Das friedliche und glückliche Leben in Lhasa

(Ein Augenzeugenbericht)

Gut zwei Wochen sind vergangen, seit “das friedliche und glückliche Leben in Lhasa durch die Dalai Clique”, wie sich der chinesische Staat ausdrückt, “zerstört wurde.” Nun hängt eine beängstigende Stille über der Stadt. Kaum einer wagt es, seinen Laden zu öffnen. An den Straßenkreuzungen kontrollieren bewaffnete Polizeieinheiten die Passanten. Seit den Ausschreitungen vom 14. März sollen in Lhasa bis zu 140 Menschen getötet, an die tausend verletzt und 600 verhaftet worden sein. Die Sicherheitskräfte haben mit aufgepflanzten Bajonetten die Straßen blockiert und jeden verhaftet, der sich nicht ausweisen konnte oder keine Aufenthaltserlaubnis für Lhasa hatte. Folglich wagte sich bald keiner mehr auf die Straße. Diejenigen mit Papieren waren damit beschäftigt, denjenigen, die keine haben, Nahrungsmittel zu besorgen.

Seit Tagen, so wird aus Lhasa berichtet, werden Privatwohnungen nach Bildern des Dalai Lama durchsucht. Werden die Polizisten fündig, nehmen sie die ganze Familie in Gewahrsam. Schon während der Ausschreitungen, an denen sich überwiegend Jugendliche, Studenten und Schüler beteiligt hatten, bereiteten sich die älteren Tibeter, die sich noch gut an die Ausschreitungen der späten 80er Jahre erinnern konnten, auf die zu erwartenden repressiven Reaktionen der Staatsmacht vor. Bilder, Bücher oder was sonst noch auf Indien, den Dalai Lama oder auch nur auf ein buddhistisches Bekenntnis hinweisen könnte, wurde vorsorglich versteckt. Selbst das berühmte Bild, das den Dalai Lama und Mao Zedung im Gespräch zeigt, wurde vorsichtshalber entfernt. Wer konnte, verließ die Stadt.

Hintergründe der Unruhen
Begonnen hat alles mit den in Lhasa fast unbemerkten Protesten von Mönchen vor dem Jokhang-Tempel auf dem Barkhor am 10. März. Die Mönche forderten die Freilassung von Brüdern, die im vergangenen Oktober in den Klöstern Drepung und Sera und im Jokhang verhaftet wurden. Im Herbst 2007 hatte das Militär die Klöster umstellt und kontrolliert, um Kundgebungen anlässlich der Verleihung der Kongress-Medaille an den Dalai Lama zu verhindern. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Militär und Mönchen.

Die Demonstration am 10. März in Lhasa wurde zwar sofort unterbunden, aber in den folgenden Tagen bekamen die Mönche weitere Unterstützung durch Brüder aus Sera und Ganden. Und diesmal schlossen sich auch Pilger und Besucher der Klöster mit an. Allein 600 Mönche haben auf dem Vorplatz des Kloster Sera für Religionsfreiheit und die Freilassung ihrer Brüder sowie des 11. Panchen Lama demonstriert. Dann griffen die Sicherheitskräfte mit Tränengas und elektrischen Schlagstöcken ein.

Lhasa, 14. März
Nachdem in Lhasa bekannt wurde, dass unzählige Mönche verhaftet und die Klöster abgeriegelt worden waren, gingen am 14. März gegen Mittag die Mönche des Ramoche-Tempels in der Lhasaer Altstadt auf die Straße. Binnen kürzester Zeit entstand aus der friedlichen Demonstration eine Revolte, der sich nahezu alle Tibeter anschlossen. Versuche der Polizei, gegen die Demonstranten vorzugehen, endeten in den blutigsten Straßenschlachten, die Lhasa seit den späten 1980er Jahren gesehen hatte.

Die aufgebrachten Tibeter wendeten sich gegen alles, was ihre Unterdrückung symbolisiert, vor allem die Symbole des wirtschaftlichen Wachstums: Banken, Geschäfte und Landcruiser gingen in Flammen auf. Der Hass der Demonstranten richtete sich bald gegen alles Chinesische: Gemüseläden, Apotheken, Restaurants wurden verwüstet. Tibetische Läden wurden von den Demonstranten mit weißen Schals markiert.
Kurze Zeit später waren Schüsse zu hören und die ersten Panzer in den Straßen. Erst in den frühen Morgenstunden endeten die Kämpfe und das Militär errichtete Straßensperren.

Der Tag danach
Wenn auch die Auseinandersetzungen ein schreckliches Ausmaß angenommen hatten, so begann der Terror für die Tibeter erst am 15. März mit Kontrollen, Verhaftungen und Hausdurchsuchungen. Mittlerweile hatten sich jedoch die Proteste bereits soweit ausgeweitet und in fast allen tibetischen Zentren kam es zu Aufständen, die allesamt mit großem militärischem Aufgebot und äußerster Härte niedergeschlagen wurden. Am schlimmsten waren die Auseinandersetzungen in Labrang (Xiahe) in der Provinz Gansu und in Ngaba (Aba) in der Provinz Sichuan.

Die Proteste zeigen, dass die Politik und Wirtschaftsprogramme aus Peking in den tibetischen Regionen nicht greifen, denn sie vernachlässigen und ignorieren die kulturellen und religiösen Bedürfnisse der Tibeter. Der kommunistische Staatsapparat ist viel zu sehr auf Statistiken bedacht, als dass er eine tatsächliche, nachhaltige und integrierte Entwicklung in den tibetischen Regionen fördern würde. So bleiben die meisten Tibeter vom wirtschaftlichen Wachstum ausgeschlossen, liegen in Sachen Bildung weit zurück und haben zudem mit der Willkür und Korruption der Institutionen zu kämpfen. Die Tibeter haben sich nicht nur gegen kulturelle und religiöse Unterdrückung aufgelehnt, sondern haben ganz entschieden gegen ihre wirtschaftliche, soziale und demographische Marginalisierung protestiert.

(Der Autor des Beitrags möchte unerkannt bleiben. Er floh kurz nach den Ereignissen aus Lhasa und hält sich derzeit an einem anderem Ort auf.)

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

Post Navigation