Wladimir Medwedew „Im Strom der Steine“

Eine Rezension von Andreas Mandler

Wladimir Medwedew: Im Strom der Steine (Aufbau Verlag 2021)

Nach der Lektüre des Romans wüssten wir gern mehr über Wladimir Medwedew. Zumindest mehr, als der Verlags Klappentext über ihn verrät: „Wladimir Medwedew wurde in Transbaikalien geboren und verbrachte den größten Teil seines Lebens in Tadschikistan, wo er als Monteur, Helfer einer Geologentruppe, Dorflehrer, Fotojournalist, Patentfachmann in einem Konstruktionsbüro, Sporttrainer und Redakteur in Literaturzeitschriften tätig war. Heute lebt er in Moskau.“ (Aufbau Verlag Berlin). Er erscheint wie Okmir Agachanjanz (der berühmte Sowjetische Geobotaniker „Auf dem Pamir Aufzeichnungen eines Geobotanikers“ Leipzig 1980) oder wie die von Georg Renner  in „Biwak auf dem Dach der Welt“ (Leipzig 1975) beschriebenen Charaktere: Ein dem “wilden Osten” der Sowjetunion verfallener Abenteurer. Aber, und das ist ein sehr interessanter Aspekt dieses Buches, es gibt einen postkolonialen Bruch: Die Sowjetunion gibt es nicht mehr, der Abenteurer ist nicht unschuldig, sondern wohl oder übel der Vertreter einer fremden Macht. Diese Verschiebung, vom Verbündeten zum Fremden, musste Medwedew selbst erleben und auch davon erzählt sein jüngst erschienener Roman «Заххок» (2017), auf Deutsch „Im Strom der Steine“ (Aufbau Verlag, Berlin 2021).

Wladimir Medwedews Roman wirft die Leserinnen und Leser in eine abgelegene Region, die hierzulande nur wenigen Rucksack- oder Fahrradtouristen bekannt sein dürfte, die den beschwerlichen Weg nach Tadschikistan auf sich genommen haben und von der Hauptstadt Dushanbe weiter in den Pamir – auf das „Dach der Welt“. Der Bezirk Darvoz, wo der Roman vor allem spielt, befindet sich auf halbem Weg dorthin – inmitten einer kargen Gebirgslandschaft im tadschikischen Hinterland. Medwedews Roman stürzt die Leserinnen und Leser ins post-Sowjetische Chaos, in die Tadschikistan bis heute traumatisierende Zeit des Bürgerkriegs von 1992-1997, und erzählt die erschreckend einfache Geschichte vom Zerfall eines scheinbar stabilen Staates und dem damit einhergehenden Abgleiten in Chaos und Gewalt. Medwedew illustriert dieses Szenario aus verschiedenen Perspektiven von einer sonst wenig beachteten lokalen Mikroebene – ethnographisch genau und gerade deshalb bedeutsam.

Der Originaltitel des Romans „Zahhok“ verweist auf eine Figur der iranischen Mythologie und klassischen Persischen Literatur, von der man in Tadschikistan bis heute erzählt. In Firdausis Heldenepos Shahname (dem „Buch der Könige“), wird „Zahhok“, die böse und giftige, dreiköpfige Schlange von Gott geschickt, um die Menschen ins Chaos zu stürzen. „Zahhok“ setzt sich durch und tötet die rechtschaffenen und hart arbeitenden Menschen. Diese werden durch grausame und verräterische Menschen ersetzt. Aber schließlich naht ein bekannter Held und sein Begleiter „Kovar“ aus den Gebirgstälern, um die Schlange zu besiegen. In Medwedews Roman ist „Zahhok“ schon angekommen. Wird es aber auch einen „Kovar“ geben, der ihn bezwingt? Im Zentrum des Romans steht eine Familie auf der Flucht. Als der Vater ermordet wird, verlassen seine russische Frau und ihre Kinder, Andrej und Sarina, Hals über Kopf ihre Kleinstadt in Süd-Tadschikistan und fliehen in das Heimatdorf des Vaters im Bezirk Darvos. Aus dieser abgelegenen Hochgebirgsregion, in der die Handlung des Romans im Wesentlichen spielt, gibt es für sie kein Entrinnen. Der Bürgerkrieg im Süden des Landes findet in diesen Bergen Zentraltadschikistans als bedrohliches Hintergrundgeräusch statt. Mit Hilfe einer Truppe bewaffneter Banditen hat sich der ehemalige dritte Kreissekretär der KPdSU Huschkadamow zum lokalen Herrscher über eine Handvoll Dörfer aufgeschwungen. Seine paramilitärischen Söldner haben die staatlichen Institutionen übernommen und terrorisieren die Dorfbewohner. Um seinen Status als lokaler Herrscher zu festigen, verlegt sich Huschkadamow auf brutale Machtdemonstrationen. Im Stile Zahhoks tritt er bevorzugt mit einer Würgeschlange auf und zwingt die Bauern zum Anbau einer „neuen Sorte“: Opium. Auch wenn sich sein Machtgebiet lediglich über wenige Ortschaften bis an die tadschikisch-afghanische Grenze nach Qalai Chumb, der historischen Festung am Pandsch erstreckt, bringt die Kontrolle über die Verkehrswege lukrative Einkünfte mit sich.

Cover: “Заххок” (Литагент Литсовет, 2017)

In diese Situation fällt die Flucht der tadschikisch-russischen Familie, welche im Dorf Talchak endet, das unter den Zumutungen Huschkadamows Handlanger leidet. Es stellt sich heraus, dass der Vater im Dorf eine zweite Frau und weitere Kinder hat. In ihre Hausgemeinschaft werden die „russischen Flüchtlinge“ aufgenommen. Als Außenseiter fehlt es ihnen jedoch an allem, um sich in die Dorfgemeinschaft einzugliedern: die Sprache, die Religion und die Kenntnis der lokalen Ordnung. Die Logik der Dorfgemeinschaft gebietet die Verheiratung der kaum volljährigen Tochter, aber auch neue Ehen der beiden Witwen des Verstorbenen. Die sich daraus ergebenden Verwicklungen führen schließlich dazu, dass die Tochter Sarina in die Hände des Warlords Huschkadamows gerät und der Sohn Andrej in dessen Kampftruppe eingezogen wird. Einige schillernde Figuren bereichern die Szenerie: Ein Sufi-Heiliger, Eschon Wachab, mit akademischer Karriere in Leningrad, ein überkorrekter sowjetischer Offizier, ein lokaler Emporkömmling genannt „Erbse“ sowie ein naiver russischer Kriegsberichterstatter mit Zügen aus der Biographie des Autors. Ihre Geschichten und Lebenswege kollidieren in diesem kurzen Talabschnitt des Darvoz. Interessant ist der Roman nicht in erster Linie wegen seiner Handlung, sondern durch die Episoden, die neben den Ereignissen erzählt werden.

Dorfdimensionen und Mikrogeschichten

Drei erzählerische Hauptstränge lassen sich dabei herausgreifen: Der Bürgerkrieg und die Herrschaft der Gewaltunternehmer über das Tal, das Leben und der Alltag im Dorf und schließlich die Auseinandersetzung mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Ganz wunderbar gelungen ist Medwedew die Darstellung des Dorflebens. Mit ethnographischem Blick beschreibt er die Lebenshaltung, die Bedeutung von Land, Vieh und Haushalt, die Rollen, Werte und Denkweisen im Dorf. Das Handeln und der Alltag der Dorfbewohner sind strukturiert und geprägt von mündlichen überlieferten Geschichten, Legenden, Gleichnissen, und religiösen Anleitungen.

In Medwedews Dimension der dörflichen Gemeinschaft korreliert räumliche Enge mit spiritueller Tiefe. In Anbetracht der gegenwärtigen Bedrohung durch die Bewaffneten, sind die Bewohner des Tals gezwungen über Anpassung, Widerstand und ihre eigene Geschichte nachzudenken. Entsprechend fließen die Erinnerungen der „Alten“ an den Kampf der Basmatchen gegen die rote Armee, die Präsenz der Sowjetmacht im Tal, und die Anpassung an den sowjetischen Lebensentwurf in ihre Überlegungen und Reaktionen mit ein.

Während jeder einzelne Haushalt mit den Gefahren des Bürgerkriegs klarzukommen sucht, ist auch die Dorfgemeinschaft als Ganzes bedroht. Der Roman beschreibt eindrücklich die zentrale Bedeutung des Zugangs zu Land und Wasser. Im Streit mit einem anderen Dorf um die Zugangsrechte zu einer Hochgebirgsweide wird ein Junge getötet. Nachdem diese Hochweide verloren ist, fehlt das Futter für die gemeinsame dorfeigene Schafherde. Zwei Drittel der Tiere sterben oder müssen geschlachtet werden. Von dieser Notlage ist das Dorf schwer getroffen. Wie reagiert die Dorfgemeinschaft in Talchak? Wird der Tod des Jungen gesühnt? Was geschieht mit dem plötzlich verfügbaren Fleisch? Medwedew übergeht diese Fragen nicht, sondern gibt den Diskussionen innerhalb der lokalen Institutionen viel Raum. Medwedews eingehenden Beschreibungen von Entscheidungssituationen, welche die Gemeinschaft regelmäßig heraus- und überfordern, sind spannend zu lesen. Plötzlich müssen Entscheidung getroffen und durchgesetzt werden, die bisher von den sowjetischen Strukturen wie Kolchose oder der Partei gefällt wurden. Aber dieser staatliche Rahmen existiert nun nicht mehr. Das Buch zeigt die Leerstellen, die auf lokaler Ebene durch den Verlust der staatlichen Institutionen entstanden und die Skrupellosigkeit neuer Akteure, die sich diesen Freiraum nun aneignen.

Im Verlauf der Handlung wird deutlich, dass die lokalen Probleme sich nicht mehr mit Referenz auf normative Ebenen lösen lassen, etwa auf das geschriebene, bisher sowjetische Recht. Sogar die Bedeutung religiöser Traditionen und lokaler Praktiken ist in Frage gestellt. Stattdessen zählt jetzt allein das Wort und die Gewalt des Ex-Kreissekretärs Huschkadamow. Während religiöse Praktiken, sowie der Umgang mit Geburt, Hochzeit und Tod oder die lokalen Traditionen der Frauen aufrechterhalten werden, geraten die bisherigen sozialen und rechtlichen Hierarchien ins Wanken. Spannungen über die Landverteilung oder der Umgang mit dem Raub und Mord an Dorfbewohnern können nicht mehr verbindlich gelöst und geklärt werden. Der Erzähler Dschorub, als Veterinär ein Vertreter der vormaligen, sowjetischen Dorfelite, konstatiert dies niedergeschlagen. Für ihn konnten Bauern in dieser unwirtlichen Gebirgsgegend nur überleben, weil sie die strengen Regeln des Zusammenlebens achteten. Doch nun „bricht die ganze Ordnung zusammen, dank der wir schwere Zeiten überlebt haben.“ Im Dorf besteht das bisherige Ordnungssystem nur noch in Fragmenten und überkommenen Begriffen. Medwedew gelingt hier ein sehr interessantes Bild der Veränderungen durch den Zerfall der Sowjetunion auf Mikroebene.

Postkoloniale Literatur in Russland

Medwedews Kennerschaft von Geschichte und politischem Inventar Tadschikistans – und der Region Darvoz – zeigt sich nahezu auf jeder Seite des Romans (hier geht es zu einem Interview mit dem Autor – die Deutsche Übersetzung ist am Ende dieser Rezension zu lesen!).
Nicht allein die vielen Geschichten zur Geschichte, zu lokalen Traditionen und Praktiken, die fast beiläufig erzählt werden, sondern auch die „russische Perspektive“ auf die beschriebenen Verhältnisse machen den Roman interessant. So etwa die detaillierten Beschreibungen der politischen Situation in den 1980er und 90er Jahren in Tadschikistan, die Beschreibungen des Bürgerkriegs und wesentlicher Akteure wie Sangak Safarov und Faizali Saidov. Diese in Tadschikistan „legendären“ Warlords, zu denen es wenig belegte Informationen gibt und über die der Staat sich ausschweigt, waren verantwortlich für diverse Gräueltaten und Massaker in den ersten Jahren des Bürgerkriegs. Im Roman treten sie mit der Botschaft auf, die Sowjetunion wieder herstellen zu wollen. Im Machtbereich des Mini-Diktators Huschkadamow, der sich Sangak Safarov angeschlossen hat, wird die Sowjetunion zwar gelobt, doch das hindert diesen nicht daran, Vertreter der KPdSU als „Volksfeinde“ hinzurichten. „Väterchen“ Sangak – wie der verurteilte Kriminelle Safarov liebevoll von seinen Anhängern genannt wurde (und wird) – will die Sowjetunion wiederherstellen und die „Gorbatschow-Clique“ zur Rechenschaft ziehen.

Unverständnis und Bedauern über das Ende der Sowjetunion sind oft gehörte Klagen in Tadschikistan. Der Schmerz über den Zusammenbruch der Sowjetunion ist beispielsweise auch die Motivation des strengen, überkorrekten Sowjetoffiziers Dawron, sich unter das Kommando Safarovs zu stellen. Seine Strategie wird scheitern. Der hellsichtige Dschorub merkt an, dass “der unaufhaltsame Prozess der Zerstörung der Grundlagen unseres bisherigen Lebens, der Niedergang längst begonnen [hatte], langsam, fast unmerklich, als die große Gemeinschaft, die Sowjetunion, zerfiel.“ Er ist nicht allein in der Annahme, dass der Zusammenbruch der sowjetischen Ordnung mit einem Verfall der Werte einherging. Es findet sicherlich die Zustimmung vieler russischer und tadschikischer Leser, dass diese Zeit im Roman als eine Periode des Verfalls erscheint, welche die schlechtesten Charaktere an die Macht spült.

Dank eines – unten angefügten – Interviews wissen wir glücklicherweise doch etwas mehr über den Autor Wladimir Medwedew. (Ein zweites, bisher nicht auf Deutsch übersetztes Interview mit dem Autor findet sich hier). Einerseits resultiert seine genaue Kenntnis Tadschikistans aus seiner Biographie, andererseits zeigen die Interviews, wie russische Leser und Presse den Roman einordnen. Unter dem Stichwort postkoloniale Literatur dreht sich die Diskussion um die vormalige und die heutige Rolle Russlands in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Aus westlicher Sicht – und aus post-Sowjetischer zentralasiatischer Perspektive zum Teil ebenso – handelte es sich beim Verhältnis Russlands zu den zentralasiatischen Republiken unzweifelhaft um eine koloniale Beziehung, insofern die Lebensführung der Kolonialisierten rigoros den Interessen der Kolonialherren angepasst wurde. Der Roman spricht diese Fragen an, belässt die Dominanz- und Unterwerfungsverhältnisse jedoch im Vagen. Implizit schwingt ein vormaliges Selbstverständnis mit, das Narrativ vom friedlichen Zusammenleben der Sowjetvölker auf ihrem gemeinsamen Entwicklungspfad zum Kommunismus. Seit den 1990er Jahren war das Scheitern dieses Konzeptes nicht mehr zu leugnen und Medwedews Roman handelt auch von diesem, von vielen als tragisch empfundenen Prozess. Das postsowjetische Russland muss die Erfahrung machen – ohne darauf Einfluss nehmen zu können – wie russische Kultur und Identität in den ehemaligen Republiken zum Thema werden und mithin auch zum Problem. Es ist durchaus aufschlussreich die folgenden Interviews Medwedews im Hinblick auf das gegenwärtige, russische Verhältnis zu Zentralasien zu lesen. Auch wenn es sich politisch und strukturell um russischen Kolonialismus im 19. und 20. Jahrhundert handelte, so wird im Buch auf eine Periode der späten Sowjetunion referiert, die nicht mehr primär kolonialistisch gewesen sei: urbane Gesellschaften waren multiethnisch, mehrsprachig, das Zentrum leistete Finanztransfers, Bildungswege und Berufschancen standen allen offen. Aus dieser Perspektive und aufgrund seiner eigenen Biografie lehnt Medwedew den Begriff Kolonialismus in Bezug auf Zentralasien ab.

Noch ein Wort zur Erzählstruktur des Romans. Die Geschichte des Romans wird von sieben Figuren in verschiedenen Kapiteln jeweils aus der Ich-Perspektive erzählt, wobei die Rolle der Erzähler*in zwischen den verschiedenen Figuren kreist. Bezogen auf ihre ethnisch-kulturelle Selbstzuschreibung sind drei von ihnen Russen, zwei haben einen russisch-tadschikischen Hintergrund, und zwei weitere Erzähler*innen stammen aus dem Dorf der Haupthandlung. Dieses narrative Vorgehen kann unter poetischen Gesichtspunkten kritisiert werden, da dadurch engere Verbindungen zu den Figuren verhindert werden und die psychologische Tiefe fehlt. Allerdings ermöglicht diese Erzählweise eine enorme thematische Breite. Die Figuren werden dabei durch ihre verschiedenen Sprechweisen charakterisiert. Deren zum Teil rohe Sprache transportiert viel der sowjetischen und vor allem der russischen Denkweise. Es ist interessant, dazu Medwedews Vorstellungen zum individuellen Hauptkanal der Informationsverarbeitung im folgenden Interview nachzulesen. In unseren Augen trägt dieser Ansatz nicht immer dazu bei, den Charakter und innere Motivation der Figuren besser auszuleuchten. Angesichts der überaus interessanten und auch spannenden Lektüre, sind dies jedoch nachrangige Mängel eines wichtigen und lesenswerten Romans.

Wladimir Medwedew: Im Strom der Steine, aus dem Russischen von Helmut Ettinger, Aufbau Verlag Berlin,
654 Seiten, 26,00 €, ISBN 978-3-351-03750-5.

Interview Wladimir Medwedew mit dem Russian International Affairs Council (RIAC)

Das Interview mit Wladimir Medwedew führte Nikolai Markotkin (НП РСМД), am 23.Juli 2018 [gekürzt und mit freundlicher Genehmigung des Российский совет по международным делам» (НП РСМД) übersetzt von Andreas Mandler.

Nach 1991 erschienen in Russland viele Romane, die als postkolonial bezeichnet werden können. Darüber hinaus findet die Aktion in ihnen hauptsächlich in Zentralasien statt und nicht im Kaukasus, wie in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Was ist Ihrer Meinung nach, der Grund für das Interesse an dieser Region?

Zunächst ein paar Worte zum Namen. In der nationalen (russischen) Tradition wird diese Region seit langem als Mittelasien (*Средней Азией) bezeichnet. Der Name Mittelasien bezog sich auf einen Großraum, einschließlich des südlichen Teils Sibiriens, der Mongolei, der westlichen Regionen Chinas und Tibets. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde das traditionelle Toponym durch eine Ableitung aus der englischen Sprache ersetzt „Central Asia“ (*Центральней Азией), wahrscheinlich aus dem Grund, dass es “zivilisierter” ist und vor allem nicht an die dunklen Zeiten des “sowjetischen Totalitarismus” erinnert. Ja, und für lokale Herrscher klingt es schmeichelhafter, wenn sich ihre Staaten in Zentralasien befinden und nicht in irgendeiner Art von Mittelasien. Tatsächlich schlug einer dieser Herrscher, Nursultan Nasarbajew, vor, den Namen zu ändern. Die Bezeichnung “Zentral” ist also rein politisch. Aber ich bevorzuge die alte geografische.

Und jetzt zur Essenz. Russische Leser haben kein besonderes Interesse an Mittel/Zentralasien. Und es gibt auch keine sogenannte Gesellschaftsordnung. Darüber hinaus war die Öffentlichkeit nie besonders an Zentralasien der interessiert. Die gesamte orientalische Verschmelzung in der russischen Literatur wurde im Kaukasus vollbracht. Die Romantik zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts forderte den Osten, forderte einen romantischen Helden, und der Kaukasus bot beides. Es ist merkwürdig, dass die russische Gesellschaft bis zur “Puschkin-Zeit” militärische Operationen im Kaukasus mit völliger Gleichgültigkeit behandelte. Puschkins “Gefangener des Kaukasus” Puschkin löste eine Lawine aus. Kaukasische Romane und Geschichten, unzählige Gedichte und Hunderte von Gedichten stürzten auf die Seiten von Büchern und Zeitschriften und tauchten in Essays auf. Der bekannte Literaturkritiker Viktor Zhirmunsky berechnete: „Die Anzahl der über zwanzig Jahre veröffentlichten romantischen Gedichte – von 1822, als der „Gefangene des Kaukasus“ erschien, bis 1842, dem Zeitpunkt der Veröffentlichung von Lermontovs posthumen Gesammelten Werken <… > überschreitet 200 verschiedene Werke”. Die Romantik ließ die Öffentlichkeit den Krieg und den Kaukasus “sehen”. Und als nach dem Ende der Kaukasuskriege die Eroberung Zentralasiens begann, achtete die russische Literatur fast nicht auf diese Ereignisse und diese Orte.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden viele gute Bücher geschrieben – historische Studien und Memoiren über militärische Operationen in Zentralasien, Aufsätze über das Leben und die Bräuche zentralasiatischer Völker, ethnografische Notizen und so weiter. Es erschien jedoch kein einziger “zentralasiatischer” Roman. Und ich kann mich an keine bedeutenden Geschichten oder Geschichten erinnern. Vielleicht lag der Grund darin, dass die Romantik allmählich nachließ und sich die Zeiten des kritischen Realismus näherten. Russland wandte sich dem Studium seiner selbst zu. Die dringenden Probleme, mit denen die Literatur die Lösung übernahm, waren so akut und dringend, dass für die fernen und fremden Randbezirke des Reiches keine Zeit blieb. So ist Zentralasien bis heute “Terra Incognita” geblieben. Romane und Geschichten über diese Orte können einerseits gezählt werden, und alle wurden in den ersten sowjetischen Jahrzehnten geschrieben: “Stars over Samarkand” von Sergei Borodin, “Ein Mann wechselt die Haut” von Bruno Yasensky, “Nisso” von Pavel Luknitsky. Der moderne Leser kennt offenbar nur Leonid Solovyovs „Die Geschichte von Khoja Nasreddin“. Die “zentralasiatischen” Romane, die in diesem Jahrhundert geschrieben wurden, wurden aus rein zufälligen und äußeren Gründen geboren – ihre Autoren stammen aus Asien (die einzige Ausnahme ist Jewgeni Chizhov). Meiner Meinung nach können diese Romane jedoch nicht als postkolonial bezeichnet werden, da keiner von ihnen auch nur eine Spur einer rein postkolonialen Problematik enthält. Es reicht aus, „Khurramabad“ von Andrey Volos, „Tashkent Novel“ von Sukhbat Aflatuni oder „Interlinear Translation“ von Jewgeni Chizhov mit einem klassischen postkolonialen Roman zu vergleichen, zum Beispiel mit Anthony Burgess „Jetzt ein Tiger“, um die Essenz des Unterschieds zu verstehen.

Übertragen Sie die Begriffe der westlichen Literaturkritik und der westlichen Politikwissenschaft nicht mechanisch auf unseren Boden. Erstens, weil die Verbindungen zwischen dem Zentrum und den nationalen Außenbezirken der Sowjetunion sehr eigenartig, aber sicherlich nicht kolonial waren. Sie waren keine Beziehungen zwischen Metropole und Kolonien. Was waren sie wirklich? Niemand hat es wirklich verstanden, und die Antwort erfordert ernsthafte und gründliche Forschung und Diskussion. Welcher Richtung können moderne “zentralasiatische” Romane zugeordnet werden? Wenn es absolut notwendig ist, sie in eine Definition zu drücken, dann bietet sich meiner Meinung nach einer an: Orientalismus. Natürlich hat Edward Said den Begriff sehr verdorben. Es lohnt sich, ihn wieder in seine ursprüngliche Bedeutung zu bringen: Orientalismus ist eine Geschichte … über den Osten, Erkundung des Ostens, Liebe zum Osten … Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte ich ein akutes Gefühl des Bedauerns darüber, dass Asien Russland unbekannt verließ. Mein Roman “Zahhok” war bis zu einem gewissen Grad ein Versuch, die Tür zu dieser wundervollen Welt zu öffnen.

 

Im Allgemeinen gibt es in der heutigen russischen Literatur viele Schriftsteller, die in den Ländern der ehemaligen UdSSR geboren wurden oder lange dort lebten. Ist es Ihrer Meinung nach möglich, ihre Rolle in Russland mit der Rolle der Pied-Noir, der Franco-Algerier in Frankreich zu vergleichen?

Ich denke, dass alle Europäer, die im Osten leben oder gelebt haben, viel gemeinsam haben. Die meisten von uns haben einen starken Einfluss durch die lokale Landschaft und das Klima, den lokalen Lebensstil, die Gewohnheiten und Bräuche erfahren, während sie im Herzen unserer nationalen Kultur treu geblieben sind. So entstehen die „Franco-Algerians“, die „Turkestanis“, die „russischen Asiaten“. Ich halte es für einen großen Gewinn, dass ich in Tadschikistan aufgewachsen bin und viele Jahre dort gelebt habe. Das gleiche Gefühl empfinden meine Familie und meine Freunde. Wir sind uns einig durch eine besondere Sicht auf die Welt um uns herum, die unter anderem darin besteht, dass eine Person von Kindesbeinen an weiß: Menschen sprechen verschiedene Sprachen, Kultur und Menschen sind unterschiedlich. Und dies gibt die Fähigkeit, eine fremde Kultur und ihre Anerkennung zu verstehen. Es ist merkwürdig, dass wir gleichzeitig alles Russische und Russland selbst mehr schätzen als diejenigen, die die russischen Regionen nie verlassen haben. Wahrscheinlich werden sie aus der Ferne mehr idealisiert. Vielleicht ist dies ein gemeinsames Gefühl für alle Expats. Die Mutter von Rudyard Kipling schrieb einmal: “Was wissen diejenigen, die nur England kennen, über England?” Dies sind jedoch nur persönliche Gefühle. Von einer besonderen Rolle ist keine Rede. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass wir, die russischen “Asiaten”, so wenige sind, dass wir uns in der einheimischen russischen Bevölkerung auflösen wie ein Löffel Salz in einem riesigen Süßwassersee. Wenn wir speziell über Schriftsteller sprechen, dann sind die Situationen in Russland und in Frankreich meiner Meinung nach ungefähr gleich. Von den ehemaligen “Algeriern” wurde nur Albert Camus weltberühmt, jedoch ausschließlich als französischer Schriftsteller und Denker und nicht als ehemaliger “Algerier”. Arbeiten mit rein orientalischen Motiven waren in seiner Arbeit nur vereinzelte Episoden. Der Roman „Der Fremde“ blieb offenbar nur ein Spiegelbild von Camus‘ persönlicher Erfahrung und hatte keinen Einfluss auf die französische Literatur, egal wie vergleichbar er mit dem Einfluss seiner „nicht-algerischen“ Werke war. Ebenso habe ich keinen besonderen Einfluss auf die zeitgenössische russische Literatur jener Werke bemerkt, die am Rande des ehemaligen Reiches stattfinden. Tadschikistan befindet sich an der Peripherie des russischen öffentlichen Bewusstseins, ist jedoch in der russischen Literatur stärker vertreten als andere postsowjetische Länder.

 

In Ihrem Roman wird die Geschichte von mehreren Personen gleichzeitig erzählt – Russen und Tadschiken unterschiedlichen Alters und sozialen Hintergrunds. Wie schwierig war es für Sie, die Besonderheit ihrer Rede und ihres Denkens auf Papier zu reflektieren? Was ist der Unterschied zwischen der Haltung von Russen und Tadschiken?

Ich hatte keine besonderen Schwierigkeiten, die Charaktere zu vermitteln, wenn ich an Tadschiken und Russen dachte. Im Gegenteil, es war eine äußerst interessante und sogar aufregende Aufgabe. Ich habe mir nicht die rationale Aufgabe gestellt, Unterschiede zu vermitteln. In vielerlei Hinsicht war es ein unerklärlicher, spontaner Prozess. Für diesen Teil der Arbeit war das Unbewusste zuständig (eine sehr konventionelle Bezeichnung – nur eine Metapher, um anzuzeigen, wofür ich keinen Namen finde). Die Charaktere sprachen wie von selbst. Es war unmöglich, sie zum Sprechen zu zwingen, wenn sie aus irgendeinem Grund still waren. Ich musste sie aus der Vergessenheit locken und ins Gespräch ziehen. Natürlich übertreibe ich ein bisschen. Das Unbewusste arbeitete unter der ständigen Kontrolle des Bewusstseins. In gewissem Sinne ist das Schreiben eines Romans wie das Verwalten eines klaren Traums. Was die Wahrnehmung der Welt betrifft, so sind die Unterschiede zwischen den Charakteren in verschiedene Richtungen. Eines davon sind Repräsentationssysteme.

Alle Menschen unterscheiden sich in ihrem Hauptkanal der Informationswahrnehmung. Für einige ist die Hauptsache das Sehen, dies sind die sogenannten visuellen Elemente; für den Audialen ist der Klang wichtig. Die Kinästhetik konzentriert sich hauptsächlich auf Empfindungen. Diese Unterschiede spiegeln sich sehr deutlich in der Sprache wider. Sprecher drücken ihre Gedanken oder Gefühle in Bezug auf ihr eigenes System aus. Hier ist ein einfaches Beispiel. Das Bild sagt höchstwahrscheinlich Folgendes: “Ich verstehe, du verstehst mich nicht.” Audial (akustisch) entsprechend: „Hey, kannst du mich hören? Verstehst du was ich gesagt habe? ” Die Kinästhetik wird sagen: “Ich fühle, du willst mich nicht verstehen.” Ich habe versucht sicherzustellen, dass alle Geschichtenerzähler in “Zahhok” entsprechend dieser Wahrnehmungssysteme angeordnet wurden. Zarina ist visuell; Andrey, Kürbis und Dawron sind kinästhetisch; Dschorub ist ein Audial. Und dies spiegelt sich in der Art und Weise wider, wie jeder von ihnen spricht. Außerdem gehört jeder Charakter einem bestimmten psychologischen Typ an. Dies bedeutet, dass für ihn von den gesamten verfügbaren Modalitäten einige äußerst wichtig sind, während andere einfach nicht existieren. Zum Beispiel existieren für eine Person die Begriffe “gut” und “schlecht” möglicherweise nicht, aber sie entsprechen den Begriffen “erlaubt” und “verboten”. Und dies spiegelt sich auch in der Sprache und in den Handlungen der Charaktere wider. Der Unterschied in der Einstellung der Russen und Tadschiken im Roman ist in erster Linie der Unterschied zwischen Stadt- und Landbewohnern. Die Arbeit auf dem Land hinterlässt Spuren im Bewusstsein des Bauern, schafft ein spezielles Koordinatensystem, das den Denkverlauf, die Einschätzung der Situation usw. strukturiert. Darüber hinaus sind die Hochländer (Bergbewohner, Bergbauern) Menschen einer traditionellen Gesellschaft, die nicht nur in Städten, sondern auch in kleinen Dörfern zerstört wurde. Und dies bestimmt auch eine besondere Denkweise. Aber nicht nur Russen, sondern auch zwei Tadschiken im Roman sind gebildete Stadtbewohner: der ehemalige sowjetische Offizier Dawron und der frühere Arzt Eschon Wachab. Für sie wie für die städtische Russin und ihre Kinder sind sowohl das ländliche Leben als auch die ländliche Denkweise fremd.

 

In Ihrem Roman gibt es unter den tadschikischen Figuren mindestens vier verschiedene Arten der Weltwahrnehmung gleichzeitig: ein Fragment der sowjetischen tadschikischen Kultur in Form eines militärischen Dawron, Eschon Wachab als eine Art Fortsetzer der vorrevolutionären (intellektuellen) Tradition gibt es ein kriminelles Element und Menschen mit einem Bauernbewusstsein. Geraten diese Bewusstseinsarten in Konflikt miteinander?

Es hängt alles ab vom spezifischen Charakter. Mit jemandem verstehen sich die Charaktere recht ruhig und existieren ohne Konflikte, schon allein deshalb, weil sie sich auf verschiedenen Bewusstseinsebenen befinden. Jedes Mal, wenn ein Mensch in verschiedenen Erscheinungsformen handelt: Er ist gleichzeitig Vater, Bürger, Ehemann, Mitglied einer Gemeinschaft usw. Wenn er sich in einer Situation befindet, denkt und verhält er sich auf eine Art und Weise, in einer anderen Situation beginnt eine völlig andere Verhaltensweise in ihm zu wirken. Man muss nicht in einem abgelegenen Bergdorf leben, um Widersprüche zu beobachten. Sie passieren in jeder Familie, in jedem Kollektiv, auf den Straßen, in den Oberleitungsbussen, in den Geschäften.

In Tadschikistan wurde eine sehr interessante Verschmelzung kultureller Schichten geschaffen. Einerseits bleibt der Einfluss der UdSSR stark, sollte aber nicht übertrieben werden. Andererseits hat die Sowjetregierung in Zentralasien das – in Russland vollständig zerstörte – traditionelle Bewusstsein bewahrt. Ich nehme an, einfach weil die Dorfbewohner der Baumwollrepublik nichts anderes brauchten. Dies führte zu einem erheblichen Kontrast zwischen den Bauern und der städtischen Bevölkerung. Die besten Vertreter der tadschikischen Intelligenz sind der europäischen Intelligenz in keiner Weise unterlegen.

 

Wie haben sich Tadschikistan und die Tadschiken nach dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Bürgerkrieg verändert?

Ich war schon sehr lange, fast zehn Jahre, nicht mehr in Tadschikistan und kann daher kaum kompetent antworten. Ich kann nur Annahmen treffen und hoffe, dass sie nicht sehr weit von der Wahrheit entfernt sind. Soweit ich weiß, unternimmt die derzeitige tadschikische Regierung alles, um die sowjetische Vergangenheit vollständig zu vergessen. Gleichzeitig besteht eine Abhängigkeit von einer sehr langen Vergangenheit – die Antike der tadschikischen Kultur und der Ursprung des modernen Tadschikistan direkt aus dem samanidischen Staat werden hervorgehoben. Heute ist die russische Gemeinde in Tadschikistan extrem klein. In anderen Staaten des postsowjetischen Raums nimmt sie ebenfalls stetig ab.

 

Werden die russischen Gemeinden in diesen Ländern Ihrer Meinung nach in historischer Perspektive überleben?

Es wird wahrscheinlich einige kleine russische “Inseln” in Tadschikistan geben, aber es ist unwahrscheinlich, dass wir über eine Gemeinschaft sprechen können. Es handelt sich vielmehr um einige verstreute Gruppen, die, wenn sie miteinander verwandt sind, freundschaftliche oder familiäre Bindungen haben. Tadschikistan ist ein armes Land und es ist schwierig, dort zu leben. Ich kenne jedoch Leute, die absichtlich nicht gehen wollen und die, egal was passiert, dort besser aufgehoben sind als irgendwo anders. Und es gibt Menschen, die nach ihrem Leben in Russland nach Tadschikistan zurückkehren. Aber sie sind sehr, sehr wenige. Trotzdem ist der aktivste Teil der russischen Bevölkerung übriggeblieben. Wie in anderen Ländern des postsowjetischen Raums hängt hier alles vom jeweiligen Staat ab. Wenn wir über einen Anschein der russischen Gemeinschaft sprechen, dann ist er meiner Meinung nach am besten in Taschkent erhalten.

 

Wie ist die Situation mit den Kenntnissen der russischen Sprache und Kultur in Tadschikistan heute? Was kann getan werden, um diese Situation zu verbessern?

Ich kann nur sagen, dass die Situation bei der Aufrechterhaltung der russischen Sprache und Kultur in der Republik von den Bemühungen beider Seiten abhängt. Es ist wichtig, dass Russland die russische Sprache und Kultur in den umliegenden Ländern fördert, so wie es die westlichen Staaten mit großem Erfolg tun. Die lokalen Behörden müssen sich wiederum bemühen, ihren Bürgern die Arbeit im Ausland zu erleichtern und sie auf die kulturellen und ethischen Prüfungen vorzubereiten, die sie in Russland erwarten. Meiner Meinung nach gibt es in diesen Bereichen keine besonderen Anstrengungen – weder in Russland noch in Tadschikistan.

(23.07.2018)

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

Post Navigation