“Waskati” oder wie bekommt man einen Selbstmordattentäter?

[inspic=586,left,,300] Ahmad Shah Masud, der Löwe aus dem Panjirtal, war ihr erstes Opfer in Afghanistan. Selbstmordattentäter. Zwei als Journalisten getarnte Kämpfer der al-Qaeda sprengten sich am 9. September 2001 mit ihrer präparierten Fernsehkamera in die Luft und töteten so einen der damals mächtigsten Kriegsherren der sogenannten Nordallianz, die zu dieser Zeit nur noch einen winzigen Teil Nordostafghanistans kontrollierte. Diese Art des Anschlages, bei der der Tod des Attentäters von Beginn an als sicher vorausgesetzt wird, war relativ neu für Afghanistan.
Erst mit dem Einmarsch der Amerikaner und ihrer Verbündeten in Afghanistan 2002 und besonders seit dem wieder Erstarken des Antiamerikanischen und Antiwestlichen Widerstands im Jahr 2005 wurden Selbstmordattentäter zu einer allseits gefürchteten und kaum abwehrbaren Waffe. Seither gibt es für diese Selbstmordattentäter in Afghanistan auch eine Bezeichnung. Der Volksmund nennt sie “waskati”. Waskati sind die vor allem in Südafghanistan gerne über dem Beinkleid (shalwar kamis / pirahan-tomban) getragenen ärmellosen Westen. Gerne getragen bis 2005. Heute verlassen Afghanen lieber schnell die Orte, an denen jemand in diesem Aufzug auftaucht. Zu oft haben Menschen, die bereit waren ihr Leben zu opfern, den am Körper getragenen Sprengstoff unter diesen Westen verborgen.

Wer aber sind diese Selbstmordattentäter und wie kommen sie an ihren Auftrag?

In den von Taliban kontrollierten Gebieten kann man sich einen Waskati kaufen.
In Südafghanistan, zwischen Helmand und Nimruz liegt die kleine Stadt Barabcha. Die Gegend wird von Taliban kontrolliert. 10.000 US Dollar und den Namen der Zielperson kostet es, einen Selbstmordanschlag bei den örtlichen Kommandanten in Auftrag zu geben. Zusätzlich hat man als Auftraggeber einen “Gesetzentwurf” (loiha) der Taliban zu befolgen. Als mögliches Ziel kommen demnach nur Personen in Frage, die mit der Regierung, der afghanischen Armee oder mit Ausländern zusammenarbeiten oder sonst irgendeine Beziehung zu diesen pflegen. Ist dies der Fall (in den von Taliban kontrollierten Provinzen muss auch der Gouverneur sein Einverständnis geben), wird der Auftrag an einen zum Tod im Dienste des Dschihad bereiten jungen Mann weitergegeben. Oft haben diese jungen Selbstmordattentäter keine Ahnung, gegen wen sich ihre Tat richtet oder warum und von wem diese Dienstleistung ursprünglich in Auftrag gegeben wurde.

Was sind die Motive der zum Selbstmord bereiten jungen Männer in Afghanistan?
Afghanistan ist noch durch Armut geprägt. Daran hat auch das ausländische Engagement und die Regierung unter Karzai bisher nichts geändert. Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt von weniger als 1 US$ pro Tag. Zugang zu sauberem Trinkwasser, fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten und stark steigende Lebensmittelpreise sind weitere Begleiter. Laut World Food Program lag der Preis für Weizen im April 2009 63% über dem Weltmarktpreis und macht Nahrungsmittel für Millionen von Afghanen unerschwinglich.

Die Enttäuschung so vieler Afghanen über die Karzai-Regierung und ihre westlichen Unterstützer hängt vor allem damit zusammen, dass es ihnen nicht gelungen ist, diese trostlose Situation zu verbessern” (Cockburn, lmd, August 2009).

[inspic=588,,,0] Die Korruption tut das übrige, um die Aussicht auf eine Verbesserung der Lebensumstände zu verhindern. Diese Ausweglosigkeit motiviert viele junge Männer und Jugendliche zu diesem Akt des Selbstopfers, der ihnen verspricht alles Leid der Welt hinter sich zu lassen. Die meisten von ihnen werden in den Koranschulen und Moscheen der Region auf diese Reise ins Paradies vorbereitet. Der gewaltsame Tod erhebt sie in den Rang eines Shahid, dem der Zugang zum Paradies direkt gewährt wird. Im Iran-Irak-Krieg wurden von Iranischer Seite unter dieser Annahme Jugendliche mit einem Schlüssel für das Paradies um den Hals durch Minenfelder geschickt.

Ein weiteres Motiv für Selbstmordanschläge ist weniger religiös motiviert, sondern folgt den Regeln und dem Ehrenkodex der Bewohner der Stammesgebiete, vor allem bei Paschtunen und Belutschen. Todesopfer unter den Familien- und Stammesmitgliedern sollen damit ebenso vergolten und kompensiert werden, wie Übergriffe auf Frauen oder andere die Ehre des Stammes verletzende Aktionen in Folge der gegenwärtigen kriegerischen Auseinandersetzung. Die Kompensation für erlittenen Schaden folgt dem Tallions-Prinzip, des angemessenen Ausgleichs. Hierbei muß der geschadeten Partei durch einen aus beiden Parteien zusammengesetzten Rat nach festgelegten Prinzipien der entstandene Schaden abgegolten werden. Bei hohen Opferzahlen, wie sie durch moderne Waffensysteme, Bombardements oder Selbstmordattentate an belebten Plätzen häufig zu beklagen sind, gerät dieses System der Konfliktregulierung an seine Grenzen.[inspic=589,,,300]

Im Netz kursieren auch einige Bilder, Biographien und filmische Selbstdarstellungen von jungen Männern, die bereit sind sich als lebende Bomben in die Luft zu sprengen. Diese werden dann nach der Tat ins Netz gestellt, um die “Freiwilligkeit” der Attentäter zu belegen. Aus Gründen der Pietät verzichten wir hier darauf, diese Bilder wiederzugeben. Der hier angegebene link verweist auf ein solches Portrait. Über die Echtheit dieses Fotos kann an dieser Stelle jedoch keine gesicherte Aussage getroffen werden.

Dass die Spirale der Gewalt sich weiter drehen kann, daran trägt auch die deutsche Regierung ihren Anteil. Der Chef der Deutschen Welthungerhilfe, die seit Jahrzehnten in Afghanistan tätig ist, erhob kürzlich schwere Vorwürfe an die deutsche Afghanistanpolitik, vor allem gegen deren Vermengung von Wiederaufbau und militärischer Intervention:

“Nie war die Sicherheitslage für Entwicklungshelfer so explosiv wie jetzt”.

[inspic=584,,,0] Die Unsicherheit in der gesamten Region steigert sich zusehends seit 2005 (zumindest in den Stammesgebieten war Sicherheit während der Herrschaft der Taliban gesichert) und betrifft in erster Linie die Bewohner der Region. Patrick Cockburn beschrieb in der neuesten Ausgabe der Le monde diplomatique die Furcht der Afghanen im “Niemandsland Afghanistan” als Kollaborateure erkannt oder verkannt zu werden. Am letzten militärisch gesicherten Checkpost auf dem Weg von Kabul in Richtung Süden kramen [viele] noch einmal nervös in den Taschen. Sie wollen sichergehen, dass sie nichts bei sich haben, was auf Kontakte mit der Regierung oder einer ausländischen Hilfsorganisation hinweisen könnte. Südlich von Kabul könnte das gefährlich werden:

Dort machen Taliban-Trupps oft kurzen Prozess. Sie bestehen normalerweise aus sechs bis zehn Mann, die auf Motorrädern durchs Land brausen und an den Landstraßen mobile Checkpoints errichten. Sie überprüfen nicht nur die Papiere, sondern nehmen den Reisenden manchmal auch die Handys ab und rufen die zuletzt gewählten Nummern an. Wenn sie bei einer Regierungsstelle landen, wird der Handybesitzer womöglich auf der Stelle getötet” (Cockburn, lmd, August 2009, S.1).

Auch in anderen Landesteilen könnte sich dieses Modell in der Zukunft durchsetzen.

Gewalt erzeugt Gegengewalt. Nirgends scheint dieser Satz richtiger als heute in Afghanistan. Mit militärischen Mitteln ist in Afghanistan keine Stabilität und Frieden zu erzielen. Erkannt haben das sicherlich auch schon die Generäle der Nato. Auch die “Herzen der Afghanen” hat man bereits verloren. Sich jedoch die militärische Niederlage einzugestehen und auf einen rein zivilen Kurs umzuschwenken, übersteigt die Vorstellungskraft und den Willen der verantwortlichen Politiker und Militärs. Aber je länger man damit wartet, desto unmöglicher wird diese Option. Und so wird wohl die Propagandaschlacht den Krieg der Drohnen, Kampftrupps und Bombardements weiter begleiten. Im Gegenzug wartet bereits der nächste opferbereite “Waskati” auf seine letzte Mission.

Übrigens:

Widerstrebende lokale, regionale und internationale Interessen sind selbstverständlich ein Teil des Problems. Dass die grob vereinfachende Darstellung des Konfliktes in deutschen (und anderen) Medien der Situation in keinster Weise gerecht wird, muss eigentlich nicht besonders betont werden. Nur hin und wieder erhält man fundierte Berichte aus und über die Zusammenhänge vor Ort. Die Beiträge von Thomas Ruttig (aus Afghanistan) und Britta Petersen (aus Kabul) in der taz und einige Berichte in der Le monde diplomatique bilden da die bundesweit gesehen wenig beachteten Ausnahmen. Karzai und seiner Truppe wird immer häufiger Korruption vorgeworfen. Aber welche andere Option Politik zu machen hat denn der oftmals als “Bürgermeister von Kabul” bezeichnete Karzai überhaupt? Eingesetzt von den Amerikanern und ausgestattet mit wenig mehr als US$ ist er gezwungen beständig zu versuchen, Allianzen mit regionalen und lokalen Machthabern einzugehen und zu halten, um seine eigene Position abzusichern und überhaupt Einfluss auf die Entwicklungen in Afghanistan geltend machen zu können.

Auch Patrick Cockburn und die von ihm zitierten Afghanen plädieren für einen raschen und radikalen Strategiewechsel: Gegen eine erneute Aufstockung der militärischen Mittel und Streitkräfte.

Denn “Wenn die Truppenverstärkung zu noch mehr Gewalt führt, wird sie nur noch mehr Widerstand provozieren” (Cockburn, lmd, August 2009).

Die Bundesregierung hält sich in Sachen Afghanistan eigentlich für gut beraten. Falls sie dies tatsächlich ist, zeigt sie sich in ihrer realen Politik jedoch ziemlich beratungsresistent. Eine ExpertInnenkommission zu Afghanistan scheint sie neben ihren traditionellen Beratungsinstitutionen SWP und der FES nicht für nötig zu halten. Dies wäre jedoch angesichts der grundsätzlich zu reformierenden Afghanistanpolitik der Bundesrepublik, die bereits mit dem Petersberg-Abkommen vom 5. Dezember 2001 falsche Zeichen setzte, und der sich seit spätestens 2005 rapide verschlechternden Lage in Afghanistan dringend geboten. Aber wahrscheinlich stimmt sogar Britta Petersens Vermutung, dass es “der Westen” nicht mehr ganz so ernst meine mit seinem Engagement für Afghanistan.

“Fest steht aber, dass sich zurückziehen und einen Scherbenhaufen zu hinterlassen, schlicht und ergreifend unverantwortlich wäre” (Petersen, taz, 25.08.2009).

Es bleibt jedoch zu befürchten, dass genau dies geschehen wird, sobald der “Einsatz am Hindukusch” innenpolitisch überhaupt nicht mehr von Nutzen ist. Wie es in Afghanistan dann aussehen wird, kennen wir bereits aus den 1990ern, vor der Herrschaft der Taliban. Letzter trauriger Höhepunkt der Gewaltspirale ist die jüngste Anschlagserie in Kandahar.

Ein Beitrag von Mansur und Thomas Loy.

Nachtrag:
Der Britische Independent vermeldete soeben, dass General Stanley McChrystal, seit knapp drei Monaten oberster Befehlshaber der Natotruppen in Afghanistan, weitere 20.000 Soldaten für die Umsetzung seiner “Strategie” gegen die Taliban anfordern will… Derzeit sind bereits 97.000 Soldaten in Afghanistan im Einsatz (davon 62.000 Amerikaner). Das Umdenken hat also noch nicht einmal begonnen.

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