Im Land der Amazonen III

(Folge drei der Übersetzung von Ingeborg Baldauf mit keiner Einleitung von Olim devona)

Die zweite Folge hat uns in die europäischen und islamischen kulturellen Vorstellungen von der Rolle der Frau wie in ein Spiegelkabinett des 19. Jahrhunderts geführt, und dabei erstaunlicherweise die Frage, die auch die heutige deutsche Gesellschaft plagt, unbeantwortet gelassen: Ist wirkliche Gleichberechtigung möglich, ohne dass ein Partner in der Beziehung sich unterordnet? Diese Gedanken plagten also die Aufklärer vor etwa 120 Jahren genauso wie uns heute.

Da aber Gaspirali Gasprinskij nicht nur ein Intellektueller, sondern auf seine Art auch Ideenhändler war, wußte er, dass sich gute Geschichten nur verkaufen lassen, wenn dazu eine gehörige Portion “Sex, Crime ‘n Thrill” kommt. Und was sollte man dazu noch sagen außer ….

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In meinem letzten Brief hatte ich geschrieben, dass der “Kulturwesirin”, einem alten, buckligen Weib, so gar nicht passte, was wir über die Großartigkeit der Männer sagten und darüber, dass sie die Frauen regieren und ihnen überlegen sein sollten, und dass sie uns nicht erlauben wollte darzulegen, was in den Ländern des Islam und in Europa los ist. Nicht nur wollte sie uns den Mund verbieten in dem Wunsch, es möge in ihrem Land zu keinem Aufruhr Anlass geben, – nein, sie versuchte auch uns verständlich zu machen, dass unsere Lebensweise und unser Tun falsch und sittenlos sei.

Sie hatte nicht die geringsten Zweifel daran, dass ihre Ansichten und Überzeugungen richtig seien, und führte uns die verschiedensten wissenschaftlichen und logischen Argumente dafür vor, dass die Frauen herrschen und die Männer beherrscht und unterjocht werden müssten.

Nach den Worten dieses unseligen alten Weibes klang es gerade so, als seien die Männer
als Püppchen und Spielzeug und zum Gebrauch für die Frauen erschaffen worden. Die Frauen seien stärker als die Männer und könnten Müh und Plage ertragen; dass sie langes Haar hatten, sei ein Indiz für ihre Vollkommenheit und ihre Stärke. Sie seien es ja, die die Kinder zur Welt brächten, und die Milch komme von ihnen. Die zarten und schwachen Männer seien so erschaffen, dass ihnen all diese Kräfte vorenthalten wären. Ihnen wachsen Schnauzer und Vollbärte im Gesicht, auf das sie den Frauen, ihren Herrinnen, gefielen und von ihnen geliebt würden. Dass die Gesichter der Frauen blank und haarlos seien, wäre dagegen ein Indiz dafür, dass ihre Stärke in Armen und Beinen liege und sie nicht darauf angewiesen wären, hübsch und gefällig zu sein. In der Tierwelt sei es genauso: Die Weibchen sind schmucklos, die Männchen haben allerlei Zierde, wie etwa Löwen, Hähne, Papageien und so weiter. Alles in allem sei das Männliche durch Schönheit, die Weiblichkeit und das Frauliche dagegen durch Kraft ausgezeichnet. “In euren Ländern aber haben sich Gebräuche eingebürgert, die der Natur und der Schöpfung zuwiderlaufen. Die Frauen sind an die Stelle der Männer, die Männer an die Stelle der Frauen getreten. Welch großer Fehltritt, welch schwere Sünde! Soweit man mitbekommt, gibt es in euren Ländern weder Sitte noch Scham! Was soll das – diese zarten und feinkörperigen Männer laufen umher und entblößen ihre Schnauzer und Bärte aller Welt. Jede Frau kann diese bloßen Gesichter begaffen, wobei doch diese Schnauzer, diese seidenfeinen und linden Vollbärte allein der einen Frau vorbehalten sind, die nach Recht und Gesetz die Herrin dieses Mannes ist! Nur die Frau, der der Mann gehört, darf sich daran vergnügen und ergötzen.

Oh, ihr Heiligen, ihr Geister und Dämonen – wie könnt ihr soviel Sittenlosigkeit hinnehmen! Wie kommt es, dass ihr nicht die Welt in Flammen setzt und die Orkane loslasst! Unser dunkles Land scheint das einzige zu sein, in dem noch Zucht und Ordnung herrschen. Nur in unserem Land haben die Frauen den Platz und Rang gefunden, der ihnen gebührt!…”

Als ich diese Worte, die die alte Wesirin mit Zuversicht und vollendeter Überzeugung daherredete, meinen Freunden, den Franzosen, übersetzt hatte, konnten sie ein schallendes Gelächter kaum unterdrücken; angesichts unserer Lage aber, in der es auch bei den lächerlichsten Dingen nicht angebracht war zu lachen, sagten sie kein Wort. Lediglich Monsieur Martin, der so sorglos war, dass er die ganze Welt für einen einzigen Scherz hielt, konnte es auch diesmal nicht lassen und sagte:
“Die Lektion und der Zuspruch, den wir heute bekommen haben, sind nicht übel. Nur, Mulla Abbas Efendi, würden Eure Taschkenter Freunde, wenn sie hörten, was die Alte über die Schnauzer und die Seidenbärte gesagt hat, wohl Augen so groß wie Teetassen oder gar wie Suppenschalen machen? Diese ihre geheiligten Bärte, ihre Löwenschnauzbärte haben die Unseligen hier zu einem Lustobjekt gemacht, und auch sonst ist ihnen nichts heilig. Das muss es wohl sein, warum man sagt, jede Sitte hat ihren Platz, und jeder Ort hat seine Sitten!”

Die Kultuswesirin wollte wissen, welchen Eindruck ihre Belehrungen gemacht hatten,
und fragte, was Monsieur Martin, besser gesagt “dieser hübsche junge Mann”, gesagt hätte.
“Gnädige Frau,” antwortete ich, “er staunt nur so über Eure Gedanken und Eure Beweisführung und sagt, dass eine gelehrte Frau in Paris, eine gewisse Olympia Odoir, zwar in ihren Gedanken und Überlegungen nicht so weit geht wie Ihr, dass sie aber immerhin den Anspruch vertritt, Männer und Frauen seien gleich und gleichberechtigt, und es ginge gegen Natur und Humanität, wenn sie sich zum Herrscher oder zur Herrscherin über einander machten.”

“Sag das nicht, sag das bloß nicht, das wäre noch schlechter! Wenn keines von ihnen herrschte und Mann und Frau gleich wären, würde jede Grundlage für ein geregeltes Leben zerschlagen. Von Sitte und Gesellschaft blieben nicht Ruf noch Ruhm. Die Menschheit würde zugrunde gehen. Es wäre, wenn schon die Frauen nicht herrschen, besser, die Männer würden herrschen, als dass da Gleichheit wäre. Sie würden eben so recht und schlecht den Führer spielen — besser als gar keine Führung. So unrecht, so sittenwidrig und arbiträr es auch wäre, wenn die Männer regierten und den Frauen übergeordnet wären, so würde doch Gleichheit noch größeres Unheil nach sich ziehen.”

Nach derlei Gerede riet uns die Wesirin zu, ihre Worte und Belehrungen gut zu durchdenken und zu begreifen. Sie befand, wir sollten von unseren üblen Gebräuchen und sündigen Anschauungen ablassen und wollte eben in ihr Zimmer zurückgehen, als Monsieur Martin sich wieder nicht halten konnte und mit den Worten “Oh du alte Teufelin und Teufelspriesterin, das wirst du uns nicht so leicht andrehen können!” einen grazilen Knicks vollführte wie ein französisches Fräulein.

“Was sagt er? wollte sie wissen, und ich übersetzte: “Mit tausend Freuden, Madame, herzlich gern.”

****

Wir begaben uns in unser Zimmer zurück und sprachen untereinander über diese
merkwürdigen Zustände. Monsieur Martin fing an: “Freunde, soviel ich verstehe, haben wir so verschämt wie eine Jungfrau, so unterwürfig wie eine muslimische Frau und so geschmückt und geschminkt wie eine französische Dame zu sein. Wir werden Nähen und Sticken lernen müssen, da dies in diesem Land das Maß für Anstand und Ergebenheit eines Mannes ist. Da sind wir ja in ein schönes Land geraten! Wenn das nur gut ausgeht. Aber habt keine Bange. Wir wollen eine Lehre aus dem ziehen, wie es uns hier ergeht. Jetzt, da wir einiges von dem, was sie ertragen müssen, am eigenen Leib erfahren, können wir verstehen, wie es den Frauen und Mädchen bei uns ergeht, was sie empfinden. Das ist ein Stück Wissen, das man weder an der Medrese von Taschkent noch an der Universität von Paris vermittelt. Es hat sich gezeigt, dass wir in dem Palast der schwarzen Königin, auch wenn er aus Holz und Schilf gebaut ist, so manche Lektion zu lernen haben.
Ehe Marin noch mit seinen halb scherzhaften, halb ernsten Worten fertig war, trat eine
Frau, eine “Palastbeamtin”, in unser Zimmer und sagte zu mir: “Ihre gerechte, gnädige, liebevolle Majestät die Königin möchte sich heute abend die Zeit mit Monsieur Martin vertreiben. Darum möge der werte Monsieur sich ins Hamam begeben, ein Bad nehmen, duftende und wohlriechende Öle auftragen, die bereitgelegten Seidenkleider anlegen und sich zu ihrer Majestät der Königin bemühen.”

****

Als ich meinen Freunden den Befehl, den die Palastbeamtin überbracht hatte, übersetzte, waren sie so betroffen, als habe sich die Erde aufgetan und sie wären darin versunken. Dem guten Monsieur Martin gingen die Augen auf wie Teetassen, und er wurde käsebleich. Monsiour Marc, der Ballistiker, sagte: “Brüder, der Königin Begehr hat sich als noch schwerwiegender erwiesen als das Ansinnen der Kulturwesirin.” Dann wandte er sich an Martin: “Was sagst du zu diesem Ehrerweis und dieser Gunstbezeugung durch die Königin, mein Lieber?” Martin sammelte sich ein wenig und sagte dann: “Was soll ich schon sagen. Freunde! Es sieht so aus, als sollte ich heute Abend der Herr und Meister über dieses Land werden. Aber ich wäre bereit, dieses Sultanssiegel jedermann zu überlassen, der es begehrt!”
“Hoppla! Wie fein, wenn du Herr oder Meister würdest, aber du wirst etwas vom Rang einer Odaliske, einer Lustsklavin sein, man findet gar keine Worte um das zu erklären, was du sein wirst. In diesem Land ist doch alles kopfunter und mit den Beinen nach oben”, sagte Marc.
“Fertig, Kameraden! Wir sind bedient. Was soll das wohl heißen, dass die schwarze Teufelin gerade mich als ersten rufen lässt?” “Heiße es was es wolle, darauf kommt es nicht an. Wo ist der Unterschied, ob sie dich oder mich rufen lässt? Aber was ist jetzt zu tun, damit wir uns solch sittenloser Anträge erwehren können? Das ist es, was wir überlegen müssen,” sagte Jean, der Arzt. “Jawohl, sehr wohl, Brüder, denken wir uns sofort ein Mittel zur Abhilfe aus! Wenn mir dieses schwarze Weib mit Gewalt an die Ehre rücken sollte, werde ich es nicht erdulden, sondern ihr den Schädel zermalmen!”
“Ich kann keinen Ausweg aus dieser schwierigen Lage sehen. Entweder lassen wir uns als
Lustsklavin behandeln und Ruf und Mannesehre verderben, oder wir müssen zur Waffe und zur Selbstverteidigung greifen und das tun, was wir unserer Männlichkeit und Jünglingsehre
schuldig sind!” – Als ich sah, wie Marc in Zorn geriet und dass die Franzosen in so einer Lage
nicht Tod noch Teufel scheuen würden, ging mir auf, dass die Sache noch einmal so übel
geworden war. Es war sonnenklar, dass wir verloren waren, wenn es zum Streit um die Ehre
kommen und Blut fließen sollte. Darum schlug ich vor, ob es nicht günstiger wäre, erst einmal
zu versuchen, das Unheil mit List und Klugheit abzuwenden, und erst dann, wenn das nichts
nützen sollte, mit Gottes Hilfe nach dem Schwert zu greifen.
“Sehr schön, äußerst günstig, aber, verehrter Mulla Abbas, was sollen wir tun, was für eine List gebrauchen?” wandte Jean ein.
“Ich meine, wir sollten daraufhinweisen, dass wir nach dieser mühevollen Reise sehr erschöpft sind und die Sprache nicht können, und darum bitten, für einige Zeit von diesen Anträgen dispensiert zu werden… Vielleicht bleiben wir fünf, zehn Tage verschont…
Die Franzosen befanden meine Idee für richtig und passend. So machte ich mich zur
Königin auf, um die Sache darzulegen; um ihrem Befehl Folge zu leisten und sie nicht zu
erzürnen, schickten wir auch Monsieur Martin ins Hamam. Er fluchte vor sich hin, als er ging – allein was half es! Und ich begab mich in die inneren Gemächer. Ich trat in das Schlafzimmer der Königin. (Gott sei Dank war das Hofzeremoniell recht simpel; man brauchte nicht lang zu antichambrieren.) Ihre Majestät ruhte auf lagenweise aufgestapelten groben Matratzen. “Warum bist du gekommen?”, fragte sie. Ich fing an: “Ich
komme, um für die Ehre und Zuneigung zu danken, die Ihr uns erweist. Aber, Frau Königin, ich komme mit der Besorgnis, dass wir, da wir die Sprache nicht können, Euer Herz, und, da wir von der Reise erschöpft sind, Euch selbst nicht werden zufrieden stellen können. Eurem Wunsch gemäß hat man Monsieur Martin ins Hamam gesandt. Aber wenn Ihr uns fünf oder zehn Tage aus Eurem Herzen streichen wolltet, wäre es noch schöner. Als ich das sagte, erhob sich die schwarze Teufelin von ihrem Lager, lachte und sagte: “Aber du verstehst unsere Sprache perfekt… und dein Bart ist so hübsch, dass er alle Unzukömmlichkeiten verdeckt, die du haben magst.”
Bei dem Gedanken, dass sie jetzt wohl mich an Martins statt nehmen würde, stockte mir das Blut in den Adern. Mein Gesicht musste schneeweiß geworden sein. Der Königin gefiel das, wie es mir erging, und sie sprang auf, kam herbei, umschlang mich und fing an, meinen Bart zu streicheln und zu kosen! Ich schämte mich so vor mir selbst, dass ich gar nicht wusste, wie mir geschah! Oh du mein düsteres Schicksal! Was für eine Lage! Mein Bart, den ich seit so vielen Jahren wie meinen Augapfel gehegt und in Ehren getragen hatte, sollte ein Lustobjekt sein sie ein weißer Hals und rote Wangen?! Oh Gott! Komm mir zu Hilfe!
Ich riss mich los und floh aus ihrer Umarmung wie einer, den eine Natter gebissen hat.
Die Königin lachte darob und war verwundert; in strengem Befehlston sagte sie:
“Was ich befehle, gilt. Da ist nichts zu ändern. Geh und sag das deinen Gefährten… Der
Gespiele Martin soll herkommen… Ich brauche seine Sprache nicht, ich werde mit ihm nicht
über Angelegenheiten von Staat und Religion diskutieren. Wir werden uns schon mit den Augen verständigen.”
Wie ein verjagter Gesandter kehrte ich aufgelöst zu meinen Freunden zurück. Gott sei’s
gedankt – für dieses eine Mal war mein Bart dem Zugriff der alten Teufelin noch heil entkommen.

****
Als ich meinen Gefährten berichtete, dass meine Sendung nichts gefruchtet und was die
Königin getan und gesprochen hatte, waren sie sehr bedrückt. “Das heißt, Martin muss heute abend unbedingt zur Königin gehen”, fragte Jean.
“Ja,” sagte ich, “sie lauert schon wie ein hungriger Wolf.”
“Was für eine schwierige Lage! Wie schwer ist es, der Gefangene einer Frau zu sein, die du
nicht sehen willst, und sie wohl oder übel unterhalten und lieben zu müssen!… Aber was hilft
es? Wenn man sich widersetzt und Widerstand leistet und es zu Zorn und Heftigkeit kommen
lässt, könnte das vielleicht schwere Strafen nach sich ziehen. Seht, meine Freunde, wenn ich mir unsere Lage besehe, verstehe ich so richtig, wie in unseren Ländern hunderte Frauen und
Mädchen in genau der gleichen Lage sind, einem Mann in die Hände zu fallen, den sie nicht
mögen und nicht lieben, ohne dass ihnen Geheiß gegeben würde, ohne freien Willen, ohne
Ausweg. Wie vielen Frauen und Mädchen wird nicht genau die gleiche Gewalt angetan, mit der uns die Königin kein Gehör geschenkt hat und nur sagte: ‘Er soll kommen, ich will es!’ Niemand überlegt ‘Vielleicht will sie nicht, vielleicht liebt sie ihn nicht’; sie soll kommen, und basta! – Ja, in der Tat, wir sind Gefangene — hat ein Gefangener etwas zu wollen, hat er Rechte, hat er Wünsche zu haben? … Er ist ein Ding so wie ein Vieh…”, sinnierte Monsieur Marc. Da erstand vor meinen Augen meine Heimat Turkestan, und ich erinnerte mich, welche Gewalt so manche dummen Männer den Frauen antun und wie unangemessen sie sie behandeln. Seine Worte trafen mich zutiefst, und ich sagte:
“Mein Freund, Euer Zorn ist nicht ganz berechtigt. In Europa erweist man den Frauen ziemlich viel Achtung; ihre Lage hat keinerlei Ähnlichkeit mit der schwierigen Lage, in der wir heute sind. Aber die Frauen im Islam: Gemäß der Tradition des Propheten Muhammad sind sie beschützt, so dass sie vor Gewalt und Zwang sicher sind. Sie heiraten den Mann, den sie wollen, und niemand kann sie mit Gewalt nehmen. Und auch nach der Hochzeit ist es Pflicht, darauf Rücksicht zu nehmen, ob sie Lust und Laune haben und wie es mit ihnen steht. Kein Gatte tut seiner Frau Gewalt an und dürfte es auch gar nicht. Er strebt danach, in Eintracht und Liebe zu leben … Und wenn ein paar Dumme oder Charakterlose dazwischenkommmen, die die Frau, ihre Freundin, nicht zu schützen wissen, die nichts von der Lust des Tändelns und Charmantseins verstehen und keine andere Behandlung wissen als Brüllen und Schreien, so zählen die nicht wirklich … Jede Sklavin hat es besser als wir.” Jean, der Arzt, der uns zugehört hatte, sagte:
“Wenn das so ist, dann wollen wir von unserer eigenen Situation reden und uns um einen
Ausweg kümmern. Über die französischen und türkischen Frauen können wir auch später noch reden. Martin wird gleich aus dem Bad kommen. Er muss zur Königin gehen; er wird sich in die Rolle einer Sklavin versetzen müssen … So viel kann Martin nicht ertragen. Er wird einen schrecklichen Zwischenfall herbeiführen, Blut wird fließen, und vielleicht werden wir alle heute Nacht umgebracht…”

Während wir noch unter dem Eindruck von Jeans Worten am überlegen waren, kam
Martin. So schwierig unsere Lage auch sein mochte – als wir seinen Aufzug betrachteten,
konnten wir nicht anders als lachen… Wir lachten; wie hätten wir auch ernst bleiben sollen: Den Kopf hatten sie ihm mit einem roten Schal umwunden, und sie hatten ihm ein weißes Seidenhemd angezogen, das ihm bis an die Knöchel reichte, und darüber einen grünen geblümten Kaftan mit gelber Schärpe … “Haha, Bruder, in dieser Aufmachung würde nicht nur die schwarze Königin, sondern auch so manche Frau in unserem Land ein Auge auf dich werfen… Du bist wirklich ein hübscher Bursche!” sagte Jean, aber Martin achtete nicht auf seine Worte, sondern sah mich an, als erhoffte er Rettung von mir. “Ich kann dir nichts nützen, lieber Bruder! Meine Sendung hat nichts erbracht. Sie hat nur ihren Befehl ‘Er soll kommen’ wiederholt”, sagte ich. “Ach, wie schön, wenn das so ist! Da hat der Unseligen wohl das letzte Stündlein geschlagen!” sprach Martin voll Ingrimm, nahm den Dolch, der an der Wand hing, und steckte ihn unter sein Hemd. “Halt ein, Bruder, nicht so eilig! Die Schwertangelegenheit erledigen wir gemeinsam. Für einstweilen wenden wir eine List an”, sagte der Arzt Jean und fasste Martin am Arm. “Was für eine List?” fragten wir wie aus einem Mund. Jean erklärte es uns. Wir berieten uns, und derweil kam auch schon die Palastbeamtin, machte Martin ein Zeichen ‘komm!’ und führte ihn zur Königin ab.
Es war die Zeit des Sonnenunterganges. Nach dem Brauch dieses Landes würden eine
Stunde später alle Leute schlafen gehen, denn sie kannten keine Lichter und Lampen und
standen mit der Sonne auf und gingen mit ihr zu Bett. Die Palastbeamtin überantwortete unseren Kameraden der Königin, ließ die Vorhänge, die anstelle einer Tür da waren, herunter und zog sich zurück. Alle Dienerinnen und Hofdamen gingen in ihre Zimmer im unteren Stockwerk. Heroben blieben nur wir und, Martin in ihrem Gemach, die Königin.

****

Als Monsieur Martin in das Schlafgemach der Königin eintrat, war sein Gesicht kreideweiß, und er stand da und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Die Königin lachte und
winkte ihn an ihre Seite. Sie ließ ihn auf dem Sofa Platz nehmen. Sie musterte sein Gesicht eine Weile. Dann strich sie ihm übers Haar, kniff ihn in die Wangen, umarmte ihn und gab ihm einen Kuss. Der arme Franzose war völlig verwirrt. Dann riss er sich zusammen und bedeutete ihr, dass er gerne etwas zu essen und zu trinken gehabt hätte. Die Königin fasste dies als Gunstbezeigung auf; zufrieden erhob sie sich und holte aus einem Seitengemach einen Krug mit einem aus sahniger Milch hergestellten alkoholischen Getränk. Sie brachte zwei Becher, füllte einen für Martin und einen für sich selbst und stellte sie auf den Tisch. Sie blickten einander an, sagten mit den Augen etwas von der Art “zum Wohle” und tranken. So tranken sie ein, zwei Becher Milchlikör aus. Das Getränk war zwar süß, aber es war stark und hinterließ seine Wirkung bei der Frau und auch bei dem jungen Mann.
Die Königin war sehr fröhlich. Sie küsste Martin einige Male aufs Gesicht und ging dann
in ein anderes Zimmer. Da holte Martin ein Fläschchen aus der Tasche und schüttete etwa einen Teelöffel voll von einer Droge in den Becher der Königin. Als die Königin wieder hereinkam, stand Martin auf und umfing die Frau. Auch das war eine List, um Zuneigung vorzuspiegeln. Vor Begeisterung ging der Königin der Mund eine Spanne weit auf, und ihre Augen leuchteten wie Kerzen. “Iss!” sagte sie und setzte Martin einen ganzen Korb mit Süssigkeiten und Früchten vor. Dann nahm die schwarze Frau den Franzosen auf ihre Knie, küsste ihm das Gesicht und begann mit seinem Schnurrbart zu spielen. Obwohl ihn solches Getändel hart ankam, harrte der Franzose geduldig aus. Nachdem sie noch jeder einen Becher Milchlikör gekippt hatten, war die Königin recht betrunken. Sie schlang sich wie eine Natter um Martin, und nachdem sie ausgiebig herumgeschaukelt war, schlief sie ein und begann wie ein Stier zu schnarchen. Mit viel Mühe hob er die Königin auf und legte sie auf ihr Bett.

Sie haben gewiss durchschaut, dass der Franzose der Königin ein Schlafmittel eingegeben
hatte. Solchermaßen von den Annäherungsversuchen und der Zudringlichkeit der Frau errettet, war Monsieur Martin einigermaßen erleichtert. Es war schon nach neun Uhr abends. Dank dem Mondlicht konnte man im Zimmer recht gut sehen. Martin nutzte die Gelegenheit, dass nunmehr alles Volk im Schlafe lag und niemand sonst in den Gemächern der Königin war. Hübsch allmählich und sachte stahl er sich von Zimmer zu Zimmer und erkundete alles rundum. Am äußersten Ende des Palasts sah er, dass es da eine Tür und eine Treppe gab, die vom Zimmer in den Hof hinunter führte, aber am unteren Ende der Treppe war eine Wächterin, und diese Wachperson hatte ihr Haupt an die Treppe gelehnt und schlief. Man konnte sehen, dass in diesem Teil des Hofs keine Gebäude und Menschen waren und es hier sehr einsam und ruhig war. Nachdem Martin all dies gesehen hatte, ging er zur Königin zurück. Er sah, dass sie sich wie ein Vieh ausgestreckt hatte und grollend schnarchte. Er lachte. Dann legte er sich mitten im Zimmer hin, fröhlich, dass er diesen Abend so leicht seine Ehre hatte bewahren können, und schlief ein.

Am Morgen, als die Sonne aufging, drang von draußen der Klang von Trommeln und
Oboen herein und riss Martin aus dem Schlaf, aber als er mit halbgeschlossenen Augen sah, dass die Königin noch nicht aufgewacht war, öffnete auch der Franzose die Augen nicht ganz. Ein wenig später ertönte ein Lärm, als sammelten sich im Schlosshof berittene Soldaten. Die Trommeln und andere Instrumente spielten jetzt genau unterhalb des Fensters, und davon erwachte schließlich auch die Königin und machte ihre Augen auf. Sie erblickte Martin in ihrem Zimmer, ihren Geliebten. Dann fiel ihr Blick auf die Becher, und als sie sich erinnerte, was am Abend zuvor geschehen war, kniff sie Martin noch einmal in die Wangen … Danach eilte sie zur Tür hinaus.

Im Hof waren an die hundert berittene Soldatenmädchen versammelt, jede von ihnen
mit Pfeil und Bogen ausgerüstet und mit einem Schwert umgürtet. Als die Königin hinunter
kam, trieben sie ihre Pferde an und sprengten aus dem Schlosshof hinaus. Martin wunderte
sich über diese Aktivitäten und verstand nicht, warum das alles geschah. So ging er zu seinen
Freunden hinüber.

****

Es stellte sich heraus, dass das langhaarige Heer, das sich im Schlosshof versammelt hatte,
auf Feldzug und Raub ausging. Kaum war die Kunde gekommen, dass in der Gegend eine
Karawane vorbeiziehen sollte, hatte die Königin einen Schlachtplan entworfen und zog mit
ihrem Heer gemeinsam in die Wüste hinaus. Das gottlose Heer umfasste insgesamt an die
tausend Kriegerinnen. Darüber hinaus hatte die Königin noch eine Leibgarde aus den stärksten und schönsten Mädchen. Deren Pferde, Speere und Schwerter waren schöner geschmückt und verziert als die anderen. Als wir erfahren hatten, dass die Königin ins Feld zog, berieten wir, ob es in der Zwischenzeit möglich sein würde zu entwischen und zu fliehen. So sehr auch eine Flucht hinaus in die Sandwüste bedeuten mochte, den sicheren Tod zu suchen, war es doch noch schwerer als der Tod, bei diesen Mädchen Gefangener und Sklave zu sein. Im Palast und in der Umgegend war niemand mehr außer einigen Wächterinnen und Frauen. Darum befanden wir es für richtig, die Wächterinnen mit Opium in tiefen Schlaf zu versetzen, dann die allernotwendigsten Waffen und Ausrüstungsgegenstände auf ein paar Kamele zu laden und zu fliehen, sobald der Abend hereinbrach. Unsere Kamele und alles andere waren ja noch da. Gezwungenermaßen gaben wir den Plan auf, in den Sudan zum Mahdi zu gelangen. Wir hatten vor, uns der Karawane anzuschließen, die da kommen sollte, und mit ihr mitzugehen, wo immer sie auch hinziehen mochte. Da die Königin ausgezogen war, die besagte Karawane zu überfallen und niederzumachen, mussten wir zusehen, die Karawane schon früher abzupassen und sie über ihre Lage zu warnen. Soviel wir von den Frauen und Mädchen, die recht geneigt waren zu plaudern, erfahren konnten, hatte die Königin sich Richtung Sonnenuntergang, also westlich des Landes, auf die Lauer gelegt und plante, die ahnungslos näher kommende Karawane dort zu überfallen. Daraus, was wir darüber erfahren konnte, von woher das Kommen der Karawane erwartet wurde, erschlossen wir, in welcher Richtung wir gehen mussten, damit wir der Karawane möglicherweise begegnen würden. So überlegten und diskutierten wir. Dann luden wir die Frauen und Mädchen ein, die nicht übel Lust hatten, sich mit uns zu einem Gelage zusammenzusetzen, und wie die Dienstboten in einem Haus, wenn die Herrin ausgegangen ist, nützten wir die günstige Gelegenheit und veranstalteten ein Fest. Sie kamen alle. Wir versperrten die Palisadentore und verbrachten den ganzen Tag schmausend, trinkend und spaßend. Als der Abend nahte, braute der Arzt einen Opiumtrank, und die Ahnungslosen tranken ihn ohne Ausnahme. So verfielen unsere schwer berauschten Wächterinnen eine nach der anderen in einen tiefen Schlaf und blieben hier und dort in den Zimmern des Palastes hingestreckt liegen. Sofort knöpften wir die Lastsäcke mit unseren Sachen auf, schnürten zehn kleine Lasten mit dem allernotwendigsten, nahmen so viele Waffen und Geräte an uns wie möglich und machten uns zur Flucht bereit. Als die Sonne untergegangen war und die Dunkelheit der Nacht hereinbrach, griffen wir uns im Pferde- und Kamelstall sieben Kamele, beluden sie, sattelten für jeden von uns eins von den besten Pferden, saßen auf, empfahlen unsere Seelen Gott und machten uns auf den Weg. Wir schonten unsere Tiere nicht und marschierten bis zum Morgen in scharfem Tempo auf geradestem Wege in die Richtung, aus der die Karawane kommen musste. Während die Königin sich gen Westen auf die Lauer gelegt hatte, hielten wir gegen Süden, denn von dort her wurde die Karawane erwartet. Nach unseren Schätzungen mussten wir der Karawane gegen Abend begegnen, denn in der Nacht sollte sie westlich des Landes der Frauen eintreffen und von den Feinden die dort im Hinterhalt lagen, überfallen werden. Wenn wir ihnen den Weg abschneiden und bis zum Abend auf die Karawane treffen sollten, wären wir in Sicherheit. Sollten wir anderseits die Karawane verfehlen, so war klar, dass wir in der wasserlosen Wüste verkommen würden — aber uns zeigte sich die Aussicht umzukommen immer noch besser als die Sklaverei.

Wir übertrugen es dem Arzt, die Kamele zu führen. Martin, der Kanonier und meine
Wenigkeit zogen, einer vor dem anderen, voraus und kundschafteten, so weit das Auge reichte, die Wüste aus und spähten nach der Karawane. Mit roten Tüchern, die wir an die Spitzen unserer Bajonette gebunden hatten, gaben wir einander Zeichen und verständigten uns untereinander. Wie eilig wir auch marschierten und wie sehr wir auch nach allen Seiten spähten, war doch gleichwohl kein lebendiges Wesen zu sehen. Man sah nichts ausser Sand und Steinen, Steinen und Sand. Nicht einmal ein Vogel war da in der Wüste; die einzigen Geschöpfe, die uns unterkamen, waren riesige Schlangen, die sich eilig davonringelten, sowie sie uns erblickten. Einen halben Tag zogen wir so ohne Pause. Zu Mittag, als die Hitze am grössten war, machten wir Halt in einem Trockental, um den Tieren und uns selbst eine kleine Rast zu gönnen, und berieten wieder über unsere Lage. Nach etwa zwei Stunden Erholung machten wir uns wieder auf und trieben die Tiere in die eingeschlagene Richtung vorwärts. Gott sei Dank erwies sich unsere Rechnung nicht als falsch: Ehe es Abend wurde, stiessen wir auf die Spuren von ziemlich vielen Kamelen. Verschiedenen Anzeichen konnte man entnehmen, dass die Karawane hier erst vor etwa zwei Stunden vorbeigekommen war. Wir machten uns alle auf den Spuren der Karawane hinter ihr her. Da es aber geraten schien, die Karawane aber möglichst bald zu verständigen und mein Pferd das beste war, sollte ich mich von den Kameraden trennen und vorausreiten und die Karawane anhalten. Der Araber, den ich ritt, spürte mit seinem feinen Sinn, dass da vorne eine Karawane war, geriet in Eifer und flog dahin wie ein Vogel. Nachdem ich eine Weile geritten war und meine Gefährten aus den Augen verloren hatte, fand ich mich ganz allein in der Wüste; da packte mich die Angst. Mir war, als wäre ich in der Wüstenei, die wir Welt nennen, ganz allein und verlassen. Wolle Gott, dass das gut ausgehen mochte, dachte ich und ritt fürbass, mit höchster Aufmerksamkeit nach allen Richtungen ausschauend. Da legte mein Tier die Ohren an und wandte den Kopf nach links, und nachdem es ein wenig geschaut hatte, wieherte es erfreut. Als Antwort kam von hinter einer Sanddüne ebenfalls Pferdegewieher. Was mochte das sein? — fragte ich mich, hielt das Pferd zurück und wandte meine Aufmerksamkeit der Düne zu. Da sah ich eine Berittene, mit einem Speer bewaffnete Frau auftauchen und in Windeseile auf mich zuhalten. Ich überlegte, dass es eine von den Späherinnen sein musste, die die Königin ausgeschickt hatte, um auf Lauer zu liegen und den Weg zu überwachen. Sofort griff ich nach dem Chassepot-Gewehr, das ich umgehängt hatte, und machte mich zur Verteidigung bereit. Als sich die Soldatin auf die richtige Distanz genähert hatte, sandte ich ihr eine Kugel in die Brust, so dass sie sofort vom Pferd stürzte. Ihr Pferd kam zu mir; ich fasste es am Zügel und ritt zu der Frau hin. Da ich feststelle, dass sie tot war, und keine weiteren Feinde zu sehen waren, machte ich mich wieder hinter der Karawane her.

Es war gerade noch eine halbe Stunde bis zum Abend, als ich die Karawane einholte, mich dem Karawanenführer vorstellte und ihn über die Lage unterrichtete. Alle Reisenden staunten über das, was wir erlebt hatten, und segneten und dankten uns. Die Karawane hielt an. Wenig später holten uns auch meine Kameraden ein und stiessen zu uns. Zwei von unseren Kamelen brachen zusammen, da sie zu sehr angetrieben worden waren; wir luden ihre Lasten anderen Kamelen auf. Da der Feind vor uns war, hielten wir eine allgemeine Besprechung und berieten, wie wir uns verteidigen wollten.

Update: Die Fortsetzung der Geschichte finden Sie hier.

Der Anfang der Geschichte ist hier nachzulesen.

Eine Bildschirmgesamtausgabe finden Sie hier.

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