Im Land der Amazonen IV

Dies ist die letzte der vier Folgen, die alles in allem den um 1890 geschriebenen fiktiven Bericht eines Taschkenter Geistlichen Abbas Efendi ergeben, der im wüsten Afrika in das Land der Amazonen geriet. Die Folge I beschäftigte sich mit der Einführung einer fiktiven getrennt geschlechtlichen Welt, in der die Frauen das Sagen haben und die Männer ihnen dienen. Schnell erkennt der Leser die Zustandsbeschreibung französischer und zentralasiatischer Verhältnisse am Ende des 19. Jahrhundert. Erstaunen breitete sich aus, wurden wir gewahr, dass sich die Emanzipation der Geschlechter in Europa wenig von der des Orients unterschied. Folge II lies uns in eine Kulturdebatte eintauchen, in der schnell klar gemacht wurde, dass wie auch immer die Diskussion auf der Seite der Männer oder der Frauen verlief echte Gleichheit von keinem wirklich gewünscht wurde, ein Zustand der auch im Europa des 21. Jahrhunderts reine Zukunftsmusik bleibt.

Folge III hingegen war für die damalige Zeit reines “Sex and Crime.” Allein die Vorstellung einen muslimischen Geistlichen auf dem Schoß einer Frau und der Bart des Propheten ein Lustobjekt der Herrscherin, ließ sicher den Muslimen Zentralasiens einen Schauer über den Rücken fahren.

Nun verfolgen wir in Folge IV den Showdown. Dieser ist ganz und gar auf das typische Faszinosum des muslimischen Bürgertums Zentralasiens, des Kaukasus und des Osmanischen Reiches in Hinblick auf neueste Technik ausgerichtet. Die Zeitungen der damaligen Zeit waren voll von Federzeichnungen fantastischer Apparate aus der Physik, Chemie, dem Militär und dem Transport. Die Moderne und ihre Heilsversprechung war angebrochen, mit Hilfe von Technik und Menschlichen Geist jedwede Probleme lösen zu können. Ein paar Jahrzehnte später wäre hier anstatt Betrachtungen zum Chassepot Gewehr die Beschreibung der Kalashnikow zu finden gewesen.

Nun denn, auf ins Getümmel!

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Den Feind, der im Hinterhalt lag, weiträumig zu umgehen, war unmöglich. Da es in dieser Wüstengegend nur wenig Wasser und wenige Brunnen gibt, würden Leute, die auf der Flucht vor Feinden vom Weg abweichen, erst recht zu Tode kommen. Daher beschlossen wir, bis zum Morgen da zu bleiben, wo wir waren, und am Morgen unbeirrt unseres Weges weiterzuziehen, gleich was da kommen mochte. Wir hatten zwei Kisten Chassepot-Gewehre bei uns. Da vor diesem wunderbaren französischen Gerät neuester Provenienz auf 1500 arshin
kein Entkommen ist, verständigten wir den Karawanenführer und gaben an zwanzig Mann von
den Karawanenreisenden solche Gewehre aus. Wir zeigten, wie man damit umgeht, und so
bildeten wir einen Elitetrupp von zwanzig Arabern und dreien von uns. Darüber hinaus waren
noch dreissig Mann in der Karawane mit herkömmlichen Gewehren ausgerüstet. Sie bildeten den
zweiten Trupp, und an die zehn Mann mit Schwertern und Speeren formierten sich zu einer
dritten Abteilung. Der französische Kanonier kommandierte den ersten Trupp, der Karawanenführer den zweiten. Der dritten Abteilung wurde übertragen, Waren und Kamele zu bewachen und im Notfall als Hilfstrupp einzugreifen. So trafen wir die Kampfesvorbereitungen. Wir
schossen ein-, zweimal zur Probe mit den Chassepot-Gewehren. Die Araber und Beduinen freuten sich wie Kinder, bestaunten die Gewehre lang und sagten, dass sie die Feindinnen damit wie Hasen jagen würden.

Ein, zwei Stunden voraus auf unserem Weg gab es Wasserlöcher. Da es in der näheren Umgebung keine Wasserstellen außer diesen gab, war es geraten, zum Wasser zu ziehen. Demgemäß machten wir uns am frühen Morgen in Richtung der Wasserlöcher auf.

***

Rund um uns war Wüste. Man sah nichts als Steine, Sand und Himmel. Man konnte keine Anzeichen dafür ausnehmen, dass hier in der Umgebung Feinde wären. Erst als wir zu den Brunnen gelangten und viele Pferdespuren sahen, wussten wir, dass sie Wasser geholt hatten und die Frauen in der Nähe sein mussten.
Wir nahmen den Kamelen die Lasten ab und stellten auf den Dünen Wachen auf. Unter der Anleitung des französischen Kanoniers machten wir uns daran, an den Brunnen festungsartige Dämme und Befestigungen zu errichten. Alte und Junge, alle arbeiteten zusammen und
hoben Gräben aus, und so befestigten wir uns von allen Seiten recht tüchtig. An manchen Stellen schichteten wir Gepäcksbündel und Lasten auf und sicherten uns ganz gut ab. Solchermaßen wurde unsere Sandburg ziemlich wohlgeschützt. Die Verteidigung war so ausgelegt, dass, egal aus welcher Richtung der Feind auch kommen würde, wir alle diese Richtung ins Visier nehmen nach dorthin zurückschlagen wollten. Das war den Künsten des französischen Kanoniers und des Ballistikers zu verdanken. Wir legten einen Schlachtplan zurecht, demzufolge, da für uns die Chassepot, welche auf tausend arshin Mann und Ziel treffen konnten, die Funktion von Kanonen innehatten, die Chassepot-Schützen das erste Glied und alle anderen die zweite Abteilung formieren sollten. Über den Proviant verfügte der Karawanenführer Sajjid Ahmad. Das Kommando über die Festung wurde dem französischen Kanonier, und das allgemeine Dolmetschen meiner Wenigkeit übertragen.

Als unsere Festung fertig war, versammelten wir uns zu einem Kriegsrat. Unsere Karawane bestand aus sechzig Männern und zwölf Frauen. Frauen und Mädchen wurden damit betraut, das Essen zuzubereiten. Bei der Beratung stellte sich heraus, dass es in einer Umgebung von zwanzig Wegstunden keine anderen Wasserstellen als diese hier gab. Daraus konnte man schließen, dass der Feind entweder nahe war oder aber dass er den Gedanken an einen Überfall aufgegeben hatte und umgekehrt war, denn ein berittener Feind konnte in dieser wasserlosen Wüste unmöglich länger als ein, zwei Tage ausharren. Wir überlegten, dass unter diesen Umständen der Feind nach Einbruch der Abenddämmerung überraschend angreifen und eine Verteidigung im Dunkeln schwierig und gefährlich sein würde. Es wurde für notwendig befunden, den Feind, bevor der Abend hereinbrach, aus seinem Hinterhalt zu locken und zum Angriff zu zwingen. In der Tat
war offensichtlich, dass es des Tages, bei guter Sicht, möglich sein würde, mit den Chassepot viele von ihnen auf Distanz niederzumachen; im Dunkel der Nacht würden wir von den französischen Gewehren nicht im nötigen Ausmaß profitieren können.

Den Ergebnissen dieser Beratung gemäß sandten wir, nachdem Männer und Pferde ein
wenig gerastet hatten, einige Berittene aus, um die Umgebung zu erkunden. Monsieur Martin ritt
mit ihnen. Sie zogen etwa eine Stunde lang in der Wüste umher und entdeckten schließlich in
einem Wadi, einem Wüstental, an die dreihundert Soldatinnen mitsamt ihrer Königin, wie sie im
Hinterhalt lagen. Dabei sahen die Feinde sie auch und wussten, dass ihr Versteck entdeckt war.
Darauf setzten sie sich in Bewegung. Als unsere Späher im vollen Gallopp zurückkehrten, konnte man auch schon sehen, wie die Feinde hinter ihnen herkamen. Wir griffen alle nach den Waffen, begaben uns an die uns zugewiesenen Plätze und machten uns zum Kampf bereit. Die Feinde kamen in drei Schlachtreihen. Wir überlegten, dass sie, ihre Pferde schonend,
näher kommen und dann zum Angriff übergehen würden.

Es war beschlossen worden, dass die Chassepot-Schützen feuern sollten, sobald sie auf einer Distanz von tausend arshin waren, und die anderen, wenn sie noch näher heranrückten. Martin, ein guter und treffsicherer Schütze, versprach, dass er auf die Königin
schiessen und sie vom Pferd holen wollte.

Als die Soldatinnen die Festung sahen, die wir gebaut hatten, hielten sie an. Die Königin
ritt mit fünf oder zehn Reiterinnen voraus und begann unsere Lage eingehend zu erkunden. Zwei
Reiterinnen flankierten die Königin; sie hielten einen roten Sonnenschirm über ihrem Haupt. Die
kriegs- und kampfeserfahrene Königin umrundete die Befestigung und schätzte ab, von welcher
Seite es am leichtesten sein würde anzugreifen. Nachdem sie gesehen hatte, dass wir von allen
Seiten mit einem Wall umgeben waren und dass auch die Wasserlöcher innerhalb des Walles und
der Befestigungen waren, kehrte die Königin zu ihrem Heer zurück. Wieder setzten sie sich in
Bewegung und hielten auf uns zu. Tausend arshin von der Festung entfernt stand eine armselige Dattelpalme. Sowie die Feinde diesen Baum erreicht hatten, befahl der französische Kanonier “Feuer!”, und schon trafen die Kugeln die Körper der Frauen, und mit jedem Mal fielen zehn, fünfzehn Feinde vom Pferd. Dass auf diese Entfernung Kugeln treffen konnten,
irritierte die Feinde sehr. Erst hielten sie an, dann begannen sie sich zurückzuziehen.
Da die Chassepot-Gewehre ihre Kugeln ja bis tausendfünfhundert arshin schiessen können, feuerten wir den Feinden, um sie zu erschrecken, noch hinterher und machten
noch eine ganze Reihe von ihnen nieder, bevor sie außerhalb unserer Schussweite waren.
Die Frauen aber waren mutig und tapfer. So hatten sie keine Furcht vor unseren Gewehren und rüsteten erneut zum Angriff. Als er den Feind im Gallopp wie einen Sturm heranbrausen
sah, sagte Monsieur Martin: “Habt keine Angst, Freunde. Gott befohlen — zielt wohl, bevor ihr
schiesst!” Einstweilen kamen die Frauen mit Gekreische und die Speere in Händen schwingend
auf unsere Befestigung zugesprengt. Dreihundert Berittene kamen daher wie ein Sturmwind, und
allen voran ihre Königin.

***

Mit grossem Eifer und Mut kam das Mädchenheer wie ein Sturm daher und griff unsere
Festung an. Als aber unsere neuartigen französischen Gewehre ihrer fünfzig vom Pferd rissen,
stockten die anderen, wendeten und ergriffen die Flucht. So sehr ihre zornige Königin die
Fliehenden schreiend und brüllend zum Anhalten und Wenden bewegen wollte – es half nichts.
Da wandte uns auch sie den Rücken und floh. Obwohl Monsieur Martin sich die Königin als
besonderes Ziel genommen hatte, um sie niederzumachen, stand ohne Zweifel fest, dass auch
nicht eine einzige Kugel die tapfere Frau getroffen hatte.
Die Franzosen staunten über diese Tapferkeit der Mädchen. “Alle Achtung, bravo!”
riefen sie und ließen sie entkommen. Diese Frauen und ihr Land sind in der Tat höchst seltsam.

Die Frauen sind an Mannes statt. Ihre Männer sind furchtsam, zart und kraftlos wie Frauen.
Wenn man mit dem Auge des Exempels auf sie blickt und es recht erwägt, kommt heraus, dass
doch Lebensweise, Erziehung und Gewohnheit sehr viel Einfluss auf den Menschen hat. Da die
Frauen jenes Landes daran gewöhnt sind, schwere Arbeit zu verrichten und Krieg zu führen, und
ihre Männer gewöhnt sind, im Haus Wäsche zu waschen, Essen zu kochen und Kleider zu
nähen, sind ihre Frauen und Mädchen so stark und mutig wie unsere Männer; ihre Männer sind
verzärtelt, furchtsam und kraftlos wie bei uns die Frauen und Mädchen. Was für ein großartiges
Ding ist doch die Erziehung! Welchen Einfluss hat nicht die Gewohnheit! Bäume und Tiere
werden durch den Einfluss von geographischer Lage und Klima ganz beträchtlich verändert. Es
ist ganz klar, dass der Mensch noch mehr verändert werden kann. Dass Moral, Naturell,
Gewohnheiten, Körperkraft und Mut und noch andere Dinge allesamt die Frucht von Lebensweise und Erziehung sind, erweist sich an diesen Frauen.
Die Flucht der Feinde bedeutete unsere Rettung. Wir sandten ein paar Reiter aus, und als
wir wussten, dass sich die Mädchen auf ihr Territorium zurückgezogen hatten, sammelten wir alle
die auf, die rund um die Festung umgekommen waren, und begruben sie im Sand. Vier verwundete Mädchen, die wir noch fanden, nahmen wir mit hinein und wuschen, salbten und verbanden ihnen die Wunden. Es war offensichtlich, dass sie über diese unsere Barmherzigkeit sehr erstaunt waren; diese Unseligen wissen nämlich nicht, was Erbarmen oder Gerechtigkeit gegenüber Feinden bedeutet. Auch einige von den Beduinen, die in unserer Karawane waren, wussten nicht viel von dieser Barmherzigkeit und staunten darüber, dass wir die verwundeten Feindinnen wie Freunde behandelten und ihnen die Wunden verbanden. Bei dieser Gelegenheit legte ich dar, dass alle Geschöpfe, und vor allem die Menschen, unter allen Umständen Erbarmen und Gerechtigkeit verdienen, und hielt den Beduinen eine Lektion in den Gegenständen Anstand und Moral.

Wir berieten uns mit dem Karawanenführer und beschlossen, uns auf den Weg zu machen. […] Wir beschlossen, die verwundeten Mädchen nach Hause zu schicken. Nach allem, was er hatte erleben und erfahren müssen, machte Martin viele Scherze und trug ihnen Grüße an die Königin auf: “Sie soll nie wieder Franzosen gefangen nehmen — es bringt ihr nur Unglück!”‘ sagte er.
Am Morgen nach dem Vorfall setzten wir die gefangen genommenen Mädchen aufs Pferd
und schickten sie los. Danach brach auch unsere Karawane von den Wasserstellen auf und
machte sich auf den Weg. Erzwungenermaßen verwarfen wir den Gedanken, den Sudan noch zu
erreichen und uns dem Mahdi Muhammad Ahmad anzuschließen. Wir schlugen mit der Karawane gemeinsam den Weg nach Tunis ein – auch dafür sei Gott gedankt!

Siebenunddreißig Tage arbeiteten wir uns mit viel Mühen von einer Wasserstelle zur nächsten durch das Sandmeer vor und kamen schließlich in Tunis an. Dort erfuhren wir, dass der Mahdi Muhammad Ahmad verstorben war und dass im Sudan Hungersnot und Aufruhr ausgebrochen waren. Meine Freunde, die Franzosen, reisten von Tunis nach Frankreich. Meine Wenigkeit
schlug den Weg nach Istanbul ein. Es ging mir zwar auch durch den Sinn, nach Frankreich oder
genauer gesagt zu Marguarita zu fahren, aber da das Heimweh, die Sehnsucht nach dem Heimatland zu heftig geworden war, machte ich mich nach Istanbul auf. Ich beschloss, von Istanbul in den Hidzhas und von dort aus geradewegs nach Taschkent zurück zu reisen. Es reichte, was ich an Sehnsucht und Heimweh erduldet hatte — aber wen würde ich wiedersehen, wenn ich nach Taschkent kam? Es war schon lange her, seit ich von dort aufgebrochen war. Ob wohl Mutter und Vater und von meinen Freunden Babarahim, Pervanegi, Muhammadbaj Xodzhabajev, Selimbaj Muslimbajev und die anderen noch am Leben und wohl auf waren?

Ende

Mulla Abbas Fransevi.

Die Redaktion: Wir haben Mulla Abbas Efendi mitgeteilt, dass seine Briefe sehr gut angekommen sind, und er hat versprochen, dem “`Terdzhiman”‘ noch weitere Briefe zu schreiben. Hoffentlich vergisst er es nicht.

Der Anfang der Geschichte ist hier nachzulesen.

Eine Bildschirmgesamtausgabe finden Sie hier.

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