tsiganologe, Mittelasienwissenschaftler oder Ethnologe, abgestimmt auf den Fragenden.)

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